12.06.2009

Bloß nicht zu Hause rumhängen

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Bloß nicht zu Hause rumhängen

Die Spielzeugindustrie im südchinesischen Chenghai braucht immer noch Wanderarbeiter Tristan de Bourbon

An diesem Aprilmorgen ist viel los auf Chenghais Straßen. Tuk-Tuks schlängeln sich gegen die Fahrtrichtung durch den Verkehr, Motorräder überlisten mit ihren Paketpyramiden das Gesetz der Schwerkraft, die offenen Ladeflächen der Kleintransporter quellen über von Spielzeug, das nur manchmal mit Netzen gesichert ist, Lkws voller Kisten sind zum benachbarten Hafen oder ins Landesinnere unterwegs.

In Chenghai, einem Stadtbezirk von Shantou im äußersten Osten der Provinz Guangdong, brummt das Leben seit Sonnenaufgang. Mit Ausnahme der Mittagspause zwischen halb zwölf und halb zwei geht diese Betriebsamkeit bis Sonnenuntergang unvermindert weiter.

Mittags erscheinen die Arbeiter zu Tausenden in der Stadt. Sie bummeln, meist zu zweit oder zu dritt, durch die Einkaufszentren, essen, auf Kisten oder Bänken sitzend, spielen Karten oder Würfel im Schatten der Bäume oder schlafen. Sobald die Arbeit in den Fabriken weitergeht, sind sie wie vom Erdboden verschluckt. Kein einziger Arbeitssuchender ist zu sehen mit einem dieser aufgestellten Pappschilder, auf dem das Fachgebiet steht, wie es im ganzen Land der Brauch ist. Manchmal hängen die Schilder auch um den Hals oder am Fahrradlenker.

Chenghai ist führend in Herstellung und Vertrieb von Spielwaren, und dies ist nach Aussagen von Regierungsexperten der am stärksten von der internationalen Wirtschaftskrise betroffene chinesische Industriezweig. Offiziellen Angaben zufolge produzieren hier 3 000 Fabriken Spielzeug, tatsächlich sind es wohl drei- bis viermal so viele.

An der Biegung einer kleinen Straße erscheint eine junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Ihre Kleidung – ausgewaschene Jeans, billige Jacke, Baumwoll-T-Shirt, Turnschuhe aus heimischer Produktion – lassen keinen Zweifel an ihrer Herkunft und ihrem Beruf: Mei Lan ist Wanderarbeiterin aus einem Dorf in der Provinz Guangxi. „Im Moment arbeite ich nicht, weil ich mich um meine Tochter kümmern muss, sie ist ein halbes Jahr alt“, erzählt sie. „Mein Mann ist natürlich in der Fabrik. Ich werde kein Problem haben, eine neue Stelle zu finden. Die Fabriken in der Gegend suchen so dringend Arbeiter, dass sie es inzwischen sogar dulden, wenn die Mütter ihre kleinen Kinder mit zur Arbeit bringen. Im Augenblick möchte ich sie aber lieber selber versorgen.“

Tatsächlich hängen an den meisten Fabrikfassaden von Chenghai Papptafeln, manchmal sogar große rote Transparente: „Suchen Arbeiter, Männer und Frauen, alle Fachrichtungen“ oder: „Männer und Frauen zum sofortigen Arbeitsantritt gesucht“.

Die Funktionäre in den Büros der Bezirksverwaltung von Chenghai, einem riesigen, finsteren Gebäude, wundert das nicht. „Diese Aushänge sind nicht neu, manche sind da schon seit Jahren“, versichert einer von ihnen, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Außer in Dongguan (siehe Artikel rechts) ist die Spielwarenindustrie in der Provinz Guangdong nicht so schwer von der Krise betroffen, wie es die offizielle und die ausländische Presse manchmal berichten. Manche Fabriken arbeiten seit ein paar Monaten sogar so unter Hochdruck, dass die Arbeiter noch nicht mal über Neujahr zu ihren Familien fahren konnten. Durch unsere Zollbehörde wissen wir, dass die Exporte im Januar und Februar 2009 gegenüber dem Vorjahr sogar um 18 Prozent gestiegen sind. Seit Beginn der Krise hat in Chenghai keine einzige Spielzeugfabrik dichtgemacht.“ Diese Angaben werden von sämtlichen Fabrikdirektoren und Wanderarbeitern bestätigt, die wir gesprochen haben.

Herr Wang lügt nicht

Die Fabrikbesitzer sind allerdings skeptischer als der Beamte mit seinem optimistischen Lagebericht. „Chenghai ist von der internationalen Krise schwer betroffen, und wer das Gegenteil sagt, der lügt“, versichert Herr Wang, Boss einer kleinen Fabrik, die in einem ehemaligen Flugzeughangar zwischen Gipswänden eingerichtet wurde. Wie alle anderen Arbeitgeber möchte auch er nicht seinen vollen Namen nennen. „Man muss wissen, dass 80 Prozent der in dieser Stadt hergestellten Spielwaren noch in diesem Jahr für den Export bestimmt waren. Der Großteil der Fabriken hat Auslandsaufträge verloren und musste die Produktion stark einschränken. Zum Ausgleich versuchen sie, sich wieder auf den chinesischen Markt zu konzentrieren. Trotzdem funktioniert die Spielwarenindustrie noch relativ gut. Der Beweis: Ich habe meine Fabrik erst vor einem Monat aufgebaut, und das hätte ich ohne neue Aufträge bestimmt nicht getan.“

Der Gründer und Inhaber der Fabrik und Import-Export-Gesellschaft You Yi Toys sagt: „Im Jahr 2008 habe ich von manchen meiner Spielzeuge bis zu 20 Millionen Stück verkauft. Um den Auftragsstau abzuarbeiten, musste ich unglaublich viele Arbeiter einstellen, auch wenn ich Ihnen nicht sagen kann, wie viele. Seit Ende des vergangenen Jahres ist die Lage sehr, sehr schwierig. Jetzt beschäftige ich nur noch 300 Leute.“ Hinter ihm machen sich Maler mit Farbrollern an den Wänden seiner ersten Fabrik zu schaffen. Er hat die Flaute genutzt, um die alte Fabrik zu renovieren, und hat alle Arbeiter in seine neue Fabrik geschickt, die er mit den Erträgen der letzten Jahre zwei Kilometer weiter gebaut hat.

Trotz des Auftragsrückgangs ist der Lohn der Fabrikarbeiter nicht gesunken. „Er liegt zwischen 14 und 15 Yuan (1,55 und 1,66 Euro) für eine vierstündige Schicht, dazu kommen manchmal noch Prämien für die produktivsten Arbeiter“, sagt die Leiterin von Meihua, einer Arbeitsvermittlungsagentur. „Die Fabrikdirektoren stellen oft gratis eine Unterkunft zur Verfügung und richten eine Kantine ein, das Essen kostet die Arbeiter zwischen 100 und 120 Yuan (11,10 und 13,30 Euro) im Monat. Diese Tarife und Kosten haben sich seit einem Jahr nicht groß verändert – höchstens um ein bis zwei Yuan. Das heißt aber nicht, dass die Krise keine Auswirkungen auf das Einkommen der Arbeiter hat. Die Fabriken mit Auftragsrückgang lassen nur noch zwei statt drei Schichten am Tag arbeiten. Das Einkommen ist also entsprechend kleiner.“

In allen Fabriken wird an sieben Tagen in der Woche gearbeitet; das aktuelle Gehalt der von der Krise betroffenen Arbeiter beträgt also im Durchschnitt 900 Yuan (100 Euro) im Monat, während es vor ein paar Monaten noch 1 350 Yuan (150 Euro) waren. Die Prämien für die produktivsten Arbeiter bleiben niedrig.

So hat es auch Xu Hong erlebt. Er stammt aus einem Dorf in der Provinz Henan und ist vor fünf Monaten nach Chenghai gekommen. Bisher hat er zwischen 1 300 und 1 400 Yuan im Monat verdient. „Der Chef hat uns gerade erklärt, dass er uns wegen des starken Auftragsrückgangs darum bittet, vier oder fünf Tage Urlaub zu nehmen, natürlich unbezahlt. Ich werde mich also in den nächsten Tagen ausruhen und ein bisschen durch die Stadt spazieren. Ich glaube aber nicht, dass ich woanders Arbeit suchen muss, ich bin sicher, dass ich bald wieder anfangen kann. Außerdem sind die Arbeitsbedingungen wirklich korrekt: Ich kann jeden Monat zwischen 700 und 800 Yuan an meine Familie im Dorf schicken.“ Sein Arbeitgeber stellt Kost und Logis – acht Arbeiter teilen sich ein Zimmer von neun Quadratmetern.

Nicht alle Unterkünfte sind so klein. „Um Arbeiter anzulocken und zu halten, müssen wir ihnen bessere Lebensbedingungen bieten als andere“, sagt John X. von Haipengda Plastic Toys in gutem Englisch. Wie die Übrigen möchte er anonym bleiben. „Wir haben also ein neues Heim gebaut, wo sie zu zweit oder zu dritt in einem Zimmer wohnen.“ Hinter ihm sind etwa 50 Arbeiter an fünfzehn Maschinenreihen beschäftigt. Die ersten schütten die Plastikkomponenten aus großen Jutesäcken in die Trichter über ihren Maschinen. Dann wird das Plastik geschmolzen, und nach einigen Sekunden und allerlei mechanischem Quietschen quellen grüne, gelbe oder rote Plastikpistolen aus einem Rohr. Die Arbeiter tragen weder Helm noch Schutzmasken oder -kleidung für die Arbeit mit den Chemikalien – auch ihre Kollegen nicht, die auf winzigen Hockern sitzend die Qualität kontrollieren. „Um neue Arbeiter zu finden“, erklärt John, „sagen wir denen, die hier arbeiten, sie sollen Bekannte fragen, oder wir machen einen Aushang an die Tür. Wenn das nicht klappt, gehen wir zur Arbeitsvermittlung in der Innenstadt.“

Die Stadtverwaltung hat in der Tat vor ein paar Jahren eine Art Jobbörse eingerichtet. Einer der sieben Angestellten zeigt uns die Formulare, die Arbeitssuchende ausfüllen müssen, um in Listen eingetragen zu werden, die dann an die Fabriken gehen. Sie müssen Namen, Telefonnummer, Berufserfahrung, gesuchte Stellung und gewünschtes Gehalt angeben. „Es hat nur sehr wenige Entlassungen gegeben: Die Fabriken wollen ihre Belegschaft behalten, falls unerwartete Aufträge hereinkommen. Der Lohn für Büroarbeit ist in den letzten Monaten nicht gestiegen, sondern ein bisschen gesunken, aber das gilt nicht für die Spielzeugfabriken. Da will keiner gern arbeiten, die Arbeit ist unangenehm und der Lohn niedrig, weil keine besonderen technischen Kenntnisse oder körperlichen Fähigkeiten nötig sind. Schauen Sie: In den ersten drei Monaten dieses Jahres hat es 253 Jobangebote gegeben und keinen einzigen Bewerber!“

Bei unseren Besuchen in den Fabriken finden wir an den Werkbänken, wo das Spielzeug zusammengebaut oder überprüft wird, nur Frauen oder ganz junge Männer. Die älteren Männer arbeiten auf dem Bau oder in bestimmten Funktionen in der Textilindustrie. Dort können sie fast 3 000 Yuan (333 Euro) verdienen.

Samstags kommen Firmen in die Jobbörse und zahlen 100 Yuan Miete für einen der 22 Stände, an denen sie Arbeiter direkt anwerben können. An diesem Samstag im April sind es ausschließlich Firmen der Spielzeugindustrie. Am Stand Nr. 12, Yuike Electronics Limited, hängt ein Schild: „Gesucht: Arbeiter beiderlei Geschlechts, gesund, verantwortungsbewusst, Alter von 18 bis 40, Gehalt zwischen 700 und 2 500 Yuan. Wir bieten Kost und Logis, auch Zimmer für Ehepaare. Unsere Firma verfügt über Internetcafé, Bibliothek und Sporthalle: Wir möchten, dass unsere Arbeiter auch Zeit für Hobbys haben. Telefon: 85 51 88 88.“

Außerhalb der Samstagsbörse kommen nur wenige Wanderarbeiter hier vorbei: „Hierher kommen vor allem die Einwohner von Chenghai oder anderer Stadtteile von Shantou. Die Wanderarbeiter gehen direkt zu den Fabriken, die Stellen anbieten, oder fragen bei ihren Freunden herum.“

Keiner hört hier auf Peking

Feng Xu ist auch auf diese Weise nach Chenghai gekommen. Zwei Leute aus seinem Dorf in Guangxi, die in Changhai arbeiten, waren über Neujahr zu Besuch gekommen. Sie rieten ihm, sich in ihrer Spielzeugfabrik zu bewerben, die Arbeitsbedingungen seien dort gut. „Ich bin gestern hier angekommen. Bis jetzt war ich Bauer, aber meine Familie braucht Geld. Ich will 1 300 Yuan (145 Euro) im Monat verdienen. Ich habe noch genug, um drei bis fünf Tage ohne Arbeit hier zu leben, und das möchte ich ausnutzen, um mich auszuruhen und die Stadt anzusehen.“ Für diese Zeit wohnt er mit seinen Freunden in einem kleinen Zimmer.

Der 22-Jährige sagt, dass die meisten jungen Männer und Frauen aus seinem Heimatdorf ihr Land und ihre Familien verlassen haben, um in einer Fabrik oder auf dem Bau zu arbeiten. Musste bislang schon jemand ins Dorf zurückkehren? „Ja, ich habe schon gehört, dass Wanderarbeiter zu Neujahr nach Hause gekommen und nicht wieder in die Stadt zurückgegangen sind, weil es in den Fabriken keine Arbeit gibt. In keinem Dorf in meiner Gegend ist das aber so. Keiner wäre so dumm, zu Hause herumzusitzen und zu warten.“ Genauso haben wir es von allen Arbeitern gehört, denen wir begegnet sind.

„Viele Wanderarbeiter sind dieses Jahr früher zu ihren Familien gefahren, weil sie wegen der vielen Arbeit in den Fabriken schon zwei oder drei Jahre nicht mehr da waren“, erzählt Cui Jian, ein 24-Jähriger aus Hunan. „Manche sind auch erst ein paar Tage nach dem offiziellen Ende der Neujahrsferien zurückgekommen, weil sie wussten, dass es in diesem Jahr weniger zu tun gibt. Das war’s aber auch schon, kein Wanderarbeiter hängt zu Hause herum, da kann er ja nichts tun, während er fast überall woanders einen Job finden kann.“ Und er erklärt ganz förmlich: „Ich spreche für Chenghai und für die übrige Provinz Guangdong, sowie für Ost- und Nordchina. Ich habe im ganzen Land Freunde, die auch Wanderarbeiter sind, und wir halten einander regelmäßig auf dem Laufenden, wie es mit unserer Arbeitssituation aussieht und wie die allgemeine Stimmung ist.“

Für die meisten Wanderarbeiter aus den Spielzeugfabriken ist jetzt nicht nur die beträchtliche Verringerung ihres Einkommens ein wichtiges Thema, sondern auch die allgemeine Missachtung des Arbeitsvertragsgesetzes. Es trat im August 2008 in Kraft und sollte den Arbeitern ermöglichen, über ihre Firma in eine Gesundheits- und Sozialversicherung sowie Arbeitslosen- und Rentenversicherung zu kommen. „In Chenghai hält sich keine Firma an das Gesetz“, sagt Cao Yuanfang, eine 25-jährige Wanderarbeiterin aus Hunan. „Die Zentralregierung in Peking kann ihre Politik hier nicht durchsetzen. Den Bossen hier ist die völlig egal, es kommt ja keiner, der überprüft, was sie machen. Wenn ich krank werde, muss ich alles aus eigener Tasche zahlen.“

Herr Xie, Inhaber einer kleinen Arbeitsvermittlungsagentur, fügt noch hinzu: „Es stimmt, die Firmen haben hier keine Angst; sie bekommen alle Rückendeckung von der Bezirks- und Provinzregierung und halten sich nicht an das Gesetz. Nur eine hält sich dran: Audley, die größte Spielwarenfirma in der Stadt. Warum? Weil sie Spielzeug für renommierte ausländische Marken wie Disney und Bandai herstellt. Diese Kunden überwachen die sozialen Bedingungen in den Fabriken sehr genau.“

Der Besitzer einer kleinen Fabrik räumt, ebenfalls anonym, ein, dass er das Gesetz nicht beachte und für seine Leute keine Sozialbeiträge zahle. Er steht auf, öffnet die Tür zum Montageraum und zeigt auf die Arbeiter. „Ich kann ihnen nicht solche Löhne und Vorzüge bieten wie Audley mit seinen mehr als 3 000 Angestellten. Mit meinen zwölf Beschäftigten bin ich doch bloß ein Zwerg. Meine Gewinnmargen liegen nur bei 10 Prozent, aber unsere ausländischen Kunden machen mindestens 25 Prozent Profit. Und dann wissen sie natürlich, dass wir im Augenblick alle auf Kundensuche sind, also verhandeln sie ihre Preise noch härter.“ Und fährt fort: „Und vergessen Sie nicht, wenn die Arbeitskosten in Fabriken wie meiner höher lägen, dann würden auch die Verkaufspreise an die westlichen Importeure steigen. Plötzlich würde das Spielzeug bei Ihnen viel teurer. Und können bei Ihnen etwa alle Eltern Markenspielsachen kaufen?“ Mit einem kleinen Lächeln um die Mundwinkel kehrt er zu seinem Schreibtisch zurück und setzt Wasser für seinen grünen Tee auf.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski Tristan de Bourbon ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.06.2009, von Tristan de Bourbon