11.02.2005

Die plötzliche Macht der Kritik

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Die plötzliche Macht der Kritik

Die Medien in den Nachfolgestaaten der UdSSR spielten für die Entwicklung der Demokratie keine große Rolle. Doch der Machtwechsel in Georgien und der Ukraine hat den Journalisten zu neuer Geltung verholfen. Wie lange, hängt von ihnen ab.

Von VICKEN CHETERIAN *

ALS mir Marina Wekua, Professorin für Journalistik an der Staatsuniversität Tiflis, erzählte, dass ihr Fachbereich zum beliebtesten an der ganzen Universität geworden ist, war ich überrascht. „Dieses Jahr haben sich bei uns mehr junge Leute beworben als bei den Juristen“, erklärte sie voll Stolz im brodelnden Sommer 2003, der zur georgischen „Rosenrevolution“ führte. Nachdem die jungen Menschen in Georgien und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion sich zehn Jahre lang vor allem auf die Fächer Englisch, Informatik, Volkswirtschaft und Jura gestürzt hatten, war in Georgien jetzt eine ganz neue Entwicklung zu erkennen. Wandel lag in der Luft – und Journalistik war wieder in.

Eine neue Generation drängte voran und kämpfte gegen die alte Ordnung. Es entstanden neue soziale Bewegungen, geführt von Studenten, die mit dem Ruf „Kmara!“ – „Es reicht!“ – auf die Straße gingen. Nichtregierungsorganisationen und allerlei neue Gruppen bereiteten sich darauf vor, gegen mögliche Wahlfälschungen zu kämpfen, während in der Vergangenheit so getan wurde, als hätte es sie nicht gegeben. Neue politische Parteien und Gruppierungen wirkten als Gegengewicht gegen das Regime. Und was wahrscheinlich am wichtigsten war: Jetzt gab es Massenmedien, die auf all diese Diskussionen reagieren und sie einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln konnten.

Wer die Rolle der Medien in Georgien nicht begreift, wird von der Rosenrevolution kaum etwas verstehen. Die unmittelbarste Wirkung erzielten sie am Tag der Parlamentswahlen am 2. November 2003, als der oppositionelle Fernsehsender Rustawi-2 die von NGOs organisierten Nachwahlumfragen verbreitete und zeigte, wie die Menschen gewählt hatten. Dem wurden dann die offiziellen Resultate gegenübergestellt. Rustawi-2 trug so erheblich zur Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Schewardnadse-Herrschaft bei.

Aber noch wichtiger waren wohl die Ereignisse vom Oktober 2001. Damals hatte die Schewardnadse-treue Polizei unter dem Vorwand einer Steuerprüfung versucht, den Sender zu stürmen. Immer mehr Menschen gingen daraufhin in Tiflis auf die Straße und demonstrierten der georgischen Obrigkeit, dass sie weder die Medien zum Schweigen bringen noch die Dissidentenbewegung zerschlagen konnte.

Zwischen der georgischen Rosenrevolution und der ukrainischen Revolution in Orange gibt es einige Parallelen. Eine betrifft die Vielfalt der Medienlandschaft in beiden Ländern. In der Ukraine stand immerhin einer der fünf landesweiten Fernsehkanäle der Opposition nahe, nämlich Kanal 5. Die übrigen vier Sender waren von der Regierung kontrolliert und von den so genannten Oligarchen dominiert. So standen zum Beispiel UT 1 und 1+1 unter der direkten Aufsicht von Wiktor Medwedschuk, dem Chefstrategen der Kutschma-Regierung, während Kutschmas Schwiegersohn, der Oligarch Wiktor Pintschuk, die beiden Sender ICTV und Novi Kanal kontrollierte. Auch auf regionaler Ebene entwickelte sich eine gewisse Medienvielfalt, besonders in den Printmedien, die sich nicht länger von Kiew gängeln lassen wollten.

Die Aufbruchstimmung in den Massenmedien Georgiens und der Ukraine erinnert an den Aktivismus, den die letzte Generation der sowjetischen Journalisten entwickelt hatte. Mit der von Gorbatschow propagierten „Glasnost“, Transparenz, war ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben erlaubt, Tabus zu brechen. Das reichte von Berichten über die von der sowjetischen Industrie verursachten Umweltschäden bis zur Enthüllung der dunkelsten Seiten der stalinistischen Verbrechen.

Für diese Journalisten vollzog sich damals ein qualitativer Wandel, denn der „sowjetische Journalismus“ hatte völlig anders ausgesehen: Für das Regime im Kreml waren die Massenmedien ein Instrument, um die Öffentlichkeit über die weisen Entscheidungen der politischen Vorhut, der KPdSU, aufzuklären und um die Menschen auf Parteilinie zu bringen. Der sowjetische Journalismus sollte sich nicht die real existierende Welt vornehmen und über sie informieren, sondern zum Aufbau einer idealen Welt beitragen.

Da aber die ursprüngliche Begeisterung und der Glaube an das Ideal längst verflogen waren, existierte er nur noch als publizistisches Monopol. Alternative Informationsquellen oder Inspirationen, ob durch die dissidentischen Publikationen des Samisdat, ob durch Informationen aus dem Ausland, waren nicht geduldet. Die im Westen für sowjetische Hörer produzierten Rundfunksendungen wurden gestört.

Und doch war das Wetter nicht das Einzige, was die sowjetischen Medien relativ zuverlässig vorhersagten. Es kam nämlich gar nicht so selten vor, dass ein Apparatschik kritische Bemerkungen über einen anderen Parteibonzen publizieren ließ, wenn dessen Ausscheiden aus der herrschenden Klasse unmittelbar bevorstand. Das gilt etwa für den Sturz von Chruschtschow oder auch für den aserbaidschanischen Parteichef Alijew, nachdem dieser bei Gorbatschow in Ungnade gefallen war. Von Armenien bis Kirgisien erinnern sich viele Bürger noch heute an diese Zeit zurück, als von den Massenmedien eine schier überirdische Macht ausging, weil diese als Sprachrohr fungierten. Und sie sind frustriert über ihre heutigen nationalen Medien, denn obwohl so mancher Bonze von heute vielleicht sehr viel schärfer kritisiert wird, folgt daraus nichts.

Ihr goldenes Zeitalter erlebten die Medien in der UdSSR zu Beginn der 1990er-Jahre. In dieser Phase der „beschleunigten Geschichte“ genossen Journalisten große Autorität, und die Zeitungsauflagen schnellten in die Höhe. Im Umkreis der Massenmedien entstanden neue Nachrichtenagenturen, „Analysezentren“ und dissidente Gruppen, und manch einer, der vorher vielleicht als Melker, Physiker oder Erdölingenieur Samisdat-Texte verfasst hatte, wurde jetzt hauptberuflicher Journalist.

In den einzelnen Republiken kamen neue Zeitungen in der Landessprachen heraus, die zur Verteidigung des nationalen Erbes und der Nationalkultur aufforderten und so den sowjetischen Klischees über diese Republiken und ihre Kulturen entgegentraten. Als Journalist kämpfte man damals an vorderster Front für Demokratisierung und politischen Wandel.

Das alles war mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Ende. Zum einen änderte sich der politische Kontext. In der Spätphase der Perestroika wurden die politischen Entwicklungen weitgehend durch die Mobilisierung auf den Straßen bestimmt. Mit dem Untergang der UdSSR und der Unabhängigkeit der 15 Republiken stand auf einmal das Thema Nation und die Aufgabe des „Nation Building“ auf der Tagesordnung, in einigen Fällen unter kriegs- und bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen. Hinzu kam dann der wirtschaftliche Zusammenbruch, der die Kaufkraft der Bevölkerung dramatisch einschränkte. Damit blieb von der Pluralität der spätsowjetischen Medienlandschaft nicht mehr viel übrig. Den Rest besorgte der Druck der Macht und des Geldes.

In einigen Ländern setzte eine massive Repression gegen Journalisten ein. Am schlimmsten war es in Tadschikistan, wo im Lauf des Bürgerkriegs von 1992 bis 1997 über siebzig Journalisten ermordet wurden. Auch in anderen Republiken wurden Journalisten durch staatliche Repressionen bedroht oder von den neuen Wirtschaftsoligarchen eingeschüchtert. Aserbaidschan führte die gute alte Zensur wieder ein. Fatal waren schließlich der Einbruch der Zeitungsauflagen und der Siegeszug des Privatfernsehens – das nur Unterhaltung produzierte und sich das größte Stück vom Werbekuchen einverleibte.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Entstehung der neuen unabhängigen Republiken konnten die meisten Chefredakteure und Journalisten sich nicht auf die neuen Verhältnisse einstellen. Außerhalb Moskaus verfügten nur wenige Leute über journalistische Erfahrung oder kannten die internationalen publizistischen Standards. Und die meisten neuen Medienarbeiter in den Hauptstädten der Republiken wie in den Provinzen waren keine professionellen Journalisten, sondern ausgebildete Ärzte, Mathematiker oder Geisteswissenschaftler. Ihr politisches Engagement hatte sie in den Journalismus wechseln lassen.

Zunächst stimmten diese neuen Journalisten in ihrem antisowjetischen Kampf für die demokratische oder nationale Sache noch mit den mobilisierten Massen überein. Doch innerhalb weniger Jahre änderte sich das Bild. Jetzt dachten viele nostalgisch an die UdSSR zurück, nationalistische Bewegungen führten zu bewaffneten Konflikten, und die Demokraten von gestern verwandelten sich in Oligarchen. Viele Chefredakteure und Journalisten wussten nicht, wie sie sich positionieren sollten, und verloren den Kontakt zur öffentlichen Meinung.

Die ersten privaten Zeitungsunternehmen repräsentierten oder unterstützten zuweilen ebenfalls bestimmte politische Parteien oder Interessen. Nach 1995 investierten die ersten Oligarchen wie Berezowski und Gusinski in die Medienbranche, wurden aber vom Jelzin-nahen Kapital bald abgedrängt. Neuerdings versuchen die Putin-Freunde, auch hier wieder das Kommando zu übernehmen. Die Reste der privaten, eher kleineren Medienunternehmen überleben – wie die Reste des alten sowjetischen Journalismus – in der Provinz in Form von Lokalzeitungen und lokalen Fernsehsendern.

Blickt man auf die 1990er-Jahre zurück, so haben die postsowjetischen Medien den enormen gesellschaftlichen Transformationsprozess, den man mit dem Begriff „Privatisierung“ zusammenfassen kann, weder zur Kenntnis genommen noch verstanden, also auch nicht angemessen darüber berichtet. Die Privatisierung hatte eine umfassende und rasche Monetarisierung der Medien zur Folge, von der auch das Denken der Journalisten und die Inhalte der Berichterstattung nicht unberührt blieben. Auch für Journalisten wurde jetzt das Geld, das sie nach Hause trugen, zum wichtigsten Erfolgskriterium.

Wo Exfunktionäre die öffentlichen Banken privatisierten und Taxifahrer ihren alten Wolga, hatte ein Reporter nichts weiter zu privatisieren als eine Ecke in seiner Zeitung. Also marschierten viele Journalisten zu Regierungsvertretern oder Geschäftsleuten und boten ihnen an, für bares Geld wohlwollende Artikel über sie zu schreiben. Wer sich weigerte zu zahlen, dem drohten sie mit einem kritischen Bericht. Alles, auch kritischer Journalismus, war für bares Geld zu haben.

Als die Wirtschaft in den meisten postsowjetischen Staaten Mitte der 1990er-Jahre allmählich wieder auf die Beine kam, lagen die Medien bereits danieder. Sie hatten Tatsachen und Lügen vermischt, nicht zwischen Meinung und Analyse unterschieden und „schwarze PR-Arbeit“ betrieben, statt sich den Themen zu widmen, die den Lesern am Herzen lagen. Immer wieder verwechselten junge, unerfahrene Journalisten die „freie Meinungsäußerung“ mit dem Motto „Ich habe die Freiheit, zu schreiben, was ich will“.

Doch die Öffentlichkeit konnte natürlich zwischen wahr und falsch unterscheiden und verlor bald das Interesse an den Massenmedien. Die Zeitungsauflagen fielen auf das Niveau von Vereinsblättchen. In Armenien mit seinen drei Millionen Einwohnern zum Beispiel erscheint die größte Tageszeitung Arawod mit täglich 5 000 Exemplaren. Und die kommen über das Zentrum der Hauptstadt nicht hinaus und zirkulieren im Grunde nur innerhalb einer politischen Minderheit.

Die Fernsehprogramme sprachen zwar ein größeres Publikum an, aber das Vertrauen in die Berichterstattung ist ähnlich gering. Das beste Beispiel dafür ist die Wirkung der Fernsehnachrichten während des Wahlkampfs Ende 2004 in der Ukraine: Obwohl die meisten nationalen – und russischen – Fernsehsender entschieden Propaganda für den Noch-Ministerpräsidenten Janukowitsch machten, reichte das nicht, um ihm den Sieg zu sichern.

In einigen Fällen verhielten sich Journalisten sehr mutig und solidarisch. In Aserbaidschan etwa hielten die Journalisten zusammen und versuchten gemeinsam, die Zensur auszutricksen. Wenn ein Chefredakteur einen kritischen Artikel bringen wollte, schickte er dem Zensor einen weiteren Artikel, der die Regierung noch viel schärfer kritisierte. Häufig verbot dann der Zensor den zweiten Artikel – und der ursprüngliche Text konnte erscheinen. Ein anderes Mal ließen mehrere Zeitungen in Baku auf ihren Seiten einfach große Flächen weiß. Damit wussten die Leser, dass hier die Glawlit, die staatliche Zensurbehörde, eingegriffen hatte. Solche listigen Widerstandsaktionen, verbunden mit internationalem Druck, brachten Präsident Gaidar Alijew 1998 schließlich dazu, die Vorzensur einzustellen.

Doch von Russland bis Kasachstan ist es den Behörden inzwischen gelungen, die Medien unter ihre Kontrolle zu bringen. Das staatliche Fernsehen ist zum Sprachrohr der Regierungen geworden, während ehemals unabhängige Fernsehsender und Zeitungen mit viel Geld – oder auch mittels Gerichtsentscheid – von Unternehmen oder Oligarchen aufgekauft werden, die treu zum jeweiligen Präsidenten stehen. Am Ende stehen die Verarmung der Medienlandschaft und eine zunehmende Verdrossenheit der Menschen über die Medien wie über die Politik insgesamt.

Die ehemaligen sowjetischen Eliten versuchen, die Massenmedien wieder unter staatliche Kontrolle zu bekommen – und dies in einer Zeit, da immer mehr ihrer Bürger reisen können, Internetzugang haben und Satellitensender empfangen. Die Kontrolle über die Medien hat dazu geführt, dass keine landesweiten Zeitungen entstehen konnten. In anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks hingegen haben neue überregionale Tageszeitungen in der ersten Zeit nach der Unabhängigkeit häufig eine wichtige Rolle gespielt.

Die Revolutionen in Georgien und der Ukraine geben also gerade wegen der Rolle der Medien Anlass zu neuen Hoffnungen. Doch wir wissen von den Revolutionen zu Beginn der 1990er-Jahre – um nicht noch weiter in der Geschichte zurückzugehen –, dass der revolutionäre Aufbruch eine Sache, die politische Praxis der Revolutionäre nach der Übernahme der Macht jedoch eine andere Sache ist. Die Völker der ehemaligen Sowjetunion haben die Desillusionierung über ihre Revolutionen bereits hinter sich, egal ob diese unter der Fahne der nationalen Befreiung oder der Demokratisierung stattgefunden haben. Nachdem in Russland und in den Kaukasusländern neue Eliten an die Macht gekommen waren, vernachlässigten sie ihre demokratischen Ziele immer mehr und vertraten immer weniger die Interessen des ganzen Landes.

Ob es in Georgien und in der Ukraine anders laufen wird, dürfte gar nicht so sehr von den neuen „revolutionären“ Führungskräften abhängen. In Georgien behindern die Behörden bereits Journalisten und Fernsehstationen, die loyal zu den Resten des alten Regimes stehen oder der neuen Staatsführung gegenüber kritisch eingestellt sind. Der TV-Sender Rustawi-2 ist heute weniger kritisch und unabhängig, als er unter Schewardnadse war. Einige politische Talkshows, früher wichtige Foren, sind wieder eingestellt. Und einige in der Schewardnadse-Ära stets gern gesehene unabhängige Köpfe kommen heute bei Rustawi-2 nicht mehr zu Wort. Die Demokratien in Georgien und der Ukraine werden also zu einem gewissen Grad von der Fähigkeit der Medien abhängen, die Wahrheit auch dann zu berichten, wenn die neuen Regierungen sie nicht als politisch „korrekt“ empfinden. Marina Wekuas Studenten in Tiflis brauchen auch Unbestechlichkeit, um gute Journalisten zu werden.

deutsch von Niels Kadritzke

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Journalist und Projektleiter von Cimera, einer NGO in Genf, die in der Kaukasusregion, in Zentralasien und auf dem Balkan für die Weiterbildung von Journalisten tätig ist.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von VICKEN CHETERIAN