11.02.2005

Künstlerin dieser Ausgabe: Chiharu Shiota

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Künstlerin dieser Ausgabe: Chiharu Shiota

DAS Atelier von Chiharu Shiota ist ein Speicher, auf dem die Bewohner des Hauses im Berliner Osten über Jahrzehnte ausrangierte Gegenstände gelagert haben: hier ein Vogelbauer, dort ein Eisenbettgestell, an der Wand ein verrostetes Fahrrad und lauter alte Fensterrahmen, daneben kaputte Stühle, kleine Fläschchen und das Gehäuse einer Nähmaschine, die spinnwebartig von einem dünnen, golden schimmernden Drahtgeflecht eingeschnürt ist.

Aus diesem Reservoir an Realien und Assoziationsstoffen schöpft die 1972 im japanischen Osaka geborene Performance- und Installationskünstlerin Chiharu Shiota Anregungen für ihre Arbeiten, die um Themen wie Bewahren, Erinnern und Aufgreifen kreisen und gleichzeitig Stillstand und Stille erkunden. Shiota windet, flechtet, knotet, näht – sie „zeichnet Fäden in den Raum“, wie sie selbst sagt.

In ihren Installationen erkennt man die Bildersprache ihrer Lehrerin Marina Abramovic wieder. Doch anders als dieser geht es der Japanerin nicht darum, ihren Körper extremen Erfahrungen wie Gewalt oder Nacktheit auszusetzen. Ihre installierten Bilder wirken eher verwunschen, märchenhaft entrückt, undurchdringlich, unwirklich und wie Dornröschen in Schönheit gebannt. Stillgestellte Gefühle. Das Geflecht erfüllt dabei eine zwiefache Funktion: Es schützt, ja schirmt ab, und gleichzeitig verbindet es, schafft Spannung, Halt und Zu(sammen)gehörigkeit im Raum.

Während dem Betrachter die Assoziationen zur (westlichen) Körperkunst unmittelbar zugänglich sind, bleiben die japanischen Ursprünge von Shiotas Werken meist unbemerkt. So etwa bei der Installation „Dialogue from DNA“ (Seite 17), wo Shiota in Krakau Passanten darum bat, ihr ausrangierte Schuhe zu bringen und einen Zettel mit einem Wunsch für die Zukunft dazuzulegen. In Japan ziehen die Menschen die Schuhe an den Eingängen der Tempel und Wohnhäuser aus. So kennzeichnen die Schuhe den Übergang von außen nach innen.

In den Tempeln selbst hängen die Wünsche der Menschen, kalligrafisch auf Zettel geschrieben, an Schnüren von der Decke herab, wie es überhaupt eine große Tradition der Schnür- und Flechtkunst gibt. Vielleicht ist es diese Fähigkeit der Vermischung von Kulturen, die Chiharu Shiotas internationale Reputation begründet hat – derzeit arbeitet sie in Südafrika.M.L.K.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von M.L.K.