15.04.2005

China gegen China

zurück

China gegen China

PLÖTZLICH blickt die Weltöffentlichkeit besorgt auf die Formosastraße, wo die Spannungen deutlich zunehmen, seit das chinesische Parlament am 14. März ein „Antisezessionsgesetz“ verabschiedet hat. Das Gesetz ermächtigt Peking erstmals, „nichtfriedliche Mittel“ gegen Taiwan einzusetzen, sollte die dortige Regierung, „auf welche Weise auch immer“, für die Unabhängigkeit optieren.

Am Vorabend der Parlamentsabstimmung trat der chinesische Staatspräsident, der gerade zum Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission gewählt war, in Uniform vor seine Offiziere und forderte sie auf, sich „auf einen bewaffneten Konflikt vorzubereiten“. Diese Erklärung ist umso ernster zu nehmen, als China seinen Verteidigungshaushalt gerade um 12,6 Prozent aufgestockt hat.

Taiwans Staatspräsident Chen Shui-bian, dessen Partei für die Unabhängigkeit des Inselstaats eintritt und der kurz zuvor ein „Antiannexionsgesetz“ angekündigt hatte, sprach von einem Pekinger „Kriegsermächtigungsgesetz“. Die USA äußerten sich besorgt über den „unglücklichen Schritt“ der chinesischen Führung. Und der Sprecher des Weißen Hauses, Scott McClellan, meinte am 14. März, das Gesetz diene „weder dem Frieden noch der Sicherheit an der Formosastraße“. Gegen jede einseitige Änderung des Status quo sprach sich auch die neue US-Außenministerin Condoleezza Rice aus, als sie am 21. März ihren Antrittsbesuch bei Staatspräsident Hu Jintao in Peking machte.

Washington betrachtet Taiwan seit 1972 als integralen Bestandteil Chinas. Sieben Jahre später verabschiedete der Kongress einstimmig eine Resolution, mit der die USA die Sicherheit der Insel garantieren. Dass John Bolton, der als ehemaliger Berater der Regierung in Taipeh als Taiwan-Hardliner gilt, zum UN-Botschafter der USA ernannt wurde, wirkt auf die Regierung in Peking auch nicht gerade beruhigend.

Auch Japan befürchtet von dem Pekinger Gesetz „negative Auswirkungen auf den Frieden und die Stabilität in der Region“. Die Spannungen zwischen den beiden regionalen Großmächten haben in letzter Zeit zugenommen. Im Februar übernahm Tokio die Kontrolle über einen Leuchtturm auf den unbewohnten Senkaku-Inseln, die China unter dem Namen Diaoyu-Archipel für sich beansprucht. Peking bezeichnete den Schritt Tokios als „schwer wiegende Provokation“. Die Inselgruppe liegt in fischreichen Gewässern, in denen große Erdölvorkommen entdeckt wurden.

Um das Gegengewicht zu China zu stärken, unterstützen die USA heute die japanische Forderung nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Im Februar unterzeichneten Tokio und Washington ein Protokoll, in dem sie eine „friedliche Lösung der Fragen im Zusammenhang mit der Formosastraße“ als „gemeinsames strategisches Ziel“ benennen. Damit hat Japan zum ersten Mal seit 1945 seine neutrale Haltung in der Taiwanfrage aufgegeben.

CHINA ist nach wie vor überzeugt, dass die Bush-Administration den chinesischen Einfluss in der Region einzudämmen sucht und Japan dabei die Rolle eines „asiatischen Großbritannien“ spielen soll. Peking glaubt, dass Washington die Wiederbewaffnung Japans unterstützt, China mit Militärstützpunkten in Kirgisien, Tadschikistan, Afghanistan und Usbekistan einkreisen will und die militärische Zusammenarbeit mit Indien, Sri Lanka, Malaysia, Singapur und Thailand verstärkt.

So einfach liegen die Dinge nicht. Wirtschaftlich istWashington stark von China abhängig, das ein gut Teil seiner riesigen Überschüsse in US-Schatztiteln anlegt und so indirekt das Haushaltsdefizit der USA finanziert. Auch braucht man Peking als Vermittler, um Nordkorea zum Verzicht auf sein Atomwaffenprogramm zu bewegen. Peking ist sich seiner Trümpfe bewusst – auch seiner Stellung als neue internationale Macht, auf die es immer drohender verweist.

Die Spannungen in der Region wirken sich auch auf Europa aus. Die Verabschiedung des „Antisezessionsgesetzes“ gegen Taiwan hat bereits dazu geführt, dass die von Frankreich und Deutschland geforderte Aufhebung des EU-Embargos für Rüstungslieferungen an Peking aufgeschoben wurde.

Die chinesische Regierung ist sehr auf internationale Stabilität bedacht, die den unaufhaltsamen Aufstieg zur Großmacht absichern und die ungestörte Organisation der Olympischen Spiele 2008 garantieren soll. Die Regierung in Peking weiß, sie darf den Bogen nicht überspannen. Angesichts der wachsenden Spannungen und der sozialen Proteste im Lande wollte die chinesische Regierung die Welt erneut daran erinnern, dass sie der Einheit der Nation absoluten Vorrang beimisst. Und dass die Unabhängigkeitserklärung Taiwans für sie im Wortsinne ein Casus Belli wäre.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von IGNACIO RAMONET