09.11.2023

Kriegspremier Netanjahu

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Kriegspremier Netanjahu

Israels neue Notstandsregierung

von Marius Schattner

28. Oktober 2023: Benjamin Netanjahu, Joaw Galant und Benny Gantz in der „Kirya“, dem Hauptquartier der Armee ABIR SULTAN/picture alliance/ap
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Während die israelische Bevölkerung auf die Angriffe der Hamas geschlossen und solidarisch reagiert und die Betroffenen unverzüglich mit zahlreichen Aktionen unterstützt hat, hielt sich die politische Führung ­– abgesehen von einigen martialischen Verlautbarungen – in der Öffentlichkeit zunächst auffällig zurück. Und die wenigen Minister und Regierungsvertreterinnen, die Überlebende des Massakers oder Angehörige von Geiseln besuchten, erlebten alles andere als einen herzlichen Empfang.

Ganze fünf Tage dauerte es, bis sich der Premierminister dazu durchrang, eine Notstandsregierung zu bilden und seinen größten politischen Rivalen samt vier Gefolgsleuten ins Boot zu holen: Benny Gantz, von 2020 bis Dezember 2022 Verteidigungsminister und Vorsitzender der Oppositionspartei Chosen LeJisra’el (Widerstandskraft für Israel), und dazu dessen Parteifreund Gadi Eizenkot (Ex-IDF-Chef) sowie die früheren Regierungsmitglieder Gideon Sa’ar, Yechiel Tropper und Jifat Schascha-Biton.

Netanjahu reagierte damit auf den Druck der Öffentlichkeit, die von ihm sofortige Rechenschaft und teilweise auch seinen Rücktritt gefordert hatte. Auf der Straße wie in den Medien – sogar in rechtsgerichteten – wurde der Regierung vorgeworfen, sie habe vor, während und nach dem Angriff der Hamas eine haarsträubende Inkompetenz an den Tag gelegt.

Die Kritik bezieht sich sowohl auf das Versagen der Geheimdienste, die den Angriff nicht kommen sahen, als auch auf die verspätete Hilfe der Armee für die Zivilisten, die den Massakern entkommen konnten. Und auch das Schweigen der offiziellen Stellen über das Schicksal der mehr als 240 Geiseln, die von den Angreifern entführt wurden, machte die Menschen wütend.

Viele Israelis sind fassungslos, dass die Behörden an ihren Routinen festhalten und weiterhin am Schabbat schließen, obwohl so viele Menschen Unterstützung brauchen. Doch die Gesellschaft hilft sich selbst. Ohne lange zu fackeln, übernehmen engagierte Bür­ge­r:in­nen Aufgaben, die eigentlich dem Staat obliegen. Sie helfen, wo sie können, und versuchen, den Familien, die Opfer der Hamas wurden, Trost zu spenden, so gut es geht.

Die öffentliche Kritik richtet sich vor allem gegen den Regierungschef. Ihm wird die Hauptverantwortung für die Katastrophe vom 7. Oktober angelastet: Er habe die Gefahr nicht kommen sehen und sich nur für die Justizreform interessiert, um einer Strafverfolgung zu entgehen.

Die umstrittene Gesetzesänderung hatte die israelische Gesellschaft seit Monaten polarisiert. Seit Jahresbeginn gingen jeden Samstag zehntausende De­mons­tran­t:in­nen auf die Straße und viele Reservisten verweigerten den Dienst in der Armee.

Ein Vorwurf lautet, Netanjahu sei sich viel zu sicher gewesen, dass die Hamas nicht wagen würde, die israelische Militärmacht herauszufordern. Der Premier habe angenommen, die Hamas sei nur an der Festigung ihrer Macht im Gazastreifen interessiert und der israelische Siedlungsausbau im Westjordanland sei ihr egal gewesen.

In den ersten Tagen nach dem Angriff gab zunächst die Armeeführung ihr Versagen zu: „Die IDF ist für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger verantwortlich, und am Samstagmorgen sind wir dieser Aufgabe im Gebiet um den Gazastreifen nicht gerecht geworden“, erklärte Generalstabschef Herzi Halewi am 12. Oktober und versprach: „Wir werden daraus lernen, wir werden es untersuchen, aber im Moment befinden wir uns im Krieg.“

Fünf Tage später folgte der Chef des Militärgeheimdienstes, Aharon Haliva, mit dem Eingeständnis: „Der militärische Nachrichtendienst unter meinem Kommando hat es versäumt, vor dem Terroranschlag der Hamas zu warnen. Wir haben in unserer wichtigsten Aufgabe versagt, und als Leiter des militärischen Nachrichtendienstes trage ich die volle Verantwortung.“

Nur aus Netanjahus Mund kamen bislang keine selbstkritischen Töne. Noch am 29. Oktober kritisierte er in einem nächtlichen Post den Sicherheitsapparat, was allerdings einen so gewaltigen Shitstorm auslöste, dass er den Text zehn Stunden später löschen und sich entschuldigen musste.

Vier Wochen nach dem 7. Oktober hat Netanjahu noch immer keinerlei Verantwortung für die Fehlerkette übernommen, die den ersten großen Angriff auf israelischem Boden seit 1948 ermöglicht hat. Das Büro des Premierministers ließ lediglich verlauten, Netanjahu sei viel zu spät über den Angriff informiert worden.

In seiner Rede am 13. Oktober in der Knesset anlässlich der Abstimmung über die Notstandsregierung und die Einrichtung eines dreiköpfigen Kriegskabinetts – bestehend aus Netanjahu, Verteidigungsminister Joaw Galant und Benny Gantz – war der Pre­mier allerdings sichtlich angeschlagen.

Wie stets seit dem 7. Oktober in Schwarz gekleidet, pries Netanjahu den Mut von Zivilisten und Soldaten und verkündete, dass „das Volk und seine Führung vereint sind“. Er brachte die Massaker der Hamas mit den Schrecken der Shoah in Verbindung, setzte die Hamas mit dem Islamischen Staat (IS) gleich und versprach, dass der Krieg gegen die islamistische Organisation mit ihrer Vernichtung enden werde.

Nationale Einheit auf Zeit

Israels auflagenstärkste Tageszeitung Jediot Aharonot kommentierte, diese Rede habe alles enthalten, was notwendig war, außer dem Bekenntnis zu seiner Verantwortung: „Kein Wort der Entschuldigung. Als ob er nicht da gewesen wäre. Und in Wahrheit war er ja auch nicht da.“

Bereits in den Monaten vor dem Hamas-Angriff waren Netanjahus Popularitätswerte abgesackt. Heute befinden sie sich im freien Fall, wie Umfragen erkennen lassen, die kurz vor der Bildung der Notstandsregierung durchgeführt wurden.

Laut einer von der englischsprachigen Jerusalem Post veröffentlichten Meinungsumfrage unter der jüdischen Bevölkerung stellen nach dem Angriff 86 Prozent der Befragten die „Führung des Landes“ infrage. Und 56 Prozent sprachen sich dafür aus, dass Netanjahu nach Abschluss der Gegenoffensive „Iron Swords“ zurücktreten müsse.

Die rechtsgerichtete Tageszeitung Maariv veröffentlichte eine Umfrage, wonach die regierende Likud-Partei bei Parlamentswahlen derzeit nur auf 18 Sitze kommen würde (statt 32 wie bei der letzten Wahl), die Gantz-Partei dagegen auf 41 Sitze (statt 12). Insgesamt könnte die Opposition mit 78 der 120 Knesset-Sitze rechnen.

Vieles deutet darauf hin, dass Netanjahus politische Zukunft an einem seidenen Faden hängt. Denn der enorme Schock, der durch den Angriff der Hamas ausgelöst wurde, hat die seit langem bestehenden politischen Fronten nicht verschoben. So lehnte Jair Lapid, Vorsitzender der zentristischen Partei Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft), der 2022 kurze Zeit Ministerpräsident war, eine Beteiligung an der Notstandsregierung ab. Begründung: Von einer „echten Regierung der nationalen Einheit“ könne keine Rede sein, wenn ihr Extremisten wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir angehören.

Zudem ist unklar, welche Befugnisse Gantz und Eizenkot haben, die beide dem Kriegskabinett angehören, Eizen­kot allerdings nur als beigeordneter Beobachter.

Dieses Kriegskabinett trifft zwar wichtige Entscheidungen, doch rechtlich gesehen bleibt seine Rolle eine beratende. Alle seine Beschlüsse müssen von einem Gremium bestätigt werden, das sich aus dem Sicherheitskabinett und anderen Ministern zusammensetzt – und in dem die Rechte und die extreme Rechte in der Mehrheit sind.

Mit Gantz und Eizenkot gehören der Regierung zwei ehemaligen Armeechefs mit militärischer Erfahrung an, die anderen Ministern fehlt, von denen von einige aus religiösen Gründen keinen Wehrdienst geleistet haben. Netanjahu verfügt damit über ein Gegengewicht zu den extremistischen Ministern Ben-Gvir (öffentliche Sicherheit) und Smotrich (Finanzen). Diese Neugewichtung dürfte seiner Regierung dazu verhelfen, sowohl in Israel als auch auf internationaler Ebene ein gemäßigteres Profil zu präsentieren.

Bleibt die Frage, ob dieses erweiterte Team den großen Sieg erringen kann, den Netanjahu jenen traumatisierten Israelis verspricht, die zu Hunderttausenden in der Nähe des Gazastreifens leben. Die wollen ihre toten Angehörigen gerächt sehen, fürchten sich aber zugleich vor der Rückkehr des erbarmungslosen Feindes.

Das Ziel der Armee ist indes die Ausschaltung der Kassam-Brigaden. Das bedeutet, im Gegensatz zu den Verlautbarungen des Premiers, dass es nicht um die Vernichtung der gesamten Hamas geht, sondern um die Zerstörung ihres militärischen Arms. Doch selbst um dieses Ziel zu erreichen, braucht es Zeit. Zeit ist jedoch genau das, was den Israelis nur eingeschränkt zur Verfügung steht – angesichts der weltweiten Reaktionen, die sie mit ihren militärischen Operationen auslösen.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Marius Schattner ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2023, von Marius Schattner