09.11.2023

Das Ende der Republik Arzach

zurück

Das Ende der Republik Arzach

Mit der Eroberung von Bergkarabach durch Aserbaidschan ist der Konflikt nicht vorbei

von Tom Stevenson

Aserbaidschans Präsident inszeniert sich vor dem Präsidentenpalast als ­Sieger, 15. Oktober 2023 picture alliance/ap/uncredited
Audio: Artikel vorlesen lassen

Würde man den Zuschnitt aller Länder am grünen Tisch neu festlegen, gäbe es auf der Weltkarte weder Enklaven noch Exklaven. Staaten sind allemal gewaltbereite Gebilde, die auf Streitigkeiten und Grenzkonflikte aus sind, wozu häufig die kleinste Provokation ausreicht.

Die Chancen, dass ein solcher Streit böse endet, sind besonders groß, wenn das Territorium eines Staates zum Teil in das Staatsgebiet eines anderen eingebettet ist. Doch die existierende Weltordnung wurde nicht am Reißbrett entworfen, und so führte der verwickelte und chaotische Verlauf der Geschichte wiederholt zur Entstehung von Enklaven.

Die 1992 geschaffene Republik Arzach war zwar genau besehen keine armenische Exklave in Aserbaidschan, funktionierte aber bis September 2023 so, als wäre sie eine. Sie umfasste das Gebiet, das zu sowjetischer Zeit „Autonome Oblast Bergkarabach“ hieß, und wurde – außer von wenigen anderen separatistischen Bewegungen – 30 Jahre lang von niemandem anerkannt. Das Gebiet war nur von Armenien aus zugänglich; als Zahlungsmittel fungierte der armenische Dram.

Dieser Situation hat der im September 2020 von Aserbaidschan begonnene Krieg ein Ende gesetzt. Als 44 Tage nach Kriegsbeginn ein von Russland vermittelter Waffenstillstand in Kraft trat, hatten aserbaidschanische Truppen einen großen Teil des Territoriums zurückerobert, das Armenien in den frühen 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Machtstrukturen im Südkaukasus besetzt hatte. Das von Russland erzwungene trilaterale Übereinkommen vom November 2020 bestimmte, dass sich die Verwaltung von Arzach auf ein Rumpfgebiet rund um die Hauptstadt Stepanakert beschränkt.

Doch seit Russland seinen Abnutzungskrieg gegen die Ukraine führt, kann sich Putin den Luxus, mehrere tausend Soldaten zur „Friedenssicherung“ in Bergkarabach abzustellen, nicht mehr leisten.

Anfang 2023 verhängte Aserbaidschan gegen das geschrumpfte Territorium Arzach eine Blockade. Den Latschin-Korridor, die einzige Verbindung nach Armenien, durften nur noch Hilfstransporte des Roten Kreuzes passieren. Und auch das nur sporadisch, so dass Arznei- und Lebensmittel knapp wurden.

Anfang September verstärkte die Regierung in Baku ihre Truppen in der Region. Als übermotivierte aserbaidschanische Soldaten gegnerische Stellungen unter Beschuss nahmen, wurden vier armenische Soldaten getötet. Etwa um diese Zeit ließ Russland beide Regierungen wissen, dass man Aserbaidschan nicht daran hindern werde, die 2020 begonnene Offensive zu Ende zu bringen.

Am 19. September marschierten aserbaidschanische Truppen in Bergkarabach ein; die arzachische Verteidigungsarmee leistete kaum Widerstand. Laut armenischen Berichten wurde in einigen Dörfern die Zivilbevölkerung mit vorgehaltener Waffe vertrieben. Der Milliardär Ruben Wardanjan, der kurzzeitig als Regierungschef der Republik Arzach fungiert hatte, wurde bei einem Fluchtversuch festgenommen. Präsident Samwel Schachramanjan erkannte, was die Stunde geschlagen hatte, und erließ ein Dekret, das die Auflösung der Republik Arzach zum 1. Januar 2024 anordnete.

Die Operation verlief nicht unblutig. Auf beiden Seiten dürfte es mehrere hundert Tote gegeben haben. Dennoch gab es weniger Gewalttätigkeiten als befürchtet. Doch der Flüchtlingsstrom nahm dramatische Ausmaße an. Mehr als 100 000 Menschen flohen aus Angst vor ethnischen Säuberungen, oder weil sie sich ein Leben unter aserbaidschanischer Herrschaft nicht vorstellen konnten.

Innerhalb weniger Tage war die Stadt Stepanakert beinahe komplett entvölkert. Eine riesige traurige Prozession bewegte sich in Richtung Armenien: überfüllte Busse; Kamas-Muldenkipper mit der Ladefläche voller Menschen; Autos mit aufgetürmten Kisten, Kanistern und Teppichen auf dem Dach. Am 1. Oktober hatte praktisch die gesamte Bevölkerung das Gebiet verlassen. Die letzten Busse setzten die Flüchtlinge an der armenischen Grenze ab. Einige von ihnen ließen sich interviewen, einer sagte dem Reporter der Financial Times, in Stepanakert liefen „nur noch Gespenster herum“.

Traurige Prozession in Richtung Armenien

Die Regierung in Baku hatte aus ihren Plänen für Bergkarabach kein Geheimnis gemacht. Präsident Ilham Alijew, seit 2003 im Amt, wollte die von seinem Vater Heidar Alijew erlittene Schmach rückgängig machen. Der hatte 1994 die Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet, die das Gebiet armenischer Kontrolle unterstellte. 29 Jahre später versprach der zweite Alijew eine Amnestie für alle „armenische Separatisten“, die ihre Waffen abgeben. Die Rechte der Bewohner, beteuerte er, seien durch die aserbaidschanische Verfassung geschützt.

Das überzeugte die in Bergkarabach lebenden Armenier in keiner Weise. Sie hatten jedoch nicht mehr viele Optionen, nachdem die russische Regierung zu dem Schluss gekommen war, dass sie es sich nicht leisten konnte, Alijew zum Feind zu haben.

In den Monaten zuvor war Russlands Sondergesandter für die Normalisierung der aserbaidschanisch-armenischen Beziehungen, Igor Chowajew, häufig nach Baku gereist. Bei seinem letzten Treffen mit Alijew am 5. September überbrachte er offenbar die Botschaft Putins, dass Russland sich der Operation nicht in den Weg stellen werde – was zugleich bedeutete, dass man darauf verzichtete, die Tötung einiger russischer Soldaten durch die aserbaidschanische Armee zu thematisieren.

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan beschwerte sich öffentlich beim russischen Außenministerium und versuchte, Aufmerksamkeit in Washington zu erzielen. Zwar erschien Samantha Power, die Leiterin der US-Behörde für internationale Entwicklung, an der Grenze und setzte eine betroffene Miene auf, um dann Finanzhilfen in lachhafter Höhe zuzusagen, aber bleibenderen Eindruck machten die Fotos von Joe Bidens Händedruck mit dem aserbaidschanischen Außenminister am 21. September. Das sah ganz nach einem Fait accompli aus: als verspätetes Eingeständnis der USA, dass der Krieg von 2020 hiermit zu Ende war.

Die ersten Darstellungen dieses Kriegs zeichnen zumeist ein Bild, das Technik-Freaks in Begeisterung versetzt: Aluminium-Drohnen, die stählerne Panzer zerstören, oder ferngesteuerte Präzisionsmunition aus israelischer Produktion, die verrostete Haubitzen aus den 1960er Jahren in die Luft jagt. Laut dem Militärexperten John Antal, ein ehemaliger Oberst der US-Armee, war dies der „erste Krieg in der Geschichte, der vornehmlich von robotergestützten Systemen gewonnen wurde“.

Gegen die türkischen Drohnen und andere importierte Waffensysteme hatte die aus Sowjetzeiten stammende armenische Luftabwehr keine Chance. Doch auch ohne türkische Unterstützung (vielleicht auch bei der Einsatzplanung) war das aserbaidschanische Militär in allen Belangen überlegen.

Das gilt auch in taktischer Hinsicht, wie einige Beispiele zeigen. Die armenischen Schützengräben wurden überrannt, als sie nicht bemannt waren. Die Stadt Hadrut wurde von aserbaidschanischen Bodentruppen allein mit dem Einsatz weniger Splitterbomben erobert. Und die Einnahme von Schuscha (Armenisch: Schuschi), die für den ganzen Feldzug entscheidend war, gelang aserbaidschanischen Soldaten, die nur mit Gewehren und Panzerabwehrwaffen ausgerüstet waren.

Zudem hat sich das Kräfteverhältnis zwischen beiden Seiten deutlich verschoben, weil Armeniens Bevölkerung seit den 1990er Jahren massiv geschrumpft ist. So konnte Aserbaidschan die armenische Verteidigung innerhalb weniger Wochen überrennen und Bergkarabach zu drei Vierteln und schließlich komplett unter seine Kontrolle bringen. Und Alijew konnte in einer Fernsehrede tönen, seine Armee habe die Armenier „wie Hunde“ verjagt.

Die Republik Arzach existiert nicht mehr, aber was ist sie davor gewesen? Als Armenien die ehemalige „Autonome Oblast Bergkarabach“ eroberte, wurden zehntausende Aser­bai­dscha­ne­r:in­nen getötet und hunderttausende vertrieben.

Die Republik Arzach war aus Sicht der Regierung in Baku ein illegales Gebilde. Das war sie auch nach dem geltenden Völkerrecht, doch in Armenien wurde Arzach als essenzieller Teil des neuen armenischen Staats betrachtet und musste als solcher verteidigt werden – auch weil die auf dem Gebiet lebende Bevölkerung offenkundig nicht von Aserbaidschan regiert werden ­wollte.

Die arzachische Regierung war das Produkt einer historischen Entwicklung, die während der Zarenherrschaft einsetzte, als sich die ethnisch und religiös durchmischten kaukasischen Städte zu entmischen begannen. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren der Sowjetunion rapide beschleunigte. Wenn ein transnationales Projekt scheitert, ist es oft die religiöse und ethnische Identität, auf die sich die Menschen zurückbesinnen – was wiederum zu diesem Scheitern beitragen kann.

In den späten 1980er Jahren wuchs der Nationalismus in Armenien wie in Aserbaidschan, mit ähnlich destabilisierender Wirkung wie bei anderen Titularnationen der Sowjetunion. Insbesondere im Südkaukasus kam es zu ethnischen Konflikten und Pogromen. Beim Massaker von Chodschali vom 25. Februar 1992 wurden mindestens 200 aserbaidschanische Zivilisten durch karabach-armenische Truppen getötet. Von der sowjetischen Idee der druschba narodow – der Völkerfreundschaft – war nichts mehr übrig.

Es gehört zu den Ironien der Geschichte, dass die 1990er Jahre im Westen als Frühling des postethnischen Liberalismus wahrgenommen wurden, aber für andere Regionen wie Jugoslawien zur Ära neuer „Ethnokriege“ wurde. In Armenien wie in Aserbaidschan wurde die Politik von einem Nationalismus der Ehre dominiert, der sich konkurrierender Geschichtsnarrative bediente, die bis zum Russisch-Persischen Krieg oder in noch fernere Zeiten zurückreichten.

Beide Seiten führten kulturgeschichtliche Argumente ins Feld und beriefen sich auf wacklige Begriffe wie „territoriale Integrität“ oder die Existenz eines „angestammten Heimatlandes“. Die Idee einer regionalen Integration schwand ebenso aus dem Bewusstsein wie die Akzeptanz von Minderheiten, die jeweils auf der anderen Seite der Grenze lebten.

Was allein übrig blieb, war eine eth­no­nationalistische Stimmung, die sich nicht auf die politischen Eliten beschränkte, wie sich etwa in der Verwüstung von Friedhöfen zeigte.

In Armenien wurde jeder Versuch einer pragmatischen Lösung im Keim erstickt. Präsident Lewon Ter-Petros­jan (1991–1998), der sich einmal für ein Abkommen mit Aserbaidschan aussprach, das einen Autonomiestatus für Bergkarabach beinhalten sollte, wurde aus dem Amt gedrängt. Die 2007 vereinbarten Madrider Prinzipien, die auf eine diplomatische Lösung abzielten, wurden ad acta gelegt. Über die Bewegung, die Paschinjan 2018 ins Amt des Ministerpräsidenten führte, lässt sich viel Positives sagen, aber ein Nachdenken über eine Lösung für Bergkarabach gehörte nicht dazu. Sobald Paschinjan auch nur Ansätze von Kompromissbereitschaft erkennen ließ, bekam er heftigen Gegenwind im eigenen Land.

Türkische Drohnen gegen verrostete Haubitzen

Das böse Kalkül, das Aserbaidschan jetzt verfolgt, ist nur allzu deutlich. Eine UN-Mission durfte erst am 1. Oktober nach Arzach reisen, als fast schon die gesamte armenische Bevölkerung geflohen war. Die ostentative Drohung mit militärischer Gewalt führte, obwohl sie kaum wahrgemacht wurde, im Endeffekt zu einer ethnischen Säuberung. Dass die Regierung Alijew den Auszug der Karabach-Armenier erwartet und gewollt hat, steht außer Frage.

Dabei hatte Paschinjan noch im Mai durchblicken lassen, dass Armenien bereit sein könnte, Bergkarabach als Teil Aserbaidschans anzuerkennen, wenn im Gegenzug die Sicherheit der ethnisch armenischen Bevölkerung garantiert würde. Eine geordnete Verhandlungslösung lag also durchaus im Bereich des Möglichen.

Dennoch wäre es verfehlt, die Krise allein auf das Regime von Alijew zurückzuführen. Würde man den Konflikt als eine Episode im ewigen Krieg zwischen Demokratie und Autokratie darstellen, wäre das nicht nur eine offenkundige Verdrehung der Faktenlage; es würde auch auf die Behauptung hinauslaufen, dass der Konflikt unlösbar ist.

Ebenso falsch wäre es, den Krieg zum bloßen Symptom eines übergeordneten globalen Trends zu erklären: etwa mit dem Abstieg Russlands oder einer neuen „Multipolarität“. Dass der Kreml sich mit dem Krieg gegen die Ukraine übernommen hat und sich kaum mit anderen Problemen befassen kann, war schon lange vor diesem September klar. Paschinjans spätes öffentliches Eingeständnis: „Auf Russland können wir uns nicht mehr verlassen“, muss man sich in seinem inneren Zirkel schon sehr viel früher klargemacht haben.

Die russische Seite wiederum kritisiert „die inkonsequente Haltung der armenischen Führung“, die ständig ihre politische Meinung geändert und die Unterstützung des Westens gesucht habe. Die USA haben Paschinjan entschieden freundlicher behandelt als dessen Vorgänger. Offizielle US-Vertreter, darunter eine Delegation der US-Armee, reisten mehrfach zu Besuchen nach Armenien, deren Bedeutung allerdings nicht überschätzt werden sollte. Auch das erste gemeinsame Militärmanöver der USA und Armeniens, das am 11. September unter den Namen „Eagle Partner“ stattfand, hatte eher bescheidene Dimensionen.

Inzwischen droht Armenien mit dem Austritt aus dem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit), zu dem sich 2002 sechs ehemalige Sowjetrepubliken zusammengeschlossen hatten. Doch die russische Militärbasis in Gjumri – nur einen Steinwurf von der Zarenfestung Sew Berd entfernt – soll vorerst bestehen bleiben.

Der Konflikt um Bergkarabach ließ sich am angemessensten schon immer als individuelle Krise unter besonderen Rahmenbedingungen beschreiben. Die Regierung in Baku betont inzwischen, der September sei der richtige Zeitpunkt zur Beseitigung der Republik Ar­zach gewesen. „Früher konnten wir es nicht machen, und später wäre wohl auch keine gute Idee gewesen“, erklärte Aserbaidschans Botschafter in Großbritannien. „Die Sterne standen günstig.“

Zum Gesamtbild gehört auch, dass Europa ein besseres Verhältnis zu Aserbaidschan anstrebt. Anfang Oktober wurde eine EU-Beobachtungsmission etabliert, die nominell die armenisch-aserbaidschanische Grenze überwachen soll, doch das Kontingent wurde im verschlafenen Jeghegnadsor einquartiert, das zwei Autostunden vom nächsten Grenzübergang entfernt liegt.

Im Juli 2022 reiste Ursula von der Leyen nach Baku und unterzeichnete ein Abkommen mit Alijew, von dem Europa sich innerhalb weniger Jahre die Verdoppelung der aserbaidschanischen Erdgaslieferung erhofft. Die EU strebe „eine Abkehr von fossilen Brennstoffen aus Russland“ an, weshalb sie „verlässlichere, vertrauenswürdigere Partner“ suche, erklärte die Kommissionspräsidentin. Und fügte hinzu: „Ich freue mich, dass Aserbaidschan einer dieser Partner ist.“

Die Einnahme von Stepanakert bedeutet für das Problem der armenisch-aserbaidschanischen Grenze eine grausame Teillösung. Doch warum sollte Aserbaidschan es dabei bewenden lassen? Die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan, die an Iran grenzt und vom Kernland durch einen Streifen armenischen Staatsgebiets getrennt ist, kann man von Baku aus nur per Flugzeug oder mit einer langen Busreise über iranisches Gebiet erreichen. Bequemer wäre ein Landkorridor über armenisches Territorium.

Baku könnte auch seine alten Ansprüche auf die heutige armenische Südprovinz Sjunik wiederbeleben und behaupten, es handle sich um die aserbaidschanische Provinz Sangesur.

Das Fait accompli von Bergkarabach hat die Spannungen zwischen beiden Ländern also keineswegs abgebaut. Im Gegenteil. Am 15. Oktober hielt Alijew in Stepanakert eine donnernde Siegesrede: „Ich tue, was ich sage“, rief er aus, „das sollte man in Armenien nicht vergessen.“ Kurz darauf begannen aserbaidschanisch-türkische Militärmanöver in Nachitschewan, nahe der Grenze zu Armenien.

Für Ende Oktober hatte EU-Präsident Charles Michel ein Treffen zwischen Alijew und Paschinjan organisiert. Der Termin wurde ohne Begründung abgesagt.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Tom Stevenson ist Journalist.

© London Review of Books; für die deutsche Über­setzung LMd, Berlin

Was wann geschah

24. Oktober 1813 Im Friedensvertrag von Gulistan tritt Persien Dagestan und das östliche Transkaukasiens samt Karabach und Sangesur an Russland ab.

21. Februar 1828 Der Friedensvertrag von Turkmantschai legt den Fluss Aras als Grenze zwischen Persien und Russland fest, die Khanate Jerewan und Nachi­tsche­wan fallen an Russland.

1905 Von Februar bis August sterben mindestens 3000 Menschen bei Kämpfen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern in mehreren Städten, darunter Baku und Schuscha (Armenisch: Schuschi).

April 1915 Beginn des Genozids in Westarmenien.

24. Februar 1918 Ausrufung der Transkaukasischen Demokratisch-Föderativen Republik.

Mai 1918 Aserbaidschan und Armenien werden unabhängig; Kämpfe in Karabach.

1920 Beide Staaten samt Bergkarabach werden von der Roten Armee besetzt.

16. März 1921 Die kemalistische Türkei und Sowjetrussland unterzeichnen in Moskau einen Freundschaftsvertrag, der Gebietsverluste Armeniens (Kars, Ardahan und Berg Ararat) bestätigt.

4. Juli 1921 Im Beisein Stalins beschließt das Kaukasische Büro des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) den Anschluss Bergkarabachs an Armenien.

5. Juli 1921 Das Kaukasische Büro revidiert sich und beschließt den Anschluss der Region an Aserbaidschan.

7. Juli 1923 Gründung der Autonomen Region Bergkarabach. Die Hauptstadt wird von Schuschi/Schuscha nach Chankendi verlegt, das fortan Stepanakert heißt.

November 1945 Das ZK der armenischen KP fordert den Anschluss Bergkarabachs an die Sozialistische Republik Armenien. Ähnliche Forderungen werden 1963 und 1965 erhoben.

Februar 1988 Der Sowjet von Bergkarabach beschließt den Anschluss an Armenien. Es kommt zu Zusammenstößen in Askeran, gefolgt von einem antiarmenischen Pogrom in Sumgait (in der Nähe von Baku), das Massendemonstrationen in Jerewan auslöst.

7. Dezember 1988 Bei einem Erdbeben in Spitak und Gjumri kommen mehr als 25 000 Menschen ums Leben.

16. Oktober 1991 Der frühere Anführer des Komitee Karabach, Lewon Ter-Petrosjan, wird Präsident von Armenien.

August/September 1991 Nach dem gescheiterten Putsch in Moskau werden Aserbaidschan und Armenien unabhängig.

10. Dezember 1992 Referendum in der autonomen Republik, 82 Prozent der Wahlberechtigten stimmen für die Unabhängigkeit von Bergkarabach; massive Ausweitung der Kämpfe.

24. März 1992 Unter der Schirmherrschaft der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wird die Minsker Gruppe gegründet, die unter Vorsitz der Troika Russland-Frankreich-USA eine friedliche Lösung des Konflikts finden soll.

9. Mai 1992 Armenische Verbände nehmen die frühere Hauptstadt Schuschi/Schuscha ein, neun Tage danach die Stadt Latschin (Armenisch: Berdsor), womit sie die Verbindungsstraße zwischen Bergkarabach und Armenien beherrschen.

15. Juni 1993 Das ehemalige KGB- und Politbüromitglied Heidar Alijew wird Präsident von Aserbaidschan.

30. April 1993 In seiner Resolution Nr. 822 fordert der UN-Sicherheitsrat den Rückzug armenischer Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten.

16. Mai 1994 Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens in Moskau, damit wird der Frontverlauf eingefroren. Rund 13 Prozent des Territoriums von Aserbaidschan bleiben unter arme­ni­scher Kontrolle. Ende der Kampfhandlungen, bei denen mehr als 30 000 Menschen getötet und rund eine Million zu Flüchtlingen wurden.

3. Februar 1998 Präsident Lewon Ter-Petrosjan tritt zurück, nachdem ihm Ministerpräsident Robert Kotscharjan (ehemals Präsident von Bergkarabach) vorgeworfen hatte, er sei für einen Frieden mit Aserbaidschan zu allzu vielen Zugeständnissen bereit.

30. März 1998 Robert Kotscharjan, ebenfalls aus Bergkarabach, wird armenischer Staatspräsident und verstärkt die Karabach-Fraktion in Jerewan.

27. Oktober 1999 Mordanschlag im armenischen Parlament, dem Premierminister Wasken Sarkissjan (ehemaliger Milizen-Kommandeur in Bergkarabach), der Präsident der Nationalversammlung, Karen Demirtschjan und sechs weitere Personen zum Opfer fallen.

30. März 2000 Der Verteidigungsminister und „starke Mann“ in Bergkarabach, Samwel Babajan, wird als Drahtzieher eines Anschlagsversuchs auf „Präsident“ Arkadi Ghukassjan angeklagt.

15. Oktober 2003 In Aserbaidschan wird Ilham Alijew nach dem Tod seines Vaters zum Präsidenten gewählt.

19. Februar 2008 Der Ex-Militärchef von Bergkarabach, Sergej Sarkissjan, wird Präsident der Republik Armenien.

10. Juli 2009 Die Minsker Gruppe verabschiedet die 2007 ausgehandelten „Madrider Prinzipien“. Sie beinhalten die Rückgabe der besetzten Gebiete an Aserbaidschan, einen befristeten Autonomiestatus für Bergkarabach bis zu einer endgültigen Regelung, einen Korridor nach Armenien, die Rückkehr der Geflüchteten und internationale Garantien.

2. bis 5. April 2016 Die heftigsten Kämpfe seit 1994 offenbaren die Schwäche der armenischen Streitkräfte, die kleinere Gebietsverluste hinnehmen müssen.

8. Mai 2018 Nach dem Rücktritt von Präsident Sarkissjan und zwei Monate andauernden Demonstrationen wird Nikol Paschinjan zum Premierminister gewählt. Seine Partei „Zivilvertrag“ gewinnt die Parlamentswahlen am 9. Dezember.

27. September bis 10. November 2020 In einem Blitzangriff erobern aserbaidschanische Truppen einen Großteil des nach der Unabhängigkeit abgetretenen Gebiets zurück. Rund 6000 Menschen sterben. Russland vermittelt einen Waffenstillstand und stellt eine Friedenstruppe.

21. Juni 2021 Bei den Parlamentswahlen erringt Premierminister Paschinjan einen deutlichen Sieg, seine Partei holt 53,9 Prozent der Stimmen.

12. Dezember 2022 Bergkarabach wird angeblich von militanten Umweltaktivisten blockiert – unterstützt durch die aserbaidschanischen Streitkräfte, die den Korridor von Latschin/Berdsor kontrollieren.

13. April 2023 Vor dem Parlament in Jerewan erklärt Präsident Paschinjan seine Bereitschaft, die volle territoriale Integrität Aserbaidschans anzuerkennen.

19. September 2023 Aserbaidschan greift die Republik Arzach an, deren Truppen nach 24 Stunden kapitulieren. Es folgen die Selbstauflösung der selbsternannten Republik, die Inhaftierung der wichtigsten Führungsfiguren und der Exodus des größten Teils der armenischen Bevölkerung; rund 100 000 Menschen finden Zuflucht in Armenien.

⇥Philippe Descamps

Le Monde diplomatique vom 09.11.2023, von Tom Stevenson