07.09.2023

Mein Leben, mein Tod

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Mein Leben, mein Tod

von Jean-Claude Gast

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Am 7. Dezember 2022 bin ich zu meiner ersten Skitour der Wintersaison ins Gebiet La Jarjatte aufgebrochen. Auf der Abfahrt, als ich schon fast wieder unten war, bin ich gestürzt und auf den Kopf gefallen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Sie haben mich per Helikopter erst nach Gap transportiert und dann nach Marseille. Der seelische Schock war enorm – als würde ich aus dem Licht in den Schatten treten.

Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass mein Rückenmark schwer verletzt wurde und sich das Hämatom nicht zurückbilden kann. Die Ärzte erzählen mir jetzt schon seit neun Monaten, dass eine kleine ­Chance auf Besserung besteht. Doch in meinem Körper eingeschlossen, glaube ich nicht daran. Es ist unglaublich brutal, ich komme mir vor wie „denkendes Gemüse“. Nur meine Gedanken bewegen sich noch selbstständig. Ich hab keine Ahnung, wie lange das noch so weitergehen wird. Ein Licht am Ende des Tunnels ist nicht in Sicht.

Mein Entschluss stand schnell fest. Ich bin nicht stark genug, um tagtäglich für eine Autonomie zu kämpfen, von der ich gar nicht weiß, worin die bestehen soll. Schon am zweiten Tag nach dem Unfall dachte ich: „Sobald sie die künstliche Ernährung einstellen, werde ich nichts mehr essen.“

Vor 20 Jahren hätte ich das nicht gesagt. Ich bin 79 Jahre alt. Ich hatte ein Leben, mein Leben. Das ist jetzt vorbei. Ich habe nicht die Kraft, mich nur mit einer Art von Überleben ab­zufinden. Ich habe keine Lust mehr zu kämpfen. Das ist etwas sehr Persönliches.

Mein Sohn Yannick hat gleich eine virtuelle Freundschaftsgruppe für mich gegründet und einen Kalender ins Netz gestellt. Etwa hundert Leute haben sich dort eingetragen. Die ersten sechs Monate lag ich in einem Pflegeheim im Departement Alpes-de-Haute-Provence. Jeden Tag kam ein Freund oder eine Freundin von weither zu Besuch und hat mich gefüttert. Manche haben mir sogar ein savoyardisches Fondue mitgebracht! Und meine Musikerfreunde haben für alle Pa­tien­ten gespielt. Ich werde gut betreut. Die Gespräche sind tiefer und persönlicher geworden. Meine Freunde akzeptieren meine Entscheidung. Niemand versucht mich umzustimmen.

In der Familie haben wir darüber gesprochen. Meine Frau und unsere beiden Kinder meinen, dass das einzig und allein meine Sache ist. Aber Yannick hat auch gesagt, dass es für ihn keine Last sei, wenn er sich um seine Eltern kümmert, und dass es bisher doch ganz gut gelaufen sei mit der Organisation: „Es hat uns einander viel näher gebracht“, sagt er. „Ich respektiere deine Entscheidung, aber sie sollte nicht auf der Absicht gründen, es für andere leichter zu machen.“

Seit Anfang August bin ich wieder zu Hause. Ich möchte der Gesellschaft und meinen Angehörigen nicht zur Last fallen, auch wenn sie gern dazu bereit sind, mir zu helfen, und das jeden Tag aufs Neue beweisen. Ich habe mich immer für den Sozialstaat eingesetzt und für die Solidarität mit den Schwächsten. Ich bin allen unglaublich dankbar: den Pflegerinnen und Pflegern im Krankenhaus und in der Reha und natürlich meinen Freunden. Manche loben mich für meinen „Mut“, dabei finde ich, dass es irgendwie auch feige ist. Es wäre im Gegenteil viel mutiger weiterzumachen.

Eine Patientenverfügung hatte ich nicht. Wie viele Normalbürger wusste ich gar nicht, dass es so etwas gibt. Obwohl ich vor 35 Jahren schon Krebs hatte; der Tumor war bösartig und die Prognose nicht besonders gut. Aber damals war ich voller Kampfgeist; die Kinder waren noch klein, und ich hatte gerade ein Geschäft für Wolle von re­gio­nalen Produzenten aufgemacht. Für mich stand viel auf dem Spiel. Aufzugeben kam damals nicht infrage.

Dass ich so bin, wie ich bin, hat auch damit zu tun, dass ich mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen bin, die sehr besitzergreifend war. Dagegen musste ich mich immer wehren. Das hat mich geprägt. Wir legen in unserer Familie viel Wert auf Freiheit. Und um die kämpfe ich heute. Wenn ich mit jemandem rede, der wie ich querschnittsgelähmt ist, sage ich, dass ich feige bin und es mir leicht mache. Aber bei einem jungen Menschen spreche ich natürlich eher von meinem Alter.

Dass wir in Frankreich bei der Sterbehilfe keine Fortschritte machen, hat bestimmt mit dem Einfluss der Kirche zu tun. Ich kann nicht daran glauben, dass es einen höheren Willen gibt. Ich bin katholisch erzogen und habe die Erstkommunion empfangen. Aber als ich in die Berge gezogen bin und den Sternenhimmel hier gesehen habe, war das für mich der Beweis dafür, dass es keinen Gott gibt. Ich glaube nicht an das Jenseits.

Warum es diesen Text gibt? Weil sich die französische Gesellschaft und die Gesetzgebung weiterentwickeln müssen, unter diesem Präsidenten, der immer mehr Versprechungen macht, aber keine davon umsetzt. Die Selbstbestimmung muss bewahrt bleiben. Ich habe die Debatten des Bürgerrats verfolgt. Die Richtung stimmt. Die Ärzteschaft hat Vorbehalte. Ich kann das nachvollziehen, für manche ist es sicher nicht leicht. Aber ich habe auch mit Ärzten gesprochen, die mich verstehen.

Es soll im Herbst geschehen. Das ist mein Plan. Wenn sich in Frankreich etwas bewegt, kann ich warten. Oder wenn sich mein Zustand bessert. Doch wenn ich ehrlich bin, steht mein Entschluss fest.

Manche gehen dafür nach Bel­gien oder in die Schweiz. Andere wissen nicht, wie sie es anpacken sollen, oder sie haben kein Geld: In Belgien kostet es ungefähr 6000 Euro und in der Schweiz sogar 13 000 Euro. Das ist so unglaublich ungerecht! Diese krasse Ungleichheit in einer dermaßen fundamentalen Frage.

Ich hatte schon ein erstes virtuelles Treffen mit einem belgischen Arzt. Bei dem zweiten soll ein Psychiater dabei sein. Ich könnte mir vorstellen, dass die Regierung bei solchen Bedingungen einer Gesetzesänderung am Ende zustimmen kann, wobei sie mit Sicherheit noch einige Vorkehrungen treffen wird.

Im Rückblick betrachtet, folgt mein Lebensweg einer gewissen Logik. Ich habe mich dafür entschieden, in die Berge zu ziehen, in eine abgelegene und benachteiligte Region. In der Landwirtschaft gab es damals einen starken Widerstand gegen die Agrar­industrie und Pestizide. Ich habe mich vor allem im Bauernverband engagiert. Und gemerkt, dass ich da nicht viel ausrichten kann. Deshalb bin ich in die Politik gegangen und wurde Bürgermeister in meinem Dorf, ich hatte drei Amtszeiten.

Irgendwie bin ich schon stolz darauf, dass für mich das Gemeinwohl immer an erster Stelle stand, in allem, was ich getan habe oder versucht habe zu tun. Jedenfalls möchte ich das glauben. Und zu dieser Geschichte gehört auch mein Kampf für das selbstbestimmte Sterben. Diese Freiheit muss noch errungen werden. Heute können manche ins Nachbarland reisen, wie früher die wohlhabenden Frauen rüber nach England fuhren, bevor es das Recht auf Abtreibung gab. Es ist an der Zeit, dass alle diese Wahlmöglichkeit erhalten. ⇥Jean-Claude Gast

Aus dem Französischen von Dorothee D’Aprile

Jean-Claude Gast war Landwirt und Bürgermeister der kleinen Gemeinde Saint-Julien-en-Beauchêne.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2023, von Jean-Claude Gast