13.07.2023

Brief aus Abuja

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Brief aus Abuja

von Abubakar Adam Ibrahim

Im Zentrum von Abuja AFOLABI SOTUNDE/reuters
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Wie ein Neugeborenes in ein Tuch so ist Abuja stets in eine Schicht feuchter Luft gewickelt. Wenn man mich fragt, wie das Wetter hier ist, sage ich, dass die Hitze über der Stadt hängt wie ein Laken, das ganze Jahr über, während der Regenzeit und des Harmattans, wenn die kalten Saharawinde aus dem Norden nach Süden fegen und Städte und Dörfer mit feinem Staub bedecken. Zwei Wochen im Jahr liegen der graue Staub, der Dunst über Abuja, die Kälte bleibt allerdings fern, das Wetter ist fast immer gleich.

Wahrscheinlich empfinde ich das so, weil ich in Jos geboren und aufgewachsen bin, das ungefähr 300 Kilometer nördlich von Abuja liegt und für seine Felsformationen und kalten Harmattans bekannt ist.

Ohnehin ist Abuja anders als alle anderen Städte Nigerias, wurde erst „gestern geboren“, wie meine Landsleute sagen würden. Zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft gab es die Stadt noch nicht. Vier Jahrzehnte später wurde sie Nige­rias neue Hauptstadt, und drei Jahrzehnte später hat Abuja die Geburtswehen immer noch nicht hinter sich gelassen, bringt Gebäude um Gebäude, Straße um Straße, ein Viertel nach dem anderen hervor. Faszinierend, wie diese Stadt wächst und ihren Charakter verändert, während sie erkundet, welche Art von Stadt sie sein will.

Mittlerweile nenne ich diese Stadt Heimat. Wie vermutlich die meisten, die hier leben, hegte ich anfangs einen Widerwillen, der fast an Widerstand grenzte, Abuja, das auf den ersten Blick künstlich wirkte, so zu bezeichnen. Manche finden es seelenlos. Als ich 2009 aus beruflichen Gründen herzog, machte ich es wie die meisten, hielt meiner Geburtsstadt verbissen die Treue, wohnte wochentags in Abuja und floh am Wochenende vor seiner Banalität.

Bis es mir dann ans Herz wuchs, was auch daran lag, dass sich meine Heimatstadt Jos selbst zerfleischte, von Unruhen und ethnischen Konflikten erschüttert wurde. Man schließt Freundschaften und knüpft Kontakte, bekommt ein Gespür für die Stadt, erfährt von den zahlreichen Kunstausstellungen und Galerien, den Lesungen, den vielen Cafés und Treffpunkten und gewöhnt sich allmählich an das Wetter. Denn diese Stadt besitzt eine erwachende Seele, die sich bisher nicht einordnen lässt, aber es gibt sie, gleich unter der Oberfläche.

Allmählich schätzt man die Ruhe, wenn sie einem vergönnt wird, denn auch sie ist unbeständig, wie fast alles in diesem Land. Während einer zehnmonatigen Abwesenheit – so lange war ich, seitdem ich herzog, noch nie weggewesen –, fehlte mir genau diese fein austarierte Mischung aus Ruhe und unterschwelliger Dynamik. Sie empfing mich, als ich am Vorabend der Amtseinführung des neuen Präsidenten wieder landete.

Binnen Stunden veränderte sich die Atmosphäre. Bei der Rede zu seiner Amtseinführung am 29. Mai 2023, die ich wegen meines Jetlags verschlief, wich Bola Tinubu von den üblichen Floskeln ab und kündigte an, Erdölerzeugnisse würden nicht länger subventioniert. Wir hatten immer gewusst, dass dieser Einschnitt eines Tages kommen würde. Die Regierung hat den Importeuren Milliarden US-Dollar in den Rachen geworfen, damit die Nigerianer billig tanken können – keine nachhaltige Politik, sondern systemische Korruption. Allerdings versäumte es die Regierung, die Bürger und die Wirtschaft auf das abrupte Ende der Subventionen entsprechend vorzubereiten.

Daher sprangen die Menschen, noch bevor Tinubu seine Rede beendet hatte, in ihre Autos und rasten zur nächsten Tankstelle, um vollzutanken. Tagelang bildeten sich endlose Staus vor den Zapfsäulen, über der Stadt lag angespannte Unruhe. Die Preise explodierten, denn alles, fast alles, muss mit Lastwagen herangeschafft werden. Höhere Kraftstoffpreise bedeuten höhere Transportkosten, was wiederum bedeutet, dass fast alles teurer geworden ist; die Gewerkschaften mussten von einem Generalstreik abgebracht werden.

Das ist Abuja, eine Stadt, deren Stimmung, deren Atmosphäre von einer einzigen offiziellen Entscheidung diktiert werden kann. Wie Brasília ist Abuja eine Retortenstadt, erbaut für Amtsgeschäfte, um das bevölkerungsreichste Land Afrikas zu regieren. Wenn politische Kongresse stattfinden, werden tausende Parteimitglieder mit Bussen in die Stadt gekarrt. Dann sind fast sämtliche Hotelbetten der Hauptstadt belegt, die Straßen verstopft; ganze Stadtviertel werden abgeschnitten, und es entstehen spontan Flohmärkte, die nach zwei Tagen wieder verschwinden und tonnenweise Müll hinterlassen, mit dem sich die Stadtreinigung herumschlagen muss.

Anders als in Lagos, einem New York auf Speed, ist es meist ruhig in Abuja. Andererseits ist Ruhe relativ, wie fast alles hier. Es kommt auf den Stadtteil an, denn die Vororte sind, im Gegensatz zum amerikanischen Suburbia, überfüllt, voller Leben und es geht teilweise hitzig her. Außenbezirke wie Mararaba, Lugbe, Gwagwalada oder Kubwa würgen allmorgendlich einen Verkehrsschwall hervor, der Arbeiter, Jobsuchende und Glücksjäger ins Zentrum der Stadt bringt, und saugen ihn allabendlich wieder ein. Eher wirkt das Stadtzentrum selbst wie ein schläfriger Vorort: ruhige Viertel, mit Bäumen gesäumte Straßen, über die gelegentlich ein Auto fährt, und Verwaltungsbezirke, die größtenteils verlassen daliegen.

In den 1970ern war dieser Ort im Herzen des Landes eine riesige Fläche mit einer Handvoll verstreuter Siedlungen der Gbagyi. Als die Regierung gleich einem launischen Kaiser aus der Antike beschloss, eine neue Hauptstadt müsse her, weit weg vom an der Küste gelegenen, überfüllten Lagos mit seinen chaotischen Verkehrsstaus, steckte sie diese Fläche zwischen Suleja und Lokoja ab und nannte sie Abuja. Ironischerweise fiel das Staatsoberhaupt, das diese Vision gehabt hatte, General Murtala Muhammad, einem Attentat zum Opfer, als sein Mercedes im berüchtigten Verkehr von Lagos angegriffen und von Kugeln durchsiebt wurde. Heute trägt eine Straße der von ihm erträumten Hauptstadt, die er nie Gesicht bekam, seinen Namen.

Binnen weniger Jahrzehnte wurden die Gbagyi-Siedlungen von glänzenden neuen Immobilien verdrängt, von Hochhäusern, enormen Regierungsgebäuden, Shoppingmalls und breiten Straßen, die sich wie lebende Schlangen um die Stadt winden und bis heute weiterwachsen.

Diese Stadt ist wie ein facettenreicher Avatar, der sich ständig an die Launen des vergänglichen Zeitgeistes anpasst. Wenn sich die Menschen nicht in ihren Büros aufhalten, etwa am Wochenende oder abends, werden auf dem Grün des IBB-Golfplatzes oder in den Suiten des Transcorp Hotels politische Deals verhandelt, während sich in den kleinen Konferenzräumen desselben oder eines anderen Hotels Menschen zu Dichterlesungen versammeln, auf denen Politikern die Leviten gelesen werden.

Junge Männer springen vor Sportbars aus ihren schicken Sportwagen und protzigen Jeeps, schauen Fußball, quatschen und schlürfen sündhaft teuren Champagner. In den vollen Straßen der Außenbezirke machen auf Autos montierte Lautsprecher dröhnend Reklame für alternative Allzweckmedikamente – gegen Zahnschmerzen, für mehr sexuelle Leistungsfähigkeit, zur Heilung von Krebs. Straßenartisten führen lebende Hyänen oder Krokodile vor und verkaufen nebenher Medikamente gegen neunundneunzig Gebrechen. Die Bewohner stammen aus unterschiedlichen Teilen des Landes und bemühen sich, eine gemeinsame Identität zu schaffen, und doch ist Abu­ja für jeden eine andere Stadt.

Man hat sich bisher nicht einmal auf einen Spitznamen einigen können. Bei den Einheimischen heißt die Stadt „ABJ“, nach den Konsonanten des Namens. Expats nennen sie „The Buj“. Im offiziellen Sprachgebrauch läuft sie unter „FCT: Federal Capital Territory“.

The Buj finde ich wegen der Doppeldeutigkeit interessant. Abuja ist zwar als Bürokratiezentrum geplant gewesen, hat allmählich aber auch den Ruf einer Stadt der Oberschicht, eines Tummelplatzes für Reiche. Luxusvillen und Edelwohnblocks stehen leer, weil sie für den normalen Arbeitnehmer unerschwinglich sind. Hier sind die Preise, von der Designerkleidung bis zum Wasser im Beutel, immer höher als anderswo. Und an den Wochenenden liefern sich hier junge Millionäre, viele von ihnen Politikersprösslinge, mit teuren Autos und Sportmotorrädern Wettrennen, die Reifenspuren auf dem Asphalt und in der Luft den Geruch verbrannten Gummis hinterlassen.

Ein ehemaliger Verwaltungschef der Stadt meinte einmal süffisant, Abu­ja sei nicht für die Armen erbaut worden. Manchem Bewohner steigt das zu Kopf, denn wer im Stadtzentrum oder in einem mondänen Viertel wie Maitama oder Asokoro lebt, fühlt sich als Teil der Oberschicht.

Abuja ist nicht Nigeria, sagen manche. Weder ist die Stadt organisch gewachsen, noch ist die Bevölkerung homogen, es gibt keinen Gemeinschaftsgeist. Das Stadtzentrum ist eine Welt für sich, und jeder Vorort wird von einem anderen Geist regiert, je nachdem, wer aus welchem Landesteil das Sagen hat.

Auswärtige, die es gewohnt sind, ihren Nachbarn über den Zaun oder auf der Straße einen Gruß zuzurufen, sagen gar, Abuja sei richtiggehend klassistisch. Meine Schwester lebte zehn Jahre lang in Garki, einem der piekfeinen Hauptstadtviertel. Sie konnte die Nachbarn durch den Zaun hören, sah sie allerdings nur einmal und wechselte kein einziges Wort mit ihnen. In anderen Städten des Landes wäre so etwas unvorstellbar.

Aber allmählich habe ich mich damit abgefunden, dass es Zeit braucht, bis Menschen, die aus unterschiedlichen Kulturen stammen, eine gemeinsame Kultur entwickeln, zu einem Miteinander finden.

Vor mehr als zehn Jahren hat mein Kopf zum ersten Mal diesen Ort als Heimat akzeptiert, mein Körper sich eingewöhnt, sich an das Wetter, die Atmosphäre, die diffuse, undefinierte Identität der Stadt angepasst – was wohl bereits eine Art Identität darstellt. Aber meine Träume sind weiterhin eingerahmt von den Bergen und dem Nebel von Jos. Was vermutlich in Ordnung ist. Es ist auch in Ordnung, dass Abu­ja jeden Tag anders ist. Vermutlich handelt es sich hierbei um Zahnungsschmerzen.

Im Lauf der Jahre habe ich erlebt, wie sich die Stadt und die hier lebenden Menschen verändern. Von einem Ort, in dem sie sich kurzfristig mehr schlecht als recht durchgeschlagen hatten, ehe sie nach Hause zurückkehrten, in einen Ort, der für sie Heimat ist, einen Ort, der im Verborgenen von einem kulturellen und künstlerischen Zeitgeist beschwingt ist. Wer erst einmal einen Zugang zu Abuja gefunden hat, weiß, wie man diesen tänzelnden Geist einfängt, um sich heimisch zu fühlen.

Aus dem Englischen von Susann Urban

Abubakar Adam Ibrahim ist ein Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm: „When We Were Fireflies“, Lagos (Masobe Books) 2023 (die deutsche Übersetzung soll 2024 erscheinen). Auf Deutsch liegt vor: „Wo wir stolpern und wo wir fallen“, Wien (Residenz Verlag) 2019.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.07.2023, von Abubakar Adam Ibrahim