09.02.2023

Die Albanien-Leaks

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Die Albanien-Leaks

Als iranische Hacker Tirana ins Visier nahmen und einen Dorfpriester als Spion enttarnten

von Hans-Georg Taucher

Gjirokastra, Südalbanien Hans-Georg Taucher
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Am 7. September 2022 brach Albaniens Minister­präsident Edi Rama die diplomatischen Beziehungen zu Iran ab. Die iranische Botschaft in Tirana wurde geschlossen, Diplomaten und Mitarbeiter bekamen 24 Stunden Zeit, das Land zu verlassen. Im Juli zuvor waren reihenweise Regierungsserver ausgefallen: ein Cyberangriff, gesteuert und finanziert von Teheran, wie die albanischen Behörden schließlich mit US-Hilfe herausfanden.

Das Mullahregime betrachtet Albanien neben Israel und den USA schon länger als Erzfeind – ein „kleines, aber teuflisches europäisches Land, in dem sich Amerikaner mit den Verrätern Irans gegen die Islamische Republik verschwören“, wie sich Ajatollah Chamenei ausdrückte.

Bitte was? Albanien? Das vor allem für den Import von gebrauchten Mercedes-Benz, den Export von Arbeitskraft, landschaftliche Schönheit, omnipräsenten Plastikmüll, Gastfreundschaft und neuerdings auch Kokainschmuggel berühmte Albanien – im Visier der Mullahs?

Tatsächlich ist Albanien, das 2009 der Nato beitrat, ein beflissener Partner der USA. Ein Angriff Irans auf albanische Regierungsinfrastruktur, und sei sie virtuell, ist also kein Zufall.

Und es gibt noch einen Grund für Teherans Zorn auf Tirana: In einem hermetisch abgeriegelten Camp nahe der Hafenstadt Durrës leben 3000 iranische Volksmudschaheddin mitsamt ihren Familien. Ihr erklärtes Ziel ist der Sturz der Mullahs. Nachdem es im Irak durch den wachsenden Einfluss Teherans zu brenzlig geworden war, suchte Washington händeringend ein neues Exil für die zahlenmäßig immerhin größte iranische Auslandsorganisation.

Nach zahlreichen Absagen erbarmte sich schließlich Albanien, allerdings mehr, um den USA einen Gefallen zu tun, und weniger, um Iran zu schaden. Bis September 2016 wurden die Volksmudschaheddin nach und nach in Albanien angesiedelt. Für das Weiße Haus und namentlich den damaligen Sicherheitsberater John Bolton stellte die Gruppe hinfort eine Art Exilregierung dar – den Personenkreis, aus dem man die Regierung rekrutieren würde, sobald das iranische Regime gestürzt wäre.

Aus iranischer Sicht machte sich Tirana damit zum Unterstützer von Terroristen. Teheran drohte mit Revanche – augenscheinlich wurden entsprechende Pläne in der Botschaft in Tirana ausgeheckt, weswegen schon 2018 zwei hochrangige Diplomaten ausgewiesen wurden.

Es kursierte auch das Gerücht, die Volksmudschaheddin würden in Albanien militärisch ausgerüstet und ausgebildet. Das lässt sich nicht völlig ausschließen, auch wenn ein Reporter der New York Times, der das Camp 2020 besuchte, keine Hinweise dafür fand. Auf jeden Fall ist die weitgehend isolierte Gruppe finanziell gut ausgestattet, wie sich in den Shoppingmalls von Tirana beobachten lässt.

Wie sich herausstellte, war der Cy­ber­angriff vom Juli nur die Spitze des Eisbergs. Später kam ans Licht, dass iranische Hackergruppen schon seit 2021 unentdeckt in privatwirtschaftlichen und Regierungssystemen unterwegs gewesen waren. Ihre Ernte präsentieren sie seit dem 11. September 2022 – also kurz nach dem Abbruch der Beziehungen zu Iran – auf einem Telegram-Kanal namens HomeLand Justice.

Ungefähr wöchentlich werden dort sensible Dokumente veröffentlicht – so etwa alle Kfz-Zulassungen, eine Liste der Angehörigen des Inlandsgeheimdienstes Shish mit Klarnamen sowie Kontodaten und Gehaltslisten von Privatpersonen.

Es geht also um ebenso sicherheitsrelevantes wie heikles Material, weshalb die albanische Regierung der Presse per Gesetz einen Maulkorb verpasst hat. Es gelang ihr sogar, das Thema von Facebook zu verbannen: Illegal beschaffte Informationen dürfen weder verwendet, noch darf über deren Existenz und das damit einhergehende Sicherheitsproblem berichtet werden. Ansonsten drohen empfindliche Strafen. Deshalb wird das Thema in den albanischen Medien komplett ausgeblendet.

Der Telegram-Kanal hatte Mitte Januar etwa 31 000 Abon­nen­t:in­nen – nicht besonders viele. Das dort veröffentlichte Material ist teils sehr umfangreich und erfordert weitere Recherchen, die aber kaum jemand anstellt. Die Informationen machen natürlich trotzdem die Runde. Ein Beispiel: In einem 2000-Seelen-Ort fern von Tirana kursierten Anfang Januar auf einmal PDF-Dateien, verbreitet über Whatsapp. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, die Daten von HomeLand Justice nach lokal bedeutsamen Details zu durchforsten.

In einer Datei waren die Telefonnummern von Anwohnern, die auf der Gehaltsliste des Geheimdienstes stehen, darunter war sogar der Priester, was allerdings niemanden groß wunderte. Dass aber auch die beiden Gastwirte an der Hauptstraße, Vater und Sohn, zu den Spitzeln gehören, löste bei den Dorfbewohnern mehr als nur ein Schulterzucken aus: Ein anderer Treffpunkt musste her, wo man doch abends beim Raki Dinge sagt, die nur für die Runde bestimmt sind, nicht aber für den nächsten Morgen und schon gar nicht für die Ohren in der Hauptstadt.

Erstaunlich war auch die Anzahl der inoffiziellen Mitarbeiter: Über ein Dutzend aktive „Spione“ gibt es laut dem Dokument in der kleinen Ortschaft. Allerdings weiß keiner, was der Shish überhaupt in besagtem Ort zu­tage fördern will oder wollte – kein einziger Fall von Denunziation, einer Vorladung oder eines Verhörs ist bekannt. Wenn die Polizei aus der nächsten Kreisstadt anrückt, dann geht es höchstens um einen umstrittenen Zaun oder eine ungenehmigte Mauer. Ein paar Tage lang ließen sich die denunzierten Denun­zian­ten nicht blicken, vermieden Gespräche und den abendlichen xhiro. Dann kehrte man zur Normalität zurück.

Und so funktionieren die wöchentlichen Telegram-Leaks ein bisschen wie eine Netflixserie: unterhaltsam, guter Gesprächsstoff, aber letztlich zu vorhersehbar. Das änderte sich auch nicht, als auf einmal die Kontodaten einer Großbank auftauchten, sorgfältig geordnet und mit einem HomeLand-Justice-Logo versehen.

Dort war etwa abzulesen, dass eine Ärztin aus der Kreisstadt mehrere Hunderttausend auf dem Konto hat. Jeder im Ort kennt sie und aus jeder Familie war schon einmal jemand bei ihr, mit einem 50-Euro-Schein in der Hand, um schnell und professionell behandelt zu werden. Dass Ärzte nicht gut verdienen, ist kein Geheimnis. Der Chefarzt der Unfallklinik etwa bekommt 1200 Euro im Monat – jeder im Dorf weiß, dass er sich damit seine dreistöckige Villa im Leben nicht hätte leisten können.

Für Schwarzgeld, Vetternwirtschaft oder Geldwäsche braucht es eigentlich keine weiteren Indizien – auch nicht via Telegram und Iran. Beim Anblick der großen Autos in der Kreisstadt kommt man nicht umhin, das Offensichtliche zu denken: Niemals würde sich der Porsche Cayenne oder der Land Rover mit dem offiziellen Einkommen auch nur betanken lassen. Karriere machen heißt in Albanien, dass man eben nicht von seinem Gehalt leben muss, sondern weitere Geldquellen erschließen kann.

HomeLand Justice brachte auch zutage, dass selbst der ehemalige Oppositionsführer Lulzim Basha eine halbe Million auf seinem Konto geparkt hat – da wüsste man schon ganz gern, wo die herkommen. Schließlich hat der Herr noch nicht einmal ein Amt.

Doch Erklärungen oder gar Rücktritte wird es wegen solcher Details nicht geben, nicht auf der Regierungsbank, nicht auf Gemeindeebene und nicht in den Behörden. Man könnte auch sagen, Iran hat sich verkalkuliert: Das derzeitige albanische System kann gar nicht diskreditiert werden, denn es hat keinen Kredit.

Die Albaner haben schon viel Schlimmeres erlebt, das kaum Konsequenzen hatte, jedenfalls nicht für die Profiteure und Drahtzieher. Die Explosionskatastrophe in dem Munitionslager von Gërdec zum Beispiel, bei der 26 Menschen ums Leben kamen. Oder jüngst der Skandal um die viele Mil­lio­nen Euro teure Müllverbrennungsanlage. Der Betreibervertrag läuft nächstes Jahr aus, die Anlage existiert aber noch nicht einmal, das Geld tummelt sich anderswo. Das sind richtige Skandale – im Gegensatz zu dem alltäglichen Kleinkram.

Dass 20 Prozent der EU-Fördermittel für Agrotourismus über denselben Behördentisch zurückfließen, von dem aus das Projekt genehmigt wurde, weiß hier jeder, der einen Antrag einreicht. Die Kosten – egal ob Ölmühle, Gästezimmer oder Honigproduktion – werden auf dem Papier einfach etwas hochgerechnet.

Und so schützen die Mächtigen weiterhin ihre Klientel, lassen Geschäfte aufblühen oder eingehen, Strände illegal betonieren oder illegale Strandbauten planieren – man muss sich damit arrangieren, Allianzen schmieden, teilnehmen, sich beschützen lassen. Was kann man schon tun?

Außer vielleicht zu warten, dass sich die Rahmenbedingungen ändern und wie im Kosovo seriösere Akteure die politische Bühne betreten, die es ernst meinen mit dem Aufbruch nach Europa. Diese Zukunft wird kommen, ganz bestimmt.

Die Aufmerksamkeit für die Leaks von HomeLand Justice wird früher oder später nachlassen. Die Show wird enden wie eine überdehnte TV-Serie, der keine weiteren Höhepunkte mehr einfallen.

In jedem Fall kann das iranische Regime beruhigt sein. In Albanien läuft garantiert kein Komplott gegen die Mullahs. Und selbst wenn: Die Gelder dafür würden versanden und die Umsturzpläne zugunsten von ein paar Hotelneubauten aufgegeben.

Hans-Georg Taucher ist Journalist.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.02.2023, von Hans-Georg Taucher