13.10.2022

Wenn Leistung sich nicht mehr lohnt

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Wenn Leistung sich nicht mehr lohnt

Warum wir dringend gerechtere Steuern brauchen

von Gerhard Schick

Lunita-July Dorn, Dichter und Denker, 2019, Acryl auf Leinen, 100 × 150 cm
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Ein Häuschen im Grünen – für viele Menschen ein Lebens­traum. Und wenn man fleißig arbeitet und Leistung bringt, dann sollte das schon klappen. Doch in der Realität haben die meisten Leute, die Jahrzehnte gebuckelt haben, keine Chance mehr auf ein Haus oder eine Eigentumswohnung. Immobilien sind mittlerweile viel zu teuer. Wer ein Haus geerbt oder vor Jahren günstig gekauft hat, darf sich glücklich schätzen. Auch deshalb, weil die Mieten ebenfalls steigen. Hinzu kommt die allgemeine Inflation, die für viele Familien das gewohnte Konsumniveau gefährden.

Das Beispiel mit dem Häuschen steht für eine allgemeinere Entwicklung: In unserer Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren etwas sehr Grundlegendes verändert, was nicht so offensichtlich ist wie steigende Benzinpreise oder höhere Bauzinsen. Und doch ist diese Veränderung für die grundlegende Frage, wer sich noch was leisten kann, von weitaus größerer Bedeutung.

Aus einer Gesellschaft, die sich weitgehend am Gedanken der Leistungsgerechtigkeit orientierte, ist eine andere Gesellschaft geworden. Ob man arm bleibt oder reich wird, hat heutzutage viel weniger mit Arbeitseinkommen und Sparwillen zu tun als vielmehr mit leistungslosen Einkommen und Krisengewinnen.

Im Zuge der Weltfinanzkrise, die vor 15 Jahren begann, wurde der Staat zum Retter von Vermögen. Mit dem Ankauf von Bankanleihen, die niemand mehr haben wollte, waren die plötzlich wieder bei 100 Prozent ihres Nennwerts. Auch Bankaktien, die eigentlich wertlos waren, wurden auf diese Weise aufgewertet. Allein in Deutschland wurde damals mehr als 70 Milliarden Euro umverteilt – von den Steuerzahlern an Leute mit Finanzvermögen.

Anfang Juni endete ein jahrelanger Prozess um die Pleitebank Hypo Real Estate mit einer (Teil-)Entschädigung der Aktionäre, deren Anteilsscheine ohne staatliche Rettung einen Wert von null gehabt hätten. Mit Verweis auf die Gefahr eines Systemzusammenbruchs wurde das Haftungsprinzip ausgesetzt. Unverantwortliches und teils kriminelles Handeln wurde nicht sanktioniert, sondern nachträglich belohnt.

Die Übernahme der Bankschulden durch die Steuerzahler war eine der größten Umverteilungsaktionen in Friedenszeiten – natürlich zugunsten derer, die bereits große Finanzvermögen hatten. Und mit der Eurokrise folgten weitere milliardenschwere Bankenrettungen. Was 2010 als Rettung Griechenlands verkauft wurde, war ökonomisch vor allem die Rettung seiner Gläubiger. Und eine zweite Runde der Umverteilung: Wer zum richtigen Zeitpunkt Griechenland-Anleihen kaufte, konnte risikolose Rendite einstreichen.

Auch die Zinspolitik, mit der die EZB die Krise bekämpfte, trieb die Aktien- und Immobilienwerte in die Höhe. Das heißt: Wer beim Ausbruch der Eurokrise über nennenswerte Ak­tien- oder Immobilienbestände verfügte, konnte zusehen, wie sein oder ihr Vermögen in den letzten 10 Jahren immer weiter anwuchs – und das ohne jede eigene Leistung. Die ökonomische Ausnahmesituation im Gefolge der Eurokrise machte es möglich. Dabei musste man bei der Auswahl von Aktien oder Immobilien nicht mal besonders clever sein. Wenn man seine Aktien ein wenig streute – statt alles auf Wirecard zu setzen – oder irgendeine Immobilie erbte, wurde man Jahr für Jahr reicher.

Auf der anderen Seite müssen immer mehr Menschen einen immer größeren Anteil ihres Einkommens für Mietzahlungen ausgeben. Wie eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung ermittelt hat, muss in deutschen Großstädten fast jeder zweite Haushalt mehr als 30 Prozent seines Nettoeinkommens für die Bruttowarmmiete ausgeben.

Mit der Pandemie kam das nächste milliardenschwere Rettungsprogramm – und damit die dritte Welle von Zufallsgewinnen, nach Bankenrettung und Eurokrise. Besonders profitabel war das für clevere Maskenbeschaffer und Politiker oder Politikerinnen, die gegen satte Provisionen den Türöffner spielten.

Die größte Empörung lösten die Hilfszahlungen an die Automobilkonzerne VW, Mercedes und BMW aus. Diese Konzerne machten trotz der Krise Milliardengewinne, zum Teil in Rekordhöhe. Dennoch konnten sie Staatshilfen beantragen und beziehen, zum Beispiel, indem sie Kurzarbeit anmeldeten. Das bedeutete, dass sie sich die Löhne indirekt, mitunter nur für wenige Tage, vom Staat zahlen ließen. Oder besser vom Steuerzahler, denn Kurz­arbeit wird seit der Coronakrise zu einem großen Teil durch Steuern finanziert.

Die eingesparten Summen investierten die Unternehmen nicht etwa in neue Antriebstechnologien oder andere Innovationen, die Gelder gingen vielmehr in Form von Dividendenausschüttungen an die Aktionäre. Und damit nicht nur an große ausländische Fonds, sondern auch an deutsche Milliardärsfamilien. Zum Beispiel an die Quandts, die fast die Hälfte der BMW-Aktien halten. Auch diese Gewinne entstanden ohne irgendeine eigene Leistung.

Einige Politiker zeigten sich damals äußerst empört. Carsten Schneider, zu jener Zeit parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, sprach sogar von der „hässlichen Fratze des Kapitalismus.“ Doch trotz solcher Töne aus einer Partei, die schon damals Regierungsverantwortung trug, und trotz ähnlicher, wenn auch sanfterer Töne aus anderen Regierungspar­teien, können die Autokonzerne bis heute Kurzarbeit beantragen und gleichzeitig Gewinne ausschütten.

Weniger umstritten war die Stabilisierung der Finanzmärkte auf internationaler Ebene, die im März 2020 in Reaktion auf die Coronakrise durchgeführt wurde. Und das, obwohl das finanzielle Volumen dieser Stützungsmaßnahmen durch die Notenbanken das der Rettungspakete in der Finanzkrise von 2008 bei Weitem überstieg. Aber der Effekt war derselbe: Wieder konnten Menschen, die viel Geld in Wertpapiere gesteckt hatten, auf eine staatliche Rettung bauen. Und wieder wurde ihnen das Risiko abgenommen und ihre Rendite nicht angetastet.

Schon wieder erfolgte also eine Umverteilung von unten nach oben zugunsten der großen Finanzvermögen. Und erneut in Form einer leistungslosen Rendite als Folge staatlichen Handelns, mit dem eine große Finanzkrise verhindert werden sollte. Das bescherte manchen Vermögensverwaltern im Jahr 2020 eine Rekordbilanz. Allein die 20 weltweit größten Hedgefonds verschafften ihren Kunden insgesamt 63,5 Milliarden US-Dollar und damit eine neue Rekordsumme.

Derzeit erleben wir eine vierte Welle, ausgelöst durch den Ukrainekrieg und die Verwerfungen an den Energiemärkten. Diesmal sind die großen Gewinner die Energiekonzerne mit „windfall profits“ in Höhe von fast 200 Milliarden Euro. Dabei hat die Bundesregierung lange, statt die Marktlagengewinne abzuschöpfen und in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, die Krisenmaßnahmen etwa mit dem Tankrabatt auch noch so gestaltet, dass sie Krisengewinnern zu noch höheren Gewinnen verhelfen. Also erneut eine Verhöhnung des Leistungsgedankens.

In jeder dieser vier Wellen hat der Staat durchaus versucht, auch Menschen mit kleinen Einkommen zu unterstützen. Doch in keinem der vier Fälle hat er es unternommen, die Krisengewinne der vorher schon extrem reichen Menschen oder Konzerne abzuschöpfen. Die überaus logische und von vielen Seiten geforderte Kompensation der milliardenschweren Bankenrettung durch eine Finanztransaktionssteuer kam ebenso wenig zustande wie eine Vermögensabgabe, um die Krisenlasten abzutragen.

Bei einem kritischen Rückblick auf die letzten 15 Jahre muss man schockiert feststellen, dass die Chance, in diesem Zeitraum reicher oder ärmer zu werden, so gut wie nichts mit realen Leistungen für diese Gesellschaft zu tun hatte (eine Ausnahme sind die For­sche­r von Biontech). Entscheidend war vielmehr, ob man zu Beginn dieses Zeitraums die richtigen Vermögenswerte in der nötigen Höhe besaß.

Wer 2012 keine Immobilie hatte, aber die letzten zehn Jahre ein Spitzeneinkommen von 100 000 Euro im Jahr bezogen und großenteils sogar gespart hat, ist im Jahr 2022 ärmer als jemand, der zu Beginn der Krise eine Wohnung in Berlin-Mitte im Wert von 400 000 Euro besaß und seitdem nichts getan hat. Der Wert dieser Immobilie hat sich ganz ohne Zutun des Eigentümers verdreifacht. Im zurückliegenden Jahrzehnt, in dem mehrere tiefe Krisen und entsprechende staatliche Rettungsprogramme aufeinander folgten, kann von Leistungsgerechtigkeit also keine Rede mehr sein.

Bleibt das naheliegende Argument, dass für den Ausgleich solcher Ungerechtigkeiten ja das allgemeine Steuerrecht da sei. Doch ein solcher Ausgleich erfolgt gerade nicht. Unser Steuerrecht ist leistungsfeindlich.

Während Einkommen, die auf Leistung basieren, wie Arbeitseinkommen oder Unternehmergewinne zu versteuern sind, werden leistungslose Erträge wie Wertzuwächse bei Immobilien (nach Ablauf der Spekulationsfrist) im deutschen Steuerrecht häufig gar nicht besteuert. Genau das wäre aber unbedingt notwendig. Gerade die Wertzuwächse bei Immobilien resultieren in hohem Maße aus öffentlichen Infrastrukturleistungen. Der 2020 verstorbene SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel hat beharrlich eine Bodenwertsteuer gefordert, um diese Renditen öffentlicher Investitionen abzuschöpfen. Eben weil sie keiner individuellen Leistung entspringen.

Auch die in der Krise erzielten Zufallsgewinne werden bisher nicht abgeschöpft. Ob man sie über sektorspezifische Maßnahmen einziehen soll oder über eine Übergewinnsteuer wie in Italien oder anderen Ländern, da­rü­ber kann man streiten. Aber dass Krisengewinne auch außerhalb des Energiebereichs abgeschöpft werden müssen, wenn der Leistungsgedanke einen Sinn behalten soll, müsste in einer Marktwirtschaft unstrittig sein. Ebenso selbstverständlich sollten Auflagen bei staatlichen Rettungsmaßnahmen sein, damit die staatlichen Hilfen nicht in den Taschen der Reichsten landen – etwa über Kurzarbeitergeld oder Bonuszahlungen an Vorstände geretteter Unternehmen.

In Deutschland hat man es nicht einmal geschafft, durch eine vernünftige Erbschaftsteuer zumindest für die nächste Generation einen Ausgleich zu schaffen. Bis heute werden die größten Erbschaften häufig niedriger besteuert als die kleinen. Im Jahr 2020 zahlten 40 Prozent der ohnehin Reichen, die in den Genuss einer Erbschaft oder Schenkung von mehr als 10 Millionen Euro kamen, auf ihre leistungslosen Zugewinne überhaupt keine Steuern. 2019 wurden die 127 größten Schenkungen in Höhe von insgesamt 12 Milliarden Euro mit weniger als 1 Prozent besteuert. Währenddessen war bei vielen kleineren Erbschaften ein Satz von 30 Prozent fällig.

Die Ungleichbehandlung bei der Erbschaftsteuer wurde von höchsten deutschen Gerichten wiederholt als verfassungswidrig qualifiziert. Das gilt auch für die heute geltenden Regeln. Doch diese höchstinstanzliche Rechtsprechung wird aufgrund eines Nichtanwendungserlasses durch das Bundesfinanzministerium (unter dem heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz) einfach ignoriert. Das bedeutet, dass auf das Erbe von einem Mietshaus mit fünf Wohnungen Steuern fällig sind. Erbt jemand dagegen 3000 Wohnungen, wird das als „Wohnungsunternehmen“ bewertet, und es werden keine Steuern fällig.

Das verstößt gegen unsere Verfassung, doch behoben wird der Missstand bis heute nicht. Mit dem Schutz von Superreichen wird in diesem Fall nicht nur der Leistungsgedanke mit Füßen getreten, sondern auch unser Grundgesetz. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Dabei wäre eine faire Erbschaftsteuer, die Superreiche nicht privilegiert, gerade in diesen Zeiten zwingend erforderlich. Und auch ein FDP-Finanzminister müsste eine Maßnahme befürworten, die zum einen für mehr Leistungsgerechtigkeit sorgen und zum anderen mit Milliarden Mehreinnahmen zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beitragen würde.

Der alte marktliberale Schlachtruf „Leistung muss sich lohnen“ hat eine neue, progressive Bedeutung gewonnen. Früher diente er Ordoliberalen wie Neoliberalen als Argument gegen zu hohe Einkommensteuersätze und sozialistische Verstaatlichungskon­zepte. Heute richtet sich der Satz gegen die Klien­tel­in­te­ressen der leistungslos Vermögenden. Und gegen einen Staat, der sich in jeder neuen Krise zu Rettungsmaßnahmen gedrängt sieht, die auf eine massive Umverteilung von unten nach oben hinauslaufen, weil sie Verluste sozialisieren und Gewinne privatisieren.

Die Frage ist, ob die jetzige Ampel-Regierung den Leistungsgedanken wieder in dem Sinne interpretiert, der grundlegend für eine marktwirtschaftliche Ordnung ist. Rhetorisch tun das alle drei Regierungsparteien. Doch bisher ist keine einzige der dazu erforderlichen politischen Korrekturen in Sicht.

Bei den meisten blockiert die FDP. Sie muss sich entscheiden, wo sie steht: auf der Seite derjenigen, die von ihren leistungslosen Einkommen in Millionen- oder Milliardenhöhe nichts abgeben wollen – oder auf der Seite der gesellschaftlichen Leistungsträger, die mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit heute kein Eigenheim mehr erstehen können. Und dazu ihren Wohlstand durch die aktuelle Krise gefährdet sehen.

Gerhard Schick ist Vorstand der Bürgerbewegung Finanz­wende.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.10.2022, von Gerhard Schick