11.08.2022

Das Recht auf Bart

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Das Recht auf Bart

Wofür die Kellner von Paris 1907 streikten

von Mathieu Colloghan

Rufai Zakari, Pinky Mood, 2021, 104 × 92 cm
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Bärte sind eine ernste Angelegenheit. Guy de Maupassant ließ die Heldin seiner Kurzgeschichte „Der Schnurrbart“ sagen: „Wahrhaftig, ein Mann ohne Schnurrbart ist gar kein Mann mehr. Der Schnurrbart ist für ein männliches Gesicht unentbehrlich. Du kannst Dir gar nicht denken, wie diese kleine Haarbürste über der Lippe wichtig ist für das Auge und für die Beziehung der Gatten zueinander.“

Besser als der Singular steht dem Bart allerdings der Plural zu Gesicht, denn es gibt ihn in einer komplizierten Vielzahl von Abwandlungen und Untergattungen: Walrossschnurrbart, volkstümlicher Schnauzer, Rauschebart, aristokratischer Spitzbart oder mit Pomade modellierter Zwirbelbart. Es wurde sogar untersucht, ob Diktatoren besonders zu Schnurrbärten neigen. Ein schlüssiger Beweis fand sich dafür nicht: Dass 42 Prozent aller Potentaten sich Haare unter der Nase sprießen ließen, war in vielen Fällen schlicht auf die landesüblichen Sitten und Gebräuche zurückzuführen.

Am 17. April 1907 fielen französische Truppen in die marokkanische Stadt Oujda ein, Rudyard Kipling erhielt den Literaturnobelpreis, und die Pariserinnen und Pariser strömten in Scharen auf die großen Boulevards, um auf den Café- und Bistroterrassen den ersten warmen Frühlingstag zu genießen. Genau dort begann Punkt 18.30 Uhr der sogenannte Schnurrbartstreik. Die Kellner hörten einfach auf, Bestellungen entgegenzunehmen und die Gäste abzukassieren.

Im Café de la Paix wurde die Terrasse geschlossen und der Ausschank beendet, das Eisengitter des Café Riche wurde heruntergelassen, und im L’International wurde den Kunden das Licht abgedreht, da sie ohnehin nicht mehr bedient werden konnten. Die Stühle wurden hochgestellt. Im Bahnhofsbuffet der Gare de Lyon wurde kein einziges Glas Wein mehr kredenzt, im Café Cardinal kein Champagner mehr entkorkt, und im L’Américain blieben die Tische unabgeräumt.

Unter den ungläubigen und amüsierten Blicken der Kundschaft fanden sich die Kellner auf dem Trottoir zu kleinen Gruppen zusammen. Es war der Auftakt zum Streik der „ouvriers limonadiers restaurateurs“, wie sie beim Gewerkschaftsbund Confédération générale du travail (CGT) hießen – also der Schankwirtschafts- und Gas­tro­no­mie­beschäftigten.

Tags darauf machte die Presse sich lauthals über ihre Forderungen lustig: Die Kellner verlangten, einen Bart tragen zu dürfen! Das war zu köstlich. Bis dahin kannte man soziales Aufbegehren nur von Bergleuten, Eisenbahnern und den Arbeitern der Pariser Elektrizitätswerke. Jetzt stellten auf einmal auch die Bäckergesellen Forderungen. Und die Fleischerjungen. Beamte und Lehrer beanspruchten das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Kurz zuvor hatten sogar die Lumpensammler eine Gewerkschaft gegründet.

Doch das Belustigtsein wich der Angst, handelte es sich doch nicht nur um ein spontanes Strohfeuer, sondern um eine minutiös geplante Aktion. Um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man ein Jahr zurückgehen: 1906 hatte sich in den Kohlegruben von Courrières (Département Pas-de-Calais) eine gewaltige Explosion ereignet, bei der mehrere Schächte zerstört wurden und über tausend Menschen ihr Leben verloren. Die Rettungsarbeiten verliefen schleppend. Drei Tage nach der Katastrophe beschloss die Direk­tion der Grubengesellschaft, in drei Schächten die brennenden Stollen zuzumauern, um den finanziellen Schaden zu begrenzen. Für die darin verschütteten Bergleute bedeutete es den sicheren Tod.

Die Wut war unermesslich. Es formierte sich eine soziale Bewegung von historischer Größe und Radikalität. Die Regierung setzte Polizei und Armee ein, um sie zu unterdrücken; Protestierende wurden von der Justiz abgeurteilt. Doch es half alles nichts: Am Ende gab die Grubenleitung nach und erklärte sich bereit, die Sicherheitsvorkehrungen zu verstärken und die Familien der Opfer zu entschädigen.

Um einen sozialen Flächenbrand zu verhindern, erfüllte die Regierung von Ferdinand Sar­rien (Parti Radical) eine der wichtigsten Forderungen der Arbeiterbewegung neben dem Achtstundentag: die wöchentliche Ruhezeit. Das hatte eine große symbolische und emanzipatorische Dimension: Das Los der Arbeiter sollte nicht bloß aus arbeiten, schlafen und wieder arbeiten bestehen.

Doch die Hoffnungen, die die Regierung mit der Ankündigung der wöchentlichen Ruhezeit geweckt hatten, wurden umgehend enttäuscht: In der Nationalversammlung stutzte der Parti Radical das Vorhaben systematisch zurecht. Übrig blieben ein paar Ruhetage, die quartalsweise und kumuliert in Anspruch genommen werden mussten, an zahlreiche Bedingungen geknüpft waren und nur in bestimmten Branchen gelten sollten. Obendrein nutzten die Arbeitgeber die Gelegenheit, bereits beschlossene Vereinbarungen wieder infrage zu stellen.

Für Angestellte in der Gastronomie war keine wöchentliche Ruhezeit in Sicht, und auch von den hart erkämpften Tarifabsprachen wollten die Arbeitgeber nichts mehr wissen. Die Vergütung regelte jeder Caféhausbesitzer für sich, was meist auf die Rückkehr auf die früheren Arbeitsbedingungen hinauslief, also zu extremer Ausbeutung: Der ouvrier limonadier restaurateur erschien morgens in Schürze und Gilet, um sich für den Tag zu verdingen.

Wenn der Wirt es wollte, dauerte der Arbeitstag 20 Stunden. Am Abend erhielt er keinen fixen Lohn, sondern nur sein Trinkgeld – oder auch nur einen Bruchteil davon. Denn während der Arbeit hatten die Kellner die Trinkgelder in eine Geldbüchse, den sogenannten tronc – auf dem Tresen zu stecken, die nach Feierabend vom Wirt geöffnet wurde. Der nahm sich zuerst seinen Anteil (5 bis 25 Prozent des Gesamtbetrags) und zusätzlich die Gemeinkosten für all das, mit dem ein guter Limonadier den Gästen zu Diensten sein musste, wie Streichhölzer, Briefpapier, Zahnstocher und Tageszeitungen.

Abgezogen wurde außerdem la casse (die Scherben), die Kosten für zu Bruch gegangenes Geschirr, und die Verluste durch Zechpreller. Die Chefs der großen Brasserien drängten den Kellnern zusätzlich einen commis oder omnibus (Gehilfen) auf, für dessen Lohn und Verpflegung sie selbst aufkommen mussten.

Sabotage durch Ehrlichkeit

Was nach den ganzen Abzügen übrig blieb, wurde nach einem komplizierten Schlüssel unter den Kellnern verteilt. An schlechten Tagen arbeiteten die Limonadiers für lau. An Beschäftigungsgarantien, Urlaub und soziale Absicherung war ohnehin nicht zu denken. Wer der Unsicherheit und dem Stress nicht standhielt, hatte in diesem Metier keine Zukunft.

Bei ihrem Kongress in Bourges hatte die CGT bereits im September 1904 beschlossen, es nicht widerstandslos hinzunehmen, falls die Nationalversammlung den Gesetzesentwurf über die wöchentliche Ruhezeit nicht für alle Branchen verabschieden sollte. Man entschied, den Kampf in der Gastronomie auszufechten. Dabei setzte die Gewerkschaft auf den Überraschungseffekt und bereitete die Mobilmachung in aller Heimlichkeit vor. Denn die Arbeitgeber entließen Beschäftigte, die sie der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft verdächtigten, ersetzten Streikende durch neues Personal und erkannten weder die CGT noch ihre Aktionen oder Tarifforderungen an.

Die Gewerkschaften der Lebensmittelbranche erhielten einen Fragebogen. Darin wurde abgefragt, wie viele Mitglieder zum Streik bereit wären, wie sie vorgehen wollten (im Rahmen der Gesetze oder mit Gewalt?) und welche konkreten Forderungen sie stellten. Die ausgefüllten Fragebögen sollten weder an die Bourse du Travail (Gewerkschaftshaus) noch an die CGT geschickt werden, sondern direkt an einen gewissen Monsieur Legrand. Er war bei der Polizei ein unbeschriebenes Blatt und wohnte in der Rue Bichat Nummer 20, einen Steinwurf entfernt von dem damals im Bau befindlichen Sitz der CGT. Die Übermittlung an die Gewerkschaften erfolgte per Bote an die Privatadresse eines Mitglieds – ohne Absender, Briefkopf oder Unterschrift. In dem Schreiben stand lediglich folgende Mitteilung: „Ware an diesem Tag liefern.“ Es war der Startschuss für die Arbeitsniederlegung.

Den Anfang machten am 11. April die Bäckergesellen. Sie legten die Arbeit nieder und ließen es die ganze Stadt spüren. Der Polizeipräfekt von Paris, Louis Lépine, untersagte den Streikenden friedlich zu demonstrieren. Doch die CGT fand Ausweichmanöver. So kündigte sie etwa mit viel Tamtam eine Kundgebung auf der Place de la Concorde an, wohin der Präfekt sogleich eilte, begleitet von einem Tross Journalisten und Handlangern, während die Kundgebung ganz woanders stattfand.

Jean Amédée Bousquet und Auguste Adolphe Savoie, die Vorsitzenden des Gewerkschaftsbunds der Lebensmittelarbeiter (Fédération des syndicats de l’alimentation), schlenderten unauffällig bis zur Ecke Avenue Marigny/Champs-Élysées. Um Punkt 10 Uhr holten sie zwei Schilder mit der Aufschrift „Die Bäcker streiken“ und „Es lebe die wöchentliche Ruhezeit“ hervor, die sie unter ihren Gehröcken versteckt hatten, traten vom Bürgersteig auf die Straße und bogen in die Rue Royale ein.

Aus allen Richtungen schlossen sich scheinbar flanierende Passanten an, die auf einmal Fahnen und Transparente aus ihren Taschen zogen und sich zur Verblüffung der Gendarmen binnen weniger Minuten zu einem 3000-köpfigen Demonstrationszug formierten. Nach vereinzelten Zusammenstößen mit der Polizei war der Zug einigermaßen in Unordnung geraten, als er an der Bourse du Travail ankam. Schon bald trafen die ebenfalls streikenden kleinen Angestellten ein. Nebenan versammelten sich die Raffineure, die in der Zuckerherstellung arbeiteten. In anderen Sälen der Bourse du Travail trafen sich weitere Gewerkschaften aus der Lebensmittelbranche. Die Bourse du Travail platzte aus allen Nähten, die Säle waren brechend voll; viele mussten von den Gängen aus zuhören. Der Streik hatte begonnen.

Am Tag darauf empfing Georges Clemenceau, Premierminister und Innenminister in Personalunion, eine Abordnung der streikenden Bäckergesellen. Er sagte ihnen Unterstützung zu und legte den Bäckereibesitzern eine Schlichtung nahe. Parallel sorgte er dafür, dass die Hauptstadt von Betrieben aus den umliegenden Départements beliefert wurde. Es musste um jeden Preis sichergestellt werden, dass die Pariserinnen und Pariser ihr tägliches Baguette bekamen. Denn jeder führende Politiker wusste: Brotknappheit löst Volksaufstände aus.

Clemenceau war eine ambivalente Figur. Der einstige Unterstützer des Sozialisten Auguste Blanqui und Freund der Kommunardin und Anarchistin Louise Michel (1830–1905) vertrat früher antiklerikale und antikolonialistische Posi­tio­nen, machte sich für die Meinungsfreiheit stark und war überzeugter Dreyfusianer. Später jedoch wurde er zum Fürsprecher des reaktionären Parti de l’ordre (Ordnungspartei) und ahndete jede antimilitaristische Äußerung mit Gefängnisstrafen. Er erließ die ersten Gesetze zur Überwachung von Sinti und Roma, ließ Gewerkschaftsaktionen blutig niederschlagen und sogar auf Frauen und Kinder schießen und schleuste Agents Provocateurs und Maulwürfe in die linke Bewegung ein.

Doch 1907 empfing Clemenceau die Arbeiter der Bäckereibetriebe und unterstützte ihre Forderung nach Verhandlungen mit den Arbeitgebern. Diese heuerten jedoch lieber Bäcker im Ausland an und produzierten unter Polizeischutz weiter. Die Streikenden der Bäckergewerkschaft amüsierten sich unterdessen über die unförmigen Brote, die aus den unter Personalmangel leidenden Bäckereien kamen, und stellten sie vor der Bourse du Travail aus.

Bei der ersten Versammlung der streikenden Kellner und Limonadiers am 17. April im großen Saal der Bourse du Travail war die Stimmung aufgeheizt. Die Teilnehmer standen bis auf die Korridore, Journalisten wurden des Saals verwiesen. Auf dem Podium verlas der Gewerkschaftsführer Eugène Protat die Forderungen: wöchentliche Ruhezeit, Abschaffung des tronc und der casse, Anerkennung der Gewerkschaft und das Recht, einen Bart zu tragen.

In einem anderen Saal stimmten die Hotelpagen für Streik. In einem weiteren versammelten sich die Metzgerburschen. Auch die Tellerwäscher hielten ihre erste Sitzung ab. Zum Schluss wurden revolutionäre Gesänge angestimmt und „Vive la grève!“ skandiert: Es lebe der Streik!

Bei der Versammlung der Raffineure kam es zu Tumulten. Als der Genosse Métivier am Rednerpult beschrieb, unter welchem Druck die streikenden Frauen stehen, wurde er von lautem Geschrei unterbrochen. Ein Polizist in Zivil, der heimlich die Namen der Redner notierte, wurde enttarnt, verprügelt und aus dem Gebäude geworfen. Neu ankommende Gruppen von Streikenden wurden mit Beifall begrüßt. Die Generalversammlung der ouvriers limonadiers restaurateurs sprach sich mit überwältigender Mehrheit für den Streik aus.

Auf der Gegenseite trat der Arbeitgeberverband der Gastwirte zusammen und zeigte sich ausgesprochen unnachgiebig. Eine Anerkennung der CGT kam überhaupt nicht infrage, wie die zu der privaten Sitzung zugelassene Rechtsaußenpresse berichtete. Probleme würden betriebsintern geregelt, ohne Tarifverträge und Branchenvereinbarungen. Die Wirte schickten mittlerweile die Commis, Dienstmädchen und alle arbeitswilligen Aushilfskräfte auf die Terrassen. Aus Italien ließ man einen ganzen Zug voller Arbeiter anreisen, die für einen Hungerlohn die Jobs der Streikenden übernahmen. Derweil erklärten manche Lokalbesitzer, sie würden ihren Betrieb eher für immer dichtmachen, als auch nur ein Jota zurückzuweichen.

Als der Besitzer des Wiener Kaffeehaus Spiess am Boulevard Montmartre davon sprach, eine Anerkennung der CGT sei doch eine Möglichkeit, den Streik zu beenden, bekam er zu hören, er sei kein richtiger Franzose und solle besser den Mund halten. Mehr Beifall fand der Inhaber des Café de la Paix, Arthur Millon, als er einen Text der Streikenden verlas. Millons Kollegen klopften sich beim Zuhören vor Lachen auf die Schenkel. Es wurde beschlossen, sich weder mit der Gewerkschaft noch mit dem Friedensrichter zu treffen, der sich auf Clemenceaus Drängen als Schlichter angeboten hatte.

Auf den Terrassen der noch geöffneten Cafés genehmigten sich die Streikenden ein Gläschen und redeten stundenlang auf die Kellner ein, die sich dem Streik nicht angeschlossen hatten. Sie lasen ihnen Flugblätter vor und riefen sie auf, ebenfalls die Arbeit niederzulegen. Der Streik weitete sich aus. In der Rue de la Chapelle wurde eine Suppenküche für die Streikenden eingerichtet. Cafés und Bäckereien erhielten Schutz durch Polizei und Militär.

Die Presse befürchtete eine Radikalisierung der Bewegung, Anfeindungen oder gar Gewalt gegen Streikbrecher. Sie berichtete von zerschlagenen Schaufenstern und Sabotageaktionen, bei denen Petroleum in Backtröge geschüttet wurde, um die ganze Tagesproduktion unbrauchbar zu machen. Die Leitartikler forderten von Polizei und Justiz entschlossenes Handeln. Die Gewerkschaftsvertreter taten, was sie tun mussten, um der Strafverfolgung zu entgehen: Sie beteuerten, dass die Sabotageakte nicht auf das Konto ihrer Mitglieder gingen.

Dabei war Sabotage sehr wohl ein Mittel des Protests in der Arbeiterbewegung. Mal wurde die Arbeit nicht ganz vorschriftsmäßig erledigt und die Produktion durch absichtliche kleine Fehler ausgebremst; bei der „Sabotage durch Ehrlichkeit“ wurden die Konsumenten bewusst auf die Mängel von Produkten aufmerksam gemacht, die man ihnen andrehte; mal traten die Beschäftigten in den Bummelstreik. Bei manchen Streiks wurde durch Entwendung oder Zerstörung der Arbeitsmittel dafür gesorgt, dass Streikbrecher ihre Arbeit nicht erledigen konnten; eine weitere Form der Sabotage war bewusster Vandalismus im Betrieb.

Eine Woche vor Beginn des Streiks stand ­Émile Pouget, eine der zentralen Führungsfiguren der CGT, der Tageszeitung Le Matin Rede und Antwort. Die Zeitung wollte wissen, was unter Sabotage zu verstehen sei und ob man aufgrund der zu erwartenden Protestaktionen der Bäckereibeschäftigten mit Vergiftungen rechnen müsse.

„Die wahren Saboteure sind die panschenden Bäckermeister“, antwortete Pouget, „die verdorbenes Mehl oder Ackerbohnen untermischen oder dem Teig mehr oder weniger gesundheitsschädliche Substanzen zugeben.“ Wenn die Bäcker­gesellen hingegen „manchmal ‚vergessen‘‚ den Teig zu säuern oder ihn zu salzen“ oder „es mit dem Salz übertreiben oder das Brot im Ofen verbrennen lassen“, schade das lediglich dem Bäcke­reiinhaber, weil das Brot unverkäuflich werde: „Den ganzen Ärger hat der Unternehmer, denn darum geht es bei Sabotageakten: Sie sollen die Arbeitgeber an ihrem Lebensnerv treffen: am Geldbeutel. Und sie richten sich gegen sie und sonst niemanden.“

Die Arbeitgeberseite versuchte derweil ihre Gegner zu spalten. Der Inhaber der Restaurantkette Bouillon Duval etwa wies seine Serviererinnen an, sich von den Streikenden an der Bourse du Travail fernzuhalten: „Die Cafékellner streiken, und offenbar vermissen sie dort die Frauen. Sie wollen ihren Spaß haben. Seien Sie auf der Hut, denn sie locken Sie nicht von ihrem Arbeitsplatz, weil sie sich für Ihre Interessen einsetzen. Sie wollen sich mit Ihnen amüsieren, und was haben Sie am Ende davon? Einen kleinen Streikenden!“

Die Streikenden klebten rote Handzettel auf die Cafétische: „Unterstützen Sie den Streik! Geben Sie kein Trinkgeld.“ In zahlreichen Lokalen bekamen die Streikbrecher den ganzen Tag keinen einzigen Sous Trinkgeld und erschienen am nächsten Tag nicht mehr zur Arbeit.

Als der Streik auf Lyon, Toulon, Nantes und Marseille übergriff, ließ Clemenceau in Paris – dem Zentrum des Geschehens – seine Bataillone aufmarschieren. Er stellte den Bäckereien Soldaten als Arbeitskräfte bereit und zahlte den städtischen Bäckern staatliche Hilfen aus. Zugleich setzte er die Arbeitgeberseite unter Druck, damit sie wenigstens einen Teil der Forderungen erfüllten, was diese in mehreren wichtigen Punkten auch taten.

Auch die Arbeitgeber der Limonadiers, die das Schlichtungsangebot des Präfekten und Clemenceaus ausgeschlagen hatten, gaben nach: Sie verzichteten auf einen Teil ihrer Beteiligung am Trinkgeld und erlaubten ihren Beschäftigten, Bärte zu tragen. Die Einsichtigeren zogen ihren Beschäftigten keine Gemeinkosten mehr ab und verabschiedeten sich gleich ganz vom Prinzip der Trinkgeldbüchse; manche erkannten sogar die Gewerkschaft an.

Zwei Tage später beschloss die Bäckergewerkschaft, den Streik nach 21 Tagen zu beenden. Ihre Hauptforderung nach einer rotierenden wöchentlichen Ruhezeit war erfüllt. Die Gewerkschaft wurde anerkannt und eine Reihe weiterer Erleichterungen gewährt. Nicht zuletzt beendete die Gewerkschaft den Streik auch, um zu verhindern, dass zu viele ihrer Mitglieder verhaftet wurden.

Nach weiteren 48 Stunden nahmen auch die Li­mo­nadiers – die sich 16 Tage im Ausstand befunden hatten – die Arbeit wieder auf. Sie hatten erreicht, dass ihnen weniger Kosten abgezogen und die Bezahlung allein aus Trinkgeldern abgeschafft wurde. Die Anerkennung der Gewerkschaft blieb ihnen allerdings ebenso verwehrt wie der arbeitsfreie Tag. Vier Jahre später organisierte die CGT erneut einen Streik und erkämpfte die ersten fixen Vergütungen, einen Mindestlohn und das Ende des Unkostenabzugs. Die Vergütung in Form von Trinkgeld wurde erst in den 1980er Jahren komplett abgeschafft.

Was hatte es aber mit der Forderung auf das Recht, einen Bart zu tragen, auf sich? Dieses von der Rechten verspottete Anliegen hatte eine große symbolische Bedeutung. Damals ließen die Franzosen stolz ihr Gesichtshaar sprießen, und dafür gab es immer ein prominentes Vorbild: Clemenceau war berühmt für seinen buschigen Walrossschnurrbart, Ex-Premier Combes trug ein Ziegenbärtchen, der Anarchosyndikalist Georges Yvetot einen Schnurrbart mit aufgestellten Bartspitzen, der Sozialist und Historiker Jean Jaurès favorisierte den seriösen Vollbart und Marschall de Mac-Mahon eine Kombination aus Schnurr- und Kinnbart. Bei Gendarmen war der Bart sogar Vorschrift.

Es ist nicht zu weit hergeholt zu sagen, dass der Bart den Mann damals überhaupt erst zum Mann machte – und damit zum erwachsenen und mündigen Bürger. Bartlos waren nur die Kinder, die Unmündigen. Hausangestellten und Kellnern war die Barttracht sogar vertraglich untersagt, und wie lang ihre Koteletten sein durften, wurde zentimetergenau festgelegt. Die Botschaft war unmissverständlich: Ihr seid nicht unsere Brüder, sondern unsere Domestiken.

Auch die weiblichen Hausangestellten durften mit ihren Haaren nicht machen, was sie wollten: Während bei den Damen aus der Bourgeoisie lockere, voluminöse Frisuren und widerspenstige Mähnen in Mode waren, musste deren Haar eng anliegen und bedeckt sein.

Schon zu Beginn 20. Jahrhunderts stellte die Arbeiterbewegung also neben sozialen Forderungen auch die Forderung nach der Emanzipation des Körpers.

Quellen: Le Temps, Le Matin, L’intransigeant, La Presse, La Croix, L’humanité, L’Écho de Paris, L’Aurore aus dem Zeitraum vom 11. April bis 4. Mai 1907; Grégoire Fleurot, Aurélia Morvan, Mathieu Perisse und Agathe Ranc, „Un bon dictateur doit-il porter la mous­tache?“, Slate.fr, 8. März 2012; Guy de Maupassant, „La Moustache“, Gil Blas, 31. Juli 1883. Mein Dank gilt Guillaume Davranche, dem Autor des Buchs „Trop jeunes pour mourir“, und Selda Canan für ihre Ratschläge.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Mathieu Colloghan ist Zeichner.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2022, von Mathieu Colloghan