07.07.2022

Macron unter Zugzwang

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Macron unter Zugzwang

von Serge Halimi

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Kurz nach seinem Wiedereinzug in den Élysée-Palast im Mai hatte Präsident Emmanuel Macron selbst erklärt, man habe ihn nur mangels Alternativen gewählt. Bei den Parlamentswahlen im Juni verlor dessen Bündnis nun auch noch die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung – obwohl das Wahlrecht die Kan­di­da­ten der Regierungsfraktion begünstigt und die Wahlbeteiligung mit 47 Prozent außer­ordentlich niedrig ausfiel, so dass den Stimmen seiner wohlhabenden und älteren Klientel besonderes Gewicht zukam.

Macron wirkt überrascht und enttäuscht. Er weiß nicht mehr, was er tun soll, und wenn doch, mit wem. Seine Strategie bestand bislang darin, die Wählerschaft einzulullen und keine konkreten Versprechen zu machen. Diese Strategie ist gescheitert. Die harte Realität seiner Unbeliebtheit hat ihn jetzt eingeholt.

Wenn die Zusammensetzung der Nationalversammlung nach einer Wahl den politischen Willen der Bevölkerung deutlicher widerspiegelt, kann man das nicht einfach als „Krise“ abtun. 2017 gab es im Parlament lediglich 17 Abgeordnete von La France Insoumise (LFI), 8 Rechtsextreme und eine Grüne – das waren nur 4,5 Prozent der Sitze für drei Parteien, deren politisches Gewicht in Wahrheit viel größer war. Doch damals, so schien es, war die Welt noch in Ordnung, denn Macron konnte regieren, wie es ihm gefiel.

Jetzt ist der französische Präsident gezwungen, sich mit mehr Menschen als nur mit seinem Kabinettschef abzustimmen. Das mag vielleicht diejenigen verärgern, die darauf vertraut haben, dass er die Rente ebenso reformieren wird, wie er zuvor die Bahnbeschäftigten ihres Status beraubt, das Arbeitsrecht aufgeweicht und die Bedingungen zum Erhalt von Arbeitslosengeld verschärft hat.

Dank des von Jean-Luc Mélenchon initiierten Linksbündnisses sind die linken Parteien jetzt weitaus stärker im Parlament vertreten, LFI konnte die Zahl ihrer Abgeordneten sogar vervierfachen. Doch die Zugewinne des Rassemblement National (RN, ehemals Front National) sind noch weitaus spektakulärer: Marine Le Pens Partei hat nun zehnmal so viele Abgeordnete wie zuvor. Dieses Ergebnis verdankt sich jedoch keiner ausgeklügelten Strategie, sondern zeugt einfach von einer stetig wachsenden Anhängerschaft.

Mit jeder Wahl baut der RN seine Basis aus und normalisiert sich weiter. Zwar blieb der Partei bei Parlamentswahlen bislang der Durchbruch versagt, doch nun hat sie ihr Ergebnis verdoppelt: Innerhalb von fünf Jahren von 8,75 auf 17,3 Prozent. Bereits bei der Präsidentschaftswahl hatte Marine Le Pen im zweiten Wahlgang 2,5 Millionen Stimmen mehr erhalten als 2017.

Der RN braucht keine Ausschüsse mit Fachleuten, kein Programm, keine Prominenten, die der Partei Kompetenz bescheinigen. Es reicht, einfach die Stimmen der Unzufriedenen einzusammeln; die Partei muss keine Vorschläge machen, sondern kann alles nutzen, was gerade geschieht, von der sinkenden Kaufkraft bis zum Chaos beim Finale der Champions League. Bis jetzt standen die Chancen des RN, an die Regierung oder in die Institutionen der Republik zu gelangen, so schlecht, dass ein Kreuzchen beim RN praktisch keinerlei Konsequenzen nach sich zog.

Wer Le Pen zur Gegnerin hatte, konnte sich sogar sicher sein, einen Sieg einzufahren, da viele nur an die Urnen gingen, um den RN zu verhindern. Mit seinem üblichen Zynismus zog Macron zunächst seinen Vorteil aus dieser Situation und ließ sich zweimal mit den Stimmen der Linken wählen. Dann steckte er „die extremen“ Parteien wieder in einen Topf, um einen Sieg des Linksbündnisses bei den ­Parlamentswahlen zu verhindern.

Der Mann, der 2016 erklärt hatte: „Wenn wir uns in den nächsten fünf oder zehn Jahren nicht zusammen­reißen, wird der Front National an der Regierung sein“, sitzt nun erneut im Élysée. Wo wird wohl Marine Le Pen in zehn Jahren sein?

⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Serge Halimi