13.01.2022

Brief aus Karatschi

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Brief aus Karatschi

von Alizeh Kohari

Mehrmals am Tag wird vor dem Karachi Press Club demonstriert picture alliance/ZUMAPRESS/PPI
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Der Winter hält zögerlich Einzug in Karatschi. Das mörderisch grelle Licht der Sonne wird zum milden Schein, für kurze Zeit lässt die Hitze nach. Selbst die Staubschicht, die das Gewirr aus Betondächern üblicherweise bedeckt, scheint zu funkeln. Die Stadt entspannt sich: In den Straßen tauchen Karren auf, an denen man geröstete Erdnüsse und Shakarkandi (gebackene Süßkartoffeln) kaufen kann, Straßencafés öffnen ihre Terrassen. Die Wohlhabenden tummeln sich an den Wochenenden auf Hochzeiten oder fahren raus in ihre Strandhütte. Sie machen sich locker und schenken sogar Fremden ein Lächeln. Die Skandinavier haben ihr hygge, die Elite von Karatschi hat Decemberistan, eine Jahreszeit – oder eher eine Stimmung –, die von Ende November bis Ende Januar anhält.

Weil der Winter mildes Wetter mit sich bringt, ist er aber auch die Haupt-Protestsaison. Dieses Jahr ist der Unmut besonders groß. Pakistan kämpft mit einem massiven Gasmangel, die Inflationsrate nähert sich dem zweistelligen Bereich, und gegenüber dem Dollar verliert die Rupie stetig an Wert. Die Behörden, die Karatschi in ein Paradies für das globale Kapital verwandeln wollen, lassen Elendsviertel abreißen, die Gewalt gegen Frauen und religiöse Minderheiten hat neue Ausmaße angenommen.

Im Juli wurde in einem Nobelviertel von Islamabad eine junge Frau enthauptet, das Land war im Schock. Und im November lynchte ein Mob in Sialkot, einer Industriestadt im Nordosten Pakistans, einen Mann aus Sri Lanka. Man hatte ihn fälschlicherweise der Blasphemie beschuldigt.

Ich denke zurzeit viel über Proteste nach, darüber, was sie ausdrücken und was sie erreichen können. In Karatschi gibt es eine klare Protesthierarchie. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie in meiner Jugend die ganze Stadt binnen Minuten stillgelegt wurde, sobald die Regionalpartei zum Streik aufrief. Läden wurden verrammelt, die Schule fiel aus, die Straßen leerten sich, es herrschte Angst und Schrecken. Es waren Machtdemonstrationen: Um dem Rest des Landes ihre Stärke zu zeigen, riefen die Machthaber von Karatschi zum Streik auf.

Als ich anfing, als Journalistin zu arbeiten, gehörten diese Streikaufrufe bereits größtenteils der Vergangenheit an. Die politischen Parteien waren zersplittert, ihre Führer ins Exil getrieben und noch mächtigere Strippenzieher an ihre Stelle getreten – das Militär. Bald allerdings übernahmen andere Gruppen – Oppositionsparteien, reli­giö­se Aktivisten – die Strategie der Streikaufrufe. Als ich vor ein paar Jahren für eine Recherche in Lahore war, saß ich 16 Stunden im Auto am Stadtrand fest, weil Demonstranten, die gegen Blasphemie protestierten, alle großen Zufahrtsstraßen blockiert hatten.

Meinen ersten Job hatte ich bei einer Zeitung, deren Redaktion im Herzen von Karatschi lag, in einem Protzbau mit eigener Druckerei. Jeden Abend, wenn die Druckmaschinen im Keller zu rattern begannen, zitterten auch unsere Schreibtische zwei Stockwerke darüber. Sobald die Re­dak­teu­r:in­nen ihre Geschichten abgeliefert hatten, verzogen sie sich in den Karachi Press Club ein paar Straßen weiter. Dort verbrachten sie den Abend bis in die Nacht hinein bei Chai und Zigaretten und tauschten den neusten Klatsch und Tratsch mit den Kol­le­g:in­nen anderer Blätter aus. Tagsüber trafen sie im Press Club ihre Quellen. (Ob sie je nach Hause gingen, weiß ich nicht.)

Der Karachi Press Club wurde 1958 gegründet und ist eine geschichtsträchtige Institution, ein Bollwerk bürgerlicher Freiheit. Lange durften Jour­na­lis­t:in­nen vom Staatsfernsehen nicht Mitglied werden. Selbst auf dem Höhepunkt der Islamisierung in den 1980er Jahren, so erinnern sich altgediente Kollegen, blieb die Cafeteria auch während des Ramadan offen. Viele Arbeitskämpfe von Medienschaffenden, wie etwa der berühmte Lohnstreik von 1970, nahmen im Club ihren Ausgang. Bürgerrechtsorganisationen halten hier häufig ihre Pressekonferenzen ab.

Seit den 1990er Jahren zieht der Karachi Press Club aber auch alle möglichen anderen Proteste an. Die Demos finden direkt vor seinen Toren statt – mindestens fünf oder sechs am Tag. Und wenn die politische Situation aufgeheizt ist – die Außentemperaturen aber nicht mehr so drückend, so wie jetzt –, sind es gern auch mal zehn oder zwölf.

Alles ist dabei, vom Einzelkämpfer im Anzug, der gegen seine unrechtmäßige Entlassung bei einer Bank drei Monate Mahnwache hält, bis zu Studierenden, die zu Hunderten trommelnd und Parolen brüllend die Aufhebung des 35 Jahre alten Verbots von Studentenvertretungen fordern. Manche versammeln sich aus Solidarität, um ihre Betroffenheit und Empörung über Unrecht anderswo im Land oder in der Welt kundzutun. Andere haben ein persönlicheres Anliegen: etwa die Familien derjenigen, die der Staat hat „verschwinden“ lassen. Sie fordern, dass ihre Angehörigen zumindest ein ordentliches Gerichtsverfahren bekommen. Wenn ihr Protest zu laut wird, kann es passieren, dass auch sie einfach verschwinden.

Warum aber der Press Club? Er zieht die schwächsten Bewohner Kara­tschis an, diejenigen, denen die Macht fehlt, die Stadt durch Streiks und Blockaden lahmzulegen oder den gleichgültigen Staat anderweitig herauszufordern. Ein paar Zeilen in der Zeitung, ein kurzer Fernsehbericht, so glauben sie, könnte vielleicht die Aufmerksamkeit eines Mächtigen erregen und ihn zum Handeln bewegen.

Aber es ist auch ein Armutszeugnis für die Jour­na­lis­t:in­nen von heute, dass die Protestierenden ihnen buchstäblich die Tür einrennen müssen, damit über sie berichtet wird. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang, so wird erzählt, als in den lokalen Tageszeitungen von Karatschi immer mehr Fotos abgedruckt wurden. Weil viele Fotografen zu faul waren, durch die Stadt zu fahren, bestellten sie die Prot­ago­nis­t:in­nen ihrer Geschichten stattdessen in den Club. Das sprach sich herum: Wer wollte, dass die Zeitungen über die selbst erlittene Ungerechtigkeit berichteten, musste zum Press Club gehen.

Vor ein paar Jahren unterhielt ich mich mit Muzaffar, der seit über 20 Jahren als Wachmann für den Press Club arbeitet: Er ist quasi der Gatekeeper der Gatekeeper, derjenige, der den Zugang zu den Medien überwacht, die wiederum entscheiden, welche Information berichtenswert ist. Davor war er Büffelhirte gewesen.

Damals ging ein Foto von Muzaffar durch die sozialen Medien: Er hatte kurz zuvor einen Mann davon abgehalten, sich selbst anzuzünden, und alle feierten ihn als Helden. Als ich ihn drängte, mir davon zu erzählen, wollte er zuerst nicht. Dann aber berichtete er doch: Der Mann hatte in einem parkenden Auto gesessen und heftig geweint und geklagt, er werde von der Polizei schikaniert. Neben ihm saßen seine zwei kleinen Kinder, denen er schluchzend die Hände auf die Köpfe legte. Als er begann, sie mit Benzin zu übergießen, stürzte sich Muzaffar auf ihn, zog ihn aus dem Auto und entriss ihm die Schachtel mit den Streichhölzern.

„Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.“ Muzzafar selbst sieht sich nicht als Held.

Seit zwei Jahrzehnten hat er die Missstände in Karatschi aus der ersten Reihe beobachtet. Er hat gesehen, wie die Sicherheitskräfte protestierende Krankenschwestern und Leh­re­r:in­nen mit Wasser aus Feuerwehrschläuchen auseinandertrieben oder wie Stu­den­t:in­nen ohne jeden Grund in Polizeifahrzeuge gezerrt wurden. Er hat gesehen, wie sich Ak­ti­vis­t:in­nen korrumpieren ließen und die gute Sache verrieten und wie Hungerstreikende sinnlos ihr Leben aufs Spiel setzten.

Im Winter 2018 bewachte er die Tür, als 1700 Hafenarbeiter ein Protestcamp vor dem Press Club errichteten, um gegen die Verlagerung von Arbeitsplätzen nach China zu demonstrieren. 185 Tage hielten sie die Stellung, es war die wahrscheinlich längste Demonstration in der Geschichte Karatschis.

In den letzten Jahren sind es allerdings vor allem die Medienschaffenden selbst, die protestieren. Denn die Pressefreiheit in Pakistan hat massiv gelitten, und die Medienbranche zeigt auch intern Zerfallserscheinungen – allein 2019 wurden mehr als 3000 Medienschaffende entlassen. Im vergangenen Jahr landete das Land auf dem Press Freedom Index von Reporter ohne Grenzen auf Platz 145.

Die Medienleute demonstrieren gegen Lohnkürzungen, die Entführung und Einschüchterung staatskritischer Kol­le­g:in­nen oder dagegen, dass Live­nach­richten mitten in der Übertragung unterbrochen werden. Die denkwürdigste Aktion fand 2018 statt, als sich Pres­se­ver­tre­te­r:in­nen auf den Treppen des pakistanischen Parlaments versammelten, um Pakoras (frittierte Teigtaschen) zu braten. Die Aussage: Es sei leichter, seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Streetfood zu verdienen als mit Journalismus.

Mitte Dezember organisierten Ak­ti­vis­t:in­nen in Karatschi eine Klimademo. Sie protestierten gegen das Verklappen von Industrieabfällen im Meer, die Zerstörung des maritimen Lebens, die Abholzung der Mangrovenwälder und die Zersiedelung der Küste.

Statt die Kundgebung vor dem Press Club abzuhalten, beschloss man, zum Bilawal House zu marschieren, der Zentrale der Pakistan Peoples Party (PPP), die die Provinzregierung stellt. Doch die Demonstranten wurden von einem massiven Polizeiaufgebot eingekesselt. Nach Angaben der Initiatoren war in der Nacht zuvor sogar ein Mitglied des Organisationsteams – eine trans Frau – von der Polizei entführt, verhört, vergewaltigt und gefoltert worden, um ihr Informationen über die Kundgebung und geplante Redebreiträge abzupressen.

Angesichts dieses grausamen Übergriffs – was blieb den Ak­ti­vis­t:in­nen anderes übrig, als weiter zu demonstrieren? Und so gingen sie zurück zum Karachi Press Club.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Alizeh Kohari berichtet aus Karatschi und Mexico City. Ihre Reportagen erschienen bisher unter anderem in Harper’s, Wired und The Baffler.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Alizeh Kohari