07.10.2021

Mörder in Uniform

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Mörder in Uniform

von Karen Naundorf

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An dem Tag, an dem wir zum ersten Mal nach Rojas fahren, ist der Himmel außer sich. Wütend stürzen Unmengen von Wasser auf die Landstraße, Blitze entladen sich direkt neben uns auf den Feldern der Pampa. Auch während des Gedenkgottesdienstes für Úrsula Bahillo leuchten die Blitze durch die Kirchenfenster, will der Himmel sich nicht beruhigen.

Warum sollte er auch? Úrsula ist tot, ermordet von ihrem Exfreund, einem Polizisten. Und sie könnte noch leben. Denn Úrsula hatte alles richtig gemacht: Sie hatte Anzeige erstattet, dreimal sogar. Und sie hatte bei Social Media um Hilfe gerufen. Etwa bei Instagram: „Si no vuelvo, rompan todo.“ Auf Deutsch: „Wenn ich nicht zurückkomme, schlagt alles kurz und klein.“

Sieben Monate sind seit dem Mord vergangen. Úrsulas Mutter hat sich den Satz auf den rechten Unterarm tätowiert. „Es geht nicht darum, Flaggen, Streifenwagen, Blumenkübel, Stühle kaputtzumachen. Die Strukturen müssen zerschlagen werden. Die Frauen werden nicht gehört. Wenn wir uns beschweren, heißt es, wir sind hysterisch. Wenn wir Anzeige erstatten, passiert nichts, oder sie nehmen die Anzeige nicht einmal auf.“ Das höre ich seit Jahren immer wieder, wenn ich über Frauenmorde berichte. „Der Fall Úr­su­la ist die Regel, nicht die Ausnahme“, sagte auch die Frauenministerin nach der Tat. Damit sprach eine Regierungsvertreterin aus, was vox populi ist: Die Institutionen des Staats versagen, sind Teil des Problems.

Wo liegen die Systemfehler? Warum passiert es immer wieder?

Seit Jahren berichte ich über Gewalt gegen Frauen in Südamerika, zurzeit in Zusammenarbeit mit der Fotografin Sarah Pabst. Alle sechs Frauenmorde, die wir in diesen Wochen dokumentieren, haben etwas gemein: Die Täter waren Polizisten und Ex-Polizisten. Und sie hätten verhindert werden können, wenn Justiz oder Polizei gehandelt hätten. Nach aktuellen Zahlen werden 13 Prozent der Frauenmorde in Argentinien von Angehörigen der Sicherheitskräfte begangen, 214 zwischen 2008 und 2020.

Ein Blick auf die Institutionen zeigt schnell, dass die Sicherheitskräfte ein Problem mit Gewalt gegen Frauen haben: Allein bei der Polizei in der Provinz Buenos Aires, einem Bundesland in etwa so groß wie Polen, wurden zwischen 2013 und 2020 fast 6000 Beamte wegen Gewalt gegen Frauen angezeigt. 80 Prozent dieser Beamten sind nach wie vor im Dienst.

Ende Juli habe das Sicherheitsministerium der Provinz erstmals begonnen, gezielt mit diesem Personal zu arbeiten, erklärte mir Agustina Baudino, Ende 30, Feministin, Direktorin für Gender- und Menschenrechtspolitik im Sicherheitsministerium der Provinz Buenos Aires. Dass die Polizei ein Machismusproblem hat, daran zweifelt sie nicht. Als ich sie frage, ob sie wirklich glaubt, etwas ändern zu können, antwortet sie: „Natürlich glaube ich, wir können etwas tun. Sonst können wir gleich gehen und das Licht ausschalten.“ 26 000 der 90 000 Polizisten in der Provinz Buenos Aires hätten bereits Schulungen in Gender- und Menschenrechtsthemen erhalten. Ob und was das verändert, muss sich noch zeigen. Erste Erfolge gibt es bereits: Polizeischülerinnen zeigten vor Kurzem einen Kommissar an, der ihnen riet, „mit Vorgesetzten zu ficken, um eine bessere Position zu erlangen“.

Der „Rat“ des Kommissars passt zu dem Bild, das viele Argentinier von der Polizei haben: Sie gilt als korrupte, machistische Institution, die in manchen Landesregionen Rekruten nach einer Expressausbildung von neun Monaten eine Waffe in die Hand gibt. Die Menschenrechtsorganisation CELS spricht gar von einem Repertoire gewaltsamer und missbräuchlicher Praktiken, die Polizisten häufig anwenden, darunter irreguläre Durchsuchungen, gefälschte Protokolle, Unterschlagung von Beweismitteln, rechtswidrige Gewaltanwendung. Soziale und kulturelle Faktoren wiederum „tragen dazu bei, dass gewalttätige Polizeipraktiken gegenüber Frauen angespornt und reproduziert werden“.

Eine Polizei trifft wiederum auf eine Justiz, die nicht oder nicht vollständig aufklärt. Oft, weil sie schlichtweg überlastet ist. Als wir die Staatsanwaltschaft in Morón im Großraum Buenos Aires besuchten, bearbeitete man dort gerade 8059 Fälle gleichzeitig – mit drei Staatsanwälten und acht Angestellten. In anderen Fällen verhindern kriminelle Netzwerke die Nachforschungen, insbesondere wenn Polizisten involviert sind. Immer wieder müssen wir uns fragen: Können wir wirklich berichten? Oder bringt das womöglich die Angehörigen in Gefahr?

In der Berichterstattung geht es nicht darum, mit dem Finger auf Argentinien zu zeigen. Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites Problem und Argentinien hat hohe, aber nicht die höchsten Mordraten überhaupt. Auch in Europa werden Frauen ermordet, auch in Europa läuft vieles schief. Wenn ich in meinen Reportagen dennoch Argentinien in den Fokus nehme, dann, weil es hier zwar einerseits ein Gewalt- und Machismusproblem gibt. Aber andererseits auch jene, die nach Lösungen suchen und schon viel erreicht haben.

Ich erlebe den gesellschaftlichen Wandel in Argentinien und den Kampf der Frauenbewegung seit zwei Jahrzehnten mit und denke oft: Davon könnten wir uns in Europa eine Scheibe abschneiden. Aber wenn Freunde und Bekannte meine Artikel aus Argentinien lesen, habe ich oft das Gefühl, dass sie den Kopf schütteln: „Wie furchtbar, was da im Süden alles passiert!“ Ohne ein Bewusstsein dafür zu haben, dass auch in Deutschland jeden Tag ein Mann versucht, seine (Ex-)Frau oder (Ex-)Freundin umzubringen. Auch in Deutschland fehlen Plätze in Frauen­häusern. Und Gewalt in der Partnerschaft wird oft wie ein Tabuthema behandelt.

Damit haben die Argentinierinnen definitiv gebrochen. Die Proteste der „Ni una menos“-Bewegung begannen im Jahr 2015 nach einem besonders brutalen Frauenmord, zwei Jahre vor #MeToo. Seitdem hat sich viel verändert, die Politik kann die Forderungen der Frauenbewegung nicht mehr ignorieren. Ein eigenes Ministerium für „Frauen, Gender und Vielfalt“ wurde eingerichtet. Abtreibung wurde legalisiert. Es gibt nun finanzielle Unterstützung für die Kinder ermordeter Frauen. Zwar nur in Höhe einer Mindestrente, die nicht zum Überleben reicht, aber immerhin. Alle Staatsbediensteten, auch aus Justiz und Polizei, müssen eine Fortbildung zu Gender­themen absolvieren. Dazu kommen andere fortschrittliche Gesetze wie eine Transquote im öffentlichen Dienst oder eine bessere finanzielle Unterstützung für Mütter, die nicht lange genug in die Rentenversicherung eingezahlt haben. In vielen Institutionen sind inzwischen auch Feministinnen vertreten, die Veränderungen bewirken wollen. Doch die Aufgabe ist gigantisch, und die Mordrate ist bisher noch nicht gesunken. Auch nicht die Anzahl der Femizide, die von Polizisten oder Expolizisten begangen werden.

Ausgerechnet Úrsulas Mutter vertraute der Polizei, schließlich war ihr eigener Vater Polizist gewesen. „Ich habe Úrsula immer gesagt: Wenn was ist, geh zur Polizei, dort hilft man dir!“, erklärt sie und fügt hinzu: „Frauenmorde, das war etwas, was wir nur aus dem Fernsehen kannten.“

An Weihnachten saßen Úrsula und ihr damaliger Freund, Matías Martínez, noch am Familientisch „Auf dem Stuhl neben dir saß er“, sagt Adolfo Bahillo, Úrsulas Vater, „wir haben ihm unser Zuhause geöffnet.“

Nach Úrsulas Tod erfuhren die Eltern, dass eine Exfreundin Martínez schon 2017 angezeigt hatte, weil er sie geschlagen und mit der Dienstwaffe bedroht hatte. Stellt sich die Frage: Warum war Matías Martínez Jahre später noch im Polizeidienst? Am 8. Februar tötete er Úrsula, zehn Tage später wurde er wegen der Anzeige der Exfreundin vor Gericht gestellt und bekam 4 Jahre. Hätte die Justiz schneller funktioniert: Úrsula wäre noch am Leben.

Das Gleiche gilt für ein anderes Verbrechen: Martínez missbrauchte im April 2020 ein behindertes, minderjähriges Mädchen. Der Staatsanwalt beantragte am 5. Januar 2021 die Verhaftung von Martínez. Doch erst am 11. Februar, nach dem Mord an Úrsula, wurde der Haftbefehl ausgestellt. Da war Martínez aber schon im Gefängnis. Er wurde nach dem Mord an Úrsula am Tatort verhaftet.

Adolfo Bahillo, der Vater, sagt: „Mein Lebensziel ist, dass nicht nur Mar­tí­nez für seine Tat bezahlt. Sondern alle, die Teil daran hatten, auch Richter, Polizisten und Staatsanwälte.“ Die Eltern wollen für ein neues Gesetz kämpfen, das den Namen ‚Ley Úrsula‘ tragen soll, das Úrsula-Gesetz. Ein wichtiger Bestandteil: GPS-Fußfesseln für Gewalttäter. Und Gefängnisstrafen ohne Bewährung, wenn die Täter ein Annäherungsverbot missachten. „Damit es keine weiteren Úrsulas gibt!“, sagt Bahillo.

Doch wird das wirklich etwas ändern? Gerade bei Polizisten, die, wie es in Argentinien der Fall ist, in der Regel 24 Stunden am Tag eine Dienstwaffe bei sich tragen? Am 19. September, als ich diesen Text schreibe, hat wieder ein Polizist seine Exfrau umgebracht. Er war im Dienst, fing sie mit dem Streifenwagen ab. Zwei Kollegen saßen mit ihm im Auto. Sie schritten nicht ein, als er seine Exfrau erschoss und auch nicht, als er ihren neuen Freund töten wollte, da klemmte allerdings die Waffe. Alle drei Polizisten sind nun in Haft. Als ich diese Nachricht in der Zeitung lese, muss ich an die Worte des Staatsanwalts Sergio Terrón denken, der die Ermittlungen gegen Martínez leitet: „Ich frage mich: Wen rekrutieren wir eigentlich für die Polizei?“

Wenn der Himmel den Mord heute mitgekriegt hat, müsste es heute noch gewittern.

Karen Naundorf ist Südamerikakorrespondentin des Weltreporter-Netzwerks mit Sitz in Buenos Aires. Ihre aktuelle Recherche in Zusammenarbeit mit der Fotografin Sarah Pabst wird unterstützt vom Pulitzer Center on Crisis Reporting.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.10.2021, von Karen Naundorf