08.07.2021

In den Straßen von Bogside und Shankill

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In den Straßen von Bogside und Shankill

von Hadrien Holstein

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Ostersamstag, 3. April 2021, Londonderry. Im katholischen Viertel Bogside sind die Häuser schon seit Tagen mit der irischen Trikolore oder knallgrünen Fahnen beflaggt, auf denen in weiß-goldenen Lettern der Schriftzug „Irish Repu­blic“ prangt. So wird alljährlich an den Oster­aufstand (Easter Rising) gegen die britische Herrschaft erinnert und an die Ausrufung der Republik am Ostermontag, den 24. April 1916. Fünf Tage später mussten die Unabhängigkeitskämpfer zwar schon wieder kapitulieren, doch das Ereignis selbst ging als die Geburtsstunde des „freien Irlands“ in die Geschichte ein.

Um die Mittagszeit hat strahlender Sonnenschein den dichten Morgennebel vertrieben. Etwa 50 Mitglieder der erst 2016 gegründeten linksradikalen Splitterpartei Saoradh („Befreiung“) treffen sich an der Free Derry Corner. Einst endete an dieser Straßenkreuzung das von Anwohnern zwischen 1969 und 1972 zur autonomen Zone erklärte Saor Dhoire (Freies Derry).

Heute hält hier einmal im Monat die mit der Saoradh verbündete Irish Republican Prisoner Welfare Association (IRPWA) eine Mahnwache für politisch Inhaftierte ab: „Viele Leute wissen nämlich nicht, dass etwa 30 republikanische Aktivisten nur wegen ihrer politischen Überzeugung im Knast sitzen“, erklärt der 24-jährige Declan (alle Vornamen geändert). Die Saoradh lehnt wie die paramilitärische New IRA das Karfreitagsabkommen (Good Friday Agreement) ab, mit dem der bewaffnete Nordirlandkonflikt 1998 offiziell beendet wurde.

Ostermontag, 5. April, auf dem Friedhof von Creggan. Sean, 33 Jahre, Mitglied der Saoradh-Parteiführung, steckt sich die republikanische Lilie ans Revers und schreitet die Allee hinunter zur Gruft, wo die Namen der gefallenen IRA-Kämpfer aus Derry und Umgebung in einer Roll of Honour eingraviert sind. Ein Pult mit Mikro ist aufgebaut, passend zum Anlass mit Blumen in Grün, Weiß und Orange geschmückt. Die Gedenkveranstaltung, zu der etwa hundert Teilnehmer und ein Dutzend Journalistinnen erschienen sind, beginnt bei Wind und Graupelschauern.

Ein junger Mann verliest die Unabhängigkeitserklärung von 1916. Tommy, ein 47-jähriger ehemaliger politischer Gefangener, liest eine Erklärung, die von den aktuell in Großbritannien und Irland Inhaftierten verfasst wurde. Und Sean hält eine Rede. Er verteidigt den revolutionären Kampf und verkündet das Ziel einer wiedervereinigten sozialistischen Republik Irland. Er klagt über die Repressionen gegen Saoradh-Anhänger und erklärt seine Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung. Zum Schluss erklingt die irische Hymne und die Menge zerstreut sich.

Über dem Viertel kreist ein Polizeihubschrauber. „Vier Krawallnächte in Waterside, aber für die Gedenkveranstaltung schicken sie einen Heli­kop­ter!“, kommentiert Tommy trocken. Seit einigen Tagen sind die radikalen probritischen Loyalisten in Aufruhr. Die Unruhen begannen am 30. März in Waterside, dem mehrheitlich protestantischen Stadtteil von Derry, und weiteten sich dann auf Belfast, Carrickfergus und Newtownabbey aus. Die Stimmung war seit dem Brexit ohnehin aufgeheizt. Ein Gerichtsurteil wurde dann zum zündenden Funken: Führende Parteimitglieder der republikanischen Sinn Féin hatten im Juni 2020, mitten im Lockdown, bei der Beerdigung eines Ex-IRA-Kommandanten gegen die Coronabestimmungen verstoßen und waren nicht dafür belangt worden.

Donnerstagabend, 8. April, Belfast. Im protestantischen Viertel Shankill steht seit gut einer Stunde ein Mannschaftswagen der Polizei einer Gruppe junger Loyalisten gegenüber. Langsam weicht das Fahrzeug vor den fliegenden Flaschen und Steinen zurück. Am Ende der Straße liegt das Ziel der Randalierer: zwei Tore aus Stahl, dazwischen ein Betonblock. Jeden Abend verriegelt die Polizei gegen halb elf die Tore zum katholischen Nachbarviertel. Doch wegen der jüngsten Unruhen wurden sie heute Abend schon um sieben geschlossen.

Am Vortag hatten Loyalisten ein Tor aufgebrochen und waren ins katholische Viertel eingedrungen, woraufhin es von beiden Seiten Wurfgeschosse und Molotowcocktails hagelte. Seit über zehn Jahren war es zu keinem vergleichbaren Zusammenstoß gekommen. In der Menge diskutieren mehrere vermummte Männer mit einem Bier in der Hand, einer hält demonstrativ eine britische Flagge hoch. Innerhalb einer halben Stunde treffen ein Dutzend Mannschaftswagen der Polizei zur Verstärkung ein, und das Ganze beginnt wieder von vorne: Sobald die Randalierer den gepanzerten Wagen zu nahe kommen, steigen Polizisten in Kampfmontur aus, räumen einige Steine weg, um den Weg freizumachen, und steigen wieder ein.

Im katholischen Springfield, auf der anderen Seite der Stahltore und der mit Stacheldraht bewehrten Mauern, die seit Beginn der 1970er Jahre die Wege durch Belfast beschneiden, treffen sich etwa 30 Sinn-Féin-Mitglieder, um zu beraten, wie sie die öffentliche Ordnung schützen und die jungen Leute im Zaum halten sollen. Ihrer Meinung nach mangelt es bei den Unionisten an dieser Art der so­zia­len Kontrolle. Hier ist die Lage ruhig, aber ein paar Blocks weiter sieht es schon anders aus.

Zündschnüre aus Klopapier

Die Straße weiter oben blockiert eine dichte Menge den Verkehr. Junge Republikaner liefern sich Scharmützel mit der Polizei, etwa 20 Maskierte werfen Flaschen und Steine und zünden Feuerwerkskörper. Zum ersten Mal seit sechs Jahren wird wieder ein Wasserwerfer eingesetzt. Geschützt von zwei Reihen gepanzerter Fahrzeuge, hält er die Randalierer auf Distanz.

Es ist das gleiche monotone Hin und Her wie auf der Seite der Loyalisten. Ein Jugendlicher rennt auf die Ordnungskräfte zu, schleudert ein Wurfgeschoss und wird vom Wasserwerfer zurückgetrieben. Ein Kleinbus, vermutlich geklaut, wie das Loch in der Heckscheibe vermuten lässt, fährt die Straße auf und ab. Drinnen bewegen sich mehrere vermummte Gestalten zu Technomusik, während der Fahrer kontrollierte Manöver vor der Polizeisperre vollführt. Plötzlich tauchen drei Jugendliche mit Molotowcocktails auf und mühen sich damit ab, sie anzuzünden. Als sie die Geschosse schließlich werfen, erlöschen die Zündschnüre aus Klopapier gleich wieder.

Samstagabend, 10. April, unterwegs mit Patrick, Richard, Steven und Kevin. Patrick war früher Mitglied der Irish National Liberation Army (INLA),einer Abspaltung der IRA. Er hat im Gefängnis gesessen. Heute ist er Aktivist für den politischen Arm der INLA, die Irish Republican Socialist Party (IRSP), die wie die Saoradh das Karfreitagsabkommen ablehnt. Im Auto geht es quer durch Shankill ins katholische Viertel Falls. Doch Patrick, der abgelenkt auf seinem Handy herumtippt, hat vergessen, dass die Tore um diese Zeit schon geschlossen sind. Zweimal muss er wenden, bis schließlich ein Umweg übers Stadtzentrum zum Ziel führt.

Während sich die anderen eine Zigarette anstecken und im Auto sitzenbleiben, steigt Patrick aus, klopft an eine Haustür und kommt wenige Minuten später mit einem Dutzend Plastiktüten wieder heraus, die mit Konservendosen und Cornflakes­packun­gen vollgestopft sind. Seit Ausbruch der Coronapandemie werden in den katholischen Wohnvierteln noch mehr Lebensmittel gespendet und an Bedürftige verteilt. Sogar die Schutzmasken für das medizinische Personal werden in Heimarbeit hergestellt. Die solidarische Fürsorge, die den untätigen Staat ersetzt, hat eine lange Tradition in den republikanischen Netzwerken.

Es geht weiter nach New Lodge, einem katholischen Arbeiterviertel im Belfaster Norden. Am Vortag gab es hier Zusammenstöße mit Jugendlichen aus der benachbarten loyalistischen Enklave Tiger’s Bay. Gegen halb zwölf stoßen weitere IRSP-Mitglieder dazu, dick eingemummelt gegen die nächtliche Kälte, nur ihre Augen sind zu sehen. Sie begleiten Patrick, als er auf ein Haus zugeht. Er hatte am Tag zuvor eine Auseinandersetzung mit dem Mann, der hier wohnt. Als Patrick dabei war, einen mutmaßlichen Polizeispitzel aus dem Viertel zu vertreiben, hat ihn der Anwohner als „Provie“ beleidigt. Provie ist ein Schimpfwort für Ex-IRA-Kämpfer, die zu Sinn ­Féin übergelaufen sind und damit den revolutionären Kampf aufgegeben ­haben. Mit anderen Worten: Verräter.

Hier muss also etwas klargestellt werden, sowohl um Patricks Ehre wiederherzustellen, als auch um der Bevölkerung den Unterschied zwischen Sinn Féin und IRSP ins Gedächtnis zu rufen. Patrick verlangt eine sofortige Entschuldigung. Der Mann gehorcht. „So gehe ich vor, wenn es ein Problem gibt. Ich folge den jungen Leuten, damit ich weiß, wo sie wohnen, und dann komme ich mit meinen Kameraden von der IRSP vorbei“, erklärt Patrick mit unbewegter Miene, als er zum Auto zurückkehrt.

Die Gruppe patrouilliert wahllos durch die Straßen von New Lodge. Sie stellt sicher, dass sich keine großen Menschenansammlungen bilden, dass keine Krawalle ausbrechen und dass sich niemand „antisozial“ verhält – ein vager Begriff, mit dem alles Mögliche gemeint sein kann, von Lärmbelästigung über Spritztouren in einem geklauten Auto bis hin zum Dealen von Drogen.

Um zwei Uhr morgens ist die Streife beendet, aber nicht die Arbeit von Patrick. Den restlichen Tag verbringt er als selbsternannter Sozialarbeiter. Er unterstützt die Leute im Viertel bei Behördengängen, hilft ihnen, Anträge zu stellen, etwa auf eine Sozialwohnung, oder Beschwerden einzureichen, zum Beispiel wegen gesundheitsschädigender Wohnverhältnisse. Er hilft auch bei der Streitschlichtung mit den paramilitärischen Gruppen, die so manchem Jugendlichen wegen dieses oder jenes angeblichen Vergehens mit Sanktionen drohen. Die übliche Strafe in diesen Kreisen? Kneecapping: die Kniescheibe des „Missetäters“ zertrümmern.

⇥Hadrien Holstein

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Hadrien Holstein promoviert über den Nordirlandkonflikt an der Universiät Paris-Nanterre.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2021, von Hadrien Holstein