09.09.2021

Der Weg nach ­Kabul

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Der Weg nach ­Kabul

von Serge Halimi

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Dass eine westliche Armee besiegt wird, darf nicht sein. Wenn es dennoch passiert, können nur rück­grat­lose Politiker und Helfer vor Ort schuld sein, die sich aus dem Staub machen, statt zu kämpfen. Diese Dolchstoßlegende treibt seit über einhundert Jahren das Gedankenkarussell und die Vergeltungsgelüste der Kriegstreiber an. Die Rache für eine Schmach bahnt schon den Weg zur nächsten Konfrontation.

Um das „Vietnam-Syndrom“ und vor allem das Trauma des Anschlags von Beirut am 23. Oktober 1983 vergessen zu machen, bei dem 241 US-Soldaten starben, fiel US-Präsident Ronald Reagan nur zwei Tage später über Grenada her. Worauf dürfen wir uns wohl nach den Bildern vom Kabuler Flughafen gefasst machen, die für die USA eine Erniedrigung und für diejenigen, die ihnen gedient haben, ein Grauen waren?

„Das ist das größte Debakel, das die Nato seit ihrer Gründung erleidet“, resümierte CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Der Afghanistankrieg war der erste Einsatz des atlantischen Bündnisses nach Artikel 5 des Nato-Vertrags: Ein Mitgliedstaat war am 11. September 2001 angegriffen worden (allerdings nicht von Afghanen), und die anderen Mitgliedstaaten eilten ihm zu Hilfe (siehe den Artikel von Martine Bulard auf Seite 10).

Dieser Einsatz hatte den positiven Nebeneffekt, dass er noch einmal deutlich gemacht hat: Wenn Washington und das Pentagon Militäroperationen durchführen, behandeln sie ihre Verbündeten wie ein Lehnsherr seine Vasallen, die für ihn kämpfen und sterben dürfen, aber nicht mitentscheiden sollen, ob und wann die Kampfhandlungen ein Ende haben.

Diese geballte Geringschätzung hat sogar in London, das Kränkungen dieser Art schon gewohnt ist, einiges Murren ausgelöst. In der jetzigen Situation kann man nur hoffen, dass das Fiasko in Afghanistan die Allianz nicht dazu veranlasst, ihre schwächelnden Reihen zu schließen und den USA in neue Aben­teuer zu folgen, indem sie sich zum Beispiel in Taiwan mit den Chinesen oder auf der Krim mit Russland militärisch anlegen.

Diese Gefahr ist durchaus realistisch, denn das Desaster, das die Neokonservativen im Irak, in Libyen und in Afghanistan angerichtet haben, hat ihre Macht, Schaden anzurichten, kaum beeinträchtigt. Schließlich mussten nicht sie die Kosten tragen, sondern andere Menschen: in der westlichen Welt stammen die Handwerker des Krieges fast ausnahmslos aus der Arbeiterklasse.

Die meisten US-Soldaten, die in Afghanistan gekämpft haben, kommen aus der amerikanischen Provinz, die weit weg ist von den Kreisen, in denen Kriege beschlossen und elegante kriegslüsterne Leitartikel verfasst werden. Welcher Journalist oder führende Politiker kennt heute schon persönlich einen Soldaten, der im Kampf gefallen ist? Die Wehrpflicht hatte immerhin den Vorteil, dass sie die ganze Nation in die Konflikte einbezog, die ihre gewählten Vertreter angezettelt haben.

Wenn die dazu überhaupt noch gefragt werden. Seit September 2001 darf der Präsident der Vereinigten Staaten unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ ohne vorherige Zustimmung des Kongresses die von ihm gewünschten Militäroperationen anordnen. Ein präziser Gegner braucht dabei ebenso wenig benannt zu werden wie das Kampfgebiet oder die Einsatzdauer.

Vor vier Jahren fiel den US-Senatoren auf, dass 800 amerikanische Soldaten in Niger stationiert sind – einzig und allein, weil dort vor einigen Jahren vier ihrer Kameraden getötet wurden. Eine Gruppe von Abgeordneten der Demokratischen und der Republikanischen Partei machte sich mit Joe Bidens Zustimmung daran, diesen der Exekutive ausgestellten Blankoscheck wieder einzuziehen. Über Kriege sollte nicht allein das Staatsoberhaupt entscheiden – erst recht nicht, wenn sie angeblich im Namen demokratischer Werte geführt werden.

Das gilt auch für ein Land wie Frankreich, dessen Armee in Afrika im Einsatz ist. Es gibt viele gute Gründe, warum eine intelligente Diskussion über Geopolitik, Allianzen und Strategien für die Zukunft geführt werden sollte – zumal nach der Erfahrung in Afghanistan. Doch die jüngsten Einlassungen der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl in Frankreich im kommenden April lassen befürchten, dass es dazu nicht kommen wird.

Emmanuel Macron hat sich zum Vortänzer der sicherheitspolitischen Demagogen gemacht, indem er mit Blick auf die vor dem Totalitarismus der Taliban flüchtenden Afghanen vor „erheblichen illegalen Migrationsströmen“ warnte. In der Hoffnung, bei konservativen Wählern zu punkten, verwandelt er Menschen, die vor einer Diktatur die Flucht ergreifen, kurzerhand in vermeintliche Terroristen.

Die beiden rechten Kandidaten, Xavier Bertrand und Valérie Pécresse, gingen natürlich noch einen Schritt weiter. Pécresse erklärte gar, in Kabul stehe „ein Teil der Freiheit dieser Welt“ auf dem Spiel. Und die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo kam bei ihrer Analyse des westlichen Debakels (unter Berufung auf den Afghanistan-Experten Bernard-Henri Levy) zu dem furchter­regenden Fazit, dass „wir uns auf die eine oder andere Weise wieder auf den Weg nach Kabul werden machen müssen“.

Jetzt warten wir darauf, dass sich Anne Hidalgo und Valérie Pécresse bei den Russen und der Nato nach probaten Rezepten für den letzten triumphalen Marsch auf die afghanische Hauptstadt erkundigen.⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Serge Halimi