10.06.2021

Einkaufen in Moskau

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Einkaufen in Moskau

von Vladimir Pawlotsky

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Der brutale Einzug der Marktwirtschaft in Russland hat den Einzelhandel radikal und schnell verändert. Unzählige kleine Verkaufsbuden sind von den Straßen ­Moskaus verschwunden, bevor sie Zeit hatten zu wachsen. Im ersten Jahrzehnt nach dem Ende der Sowjetunion 1991 waren sie überall aus dem Boden geschossen.

Weil damals ein gesetzlicher Rahmen fehlte und sich die materielle Not rasend schnell ausbreitete, gründeten viele Bürger ihr maly bizness (kleines Geschäft). Da bei der Planung sowjetischer Städte keine Geschäftsstraßen im Zentrum vorgesehen waren, gab es nur wenig Einkaufsmöglichkeiten. In Ermangelung geeigneter Räume füllten sich die breiten Bürgersteige Moskaus mit Kiosken aus Fertigbauteilen oder selbst gebauten Buden.

Manche Verkäufer errichteten ihre Stände auf überdachten Märkten, andere eröffneten winzige verglaste Läden, die sich rings um die Metrostationen oder an den großen Straßenkreuzungen aneinanderreihten. An diesen Büdchen konnten die Mos­kaue­r:in­nen auf dem Weg zur und von der Arbeit schnell und bequem alles kaufen, wonach ihnen der Sinn stand: Obst und Gemüse, Schawarma, Piroggen, Bier, Zeitungen und Zigaretten, aber auch Kleidung oder Mobiltelefone.

Anfang der 2000er Jahre lancierte der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow eine erste Kampagne zur Verunglimpfung dieser Kioske und plante ihren Abriss. Sie wurden als hässlich, chaotisch und illegal beschimpft, es hieß, sie behinderten den Fußgänger- und Fahrzeugverkehr. Zur gleichen Zeit förderte die Stadtverwaltung den Bau riesiger Einkaufszentren und Supermärkte an den großen Durchfahrtsstraßen, vor allem entlang des Autobahnrings (MKAD). Das war ein bislang unbekanntes Phänomen. Die sowjetischen Universam-Geschäfte, kleine und mittelgroße staatliche Supermärkte, die oft rund um die Uhr geöffnet waren, wurden von großen Ketten aufgekauft oder als Franchising übernommen.

Luschkows Nachfolger Sergei Sobjanin versetzte den Kiosken dann den Todesstoß. In der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2016 – Gegner sprechen von der „Nacht der langen Spaten“– zerstörten Bagger mehr als einhundert dieser Buden und Stände. Diese Aktion war Teil einer Politik, die darauf abzielte, Moskau zu einer Weltstadt zu machen. Durch die Entwicklung eines „ordentlichen Netzes kleiner Geschäfte“, so der Bürgermeister, sollte jeder Quadratmeter Ladenfläche kontrolliert, vertraglich vergeben, untervermietet, rentabel gemacht werden und Steuern einbringen.

Als Ersatz für einen Teil der zerstörten Geschäfte errichteten die Behörden neue, vom Architekturkomitee der Stadtverwaltung abgesegnete Verkaufsstellen. Ihre Vermietung in Form einer Ausschreibung erwies sich als sehr lukrativ für die Stadt. Sie bevorzugte die Vergabe an zahlungskräftige Unternehmer. Wer am meisten zahlte, kam zum Zug. Von den einst 14 000 Kiosken sollten nur 9900 bestehen bleiben. Sie wurden teils auch durch Verkaufsautomaten ersetzt. Der russische Stadtplaner Pjotr Iwanow beklagt diese Entwicklung: „Anstatt die Stadt zu verschönern, haben wir sie sterilisiert.“⇥Vladimir Pawlotsky

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Vladimir Pawlotsky