13.05.2021

Grüne Neocons

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Grüne Neocons

von Serge Halimi

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Ob man sich nun mit Blick auf die im kommenden Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich ein Bündnis zwischen Linken und Grünen wünscht oder nicht – in jedem Fall zeugt die aktuelle Debatte vom geopolitischen Analphabetismus der meisten Journalisten. Denn man kann zwar davon ausgehen, dass es keine wirtschafts- und sozialpolitischen Differenzen gibt, die es den Parteien links von Emmanuel Macron verbieten würden, gemeinsam gegen ihn Front zu machen. Aber gilt dasselbe auch für die Außenpolitik?

Diese Frage scheint bisher niemanden zu interessieren. Die Beziehungen mit den USA, mit China und mit Russland; die französische Politik in Nahost und in Afrika; Frankreichs Atomstreitmacht: Bei ihrem Treffen am 17. April haben die Führungspersonen der französischen Linken offenbar keines dieser Themen angeschnitten. Und statt überrascht zu sein, hat sich die Presse in ihren Kommentarspalten mit so wichtigen Themen beschäftigt wie Veggie-Days in Lyoner Schulkantinen, die nach Hautfarbe und Geschlecht getrennten Treffen einer Studenten­ge­werk­schaft oder die Verweigerung eines Finanzzuschusses für einen Fliegerklub in Poitiers.

Dabei blieb unbemerkt, dass der Initiator des Treffens, der grüne Europaabgeordnete Yannick Jadot, eine neokonservative außenpolitische Analyse veröffentlichte. Einige Passagen klingen, als kämen sie direkt aus dem Pentagon: Den „Anstieg der internationalen Spannungen“ führt er zurück auf die „wachsende Aggressivität der autoritären Regime in China, Russland oder der Türkei“. Für Jadot scheinen Provokationen niemals aus Richtung der USA, Saudi-Arabiens oder Israels zu kommen.

Derselbe atlantische Blickwinkel zeigt sich, wenn Jadot Moskau und Peking ein Monopol auf „­Fake News“ zuschreibt und sie der Unterstützung „extremistischer Bewegungen“ oder der Übernahme „französischer Schlüsselunternehmen“ bezichtigt. Dabei vergisst er die erfundenen „Massenvernichtungswaffen“ im Irak ebenso wie die Unterstützung des Westens und Saudi-Arabiens für islamistische Gruppierungen in Syrien oder die US-amerikanische Wegelagerei, die konkurrierenden Unternehmen horrende Geldstrafen auferlegt und Alstom unter die Kontrolle von General Electric gezwungen hat.

Logischerweise fordert Jadot auch – wie Trump und Biden – ein „sofortiges Ende von Nord Stream 2“ und schlägt vor, die Ukraine zu unterstützen, die „einer militärischen Aggression ihres russischen Nachbarn ausgesetzt ist“. Dabei ist Kiews dringendste Forderung der Beitritt zur Nato – dieselbe ­Militär­al­lianz, aus der die französischen Grünen sogleich austreten wollen, falls sie an die Macht gelangen.

Der ehemalige sozialistische Minister Benoît Hamon behauptet trotz alledem, dass die Meinungsverschiedenheiten nicht „so zahlreich sind zwischen linken grünen Gruppierungen“. Heißt das im Umkehrschluss, dass die progressive Linke in Frankreich bald die Chinapolitik Tokios, die Vene­zuela­politik Washingtons, die Russ­land­politik Warschaus und die Politik Tel Avivs gegenüber der arabischen Welt übernehmen könnte?

⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Serge Halimi