12.11.2020

Proletarier aller Meere

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Proletarier aller Meere

von Pierre Rimbert

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Wegen der Coronapandemie saßen im Oktober 2020 mehr als 800 000 der 1,7 Millionen in der Frachtschifffahrt tätigen Seeleute fest – die einen durften nicht von Bord, die anderen nicht an Bord gehen. Für die an Land Gestrandeten bedeutet das: kein Arbeitsvertrag, kein Einkommen. Für ihre Kollegen auf See wird das Leben in den spartanischen Mannschaftsräumen der Containerschiffe und Schüttgutfrachter oder auf den Unterdecks der Kreuzfahrtschiffe derweil zur Hölle.

Normalerweise würden jeden Monat etwa 100 000 Besatzungsmitglieder ausgewechselt. Zu den wichtigsten Drehkreuzen dieses Rotationssystems gehören Hongkong, Singapur und die Philippinen. Aufgrund von Hafen- und Grenzschließungen, lahmgelegten Airlines, Entladeverboten, Quarantänemaßnahmen und komplizierten bürokratischen Formalitäten gelingt seit März allerdings nur noch ein Viertel der vorgesehenen Ablösungen.

Auch die Arbeitsbedingungen und die Sicherheitssituation auf vielen Schiffen verschlechtern sich: „Die Ruhezeiten werden ignoriert und durch unbezahlte Überstunden ersetzt; sicherheitsrelevante Systeme werden schlampig gehandhabt und durch oberflächliche Ferninspektionen ersetzt“, heißt es in einem Bericht der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF).

Nach dem Seearbeitsübereinkommen von 2006 dürfen sich Seeleute maximal elf Monate am Stück auf einem Schiff aufhalten. Tausende Matrosen hängen inzwischen jedoch schon anderthalb Jahre an Bord fest. Sie sind gezwungen, ihre Arbeitsverträge über die gesetzlich vorgeschriebene Höchstgrenze hinaus zu verlängern, und müssen sich auf oftmals unterbesetzten Schiffen weiter abrackern. Und das, obwohl sie körperlich und seelisch so erschöpft sind, dass sie vermehrt unter Halluzinationen, Angstzuständen und Depression leiden. Mittlerweile wurden mehrere Suizidfälle bekannt.

Den Crewmitgliedern, die meist aus Niedriglohnländern stammen, wird Erholung genauso wie medizinische Versorgung verweigert. Oft haben sie keinen Kontakt zu ihren Familien und keine Informationen darüber, wie es weitergehen soll. Hinzu kommt die Furcht, aussortiert zu werden, wenn sie sich beschweren oder die Arbeit einstellen.

Wer sich an die Behörden wendet, „ist geliefert“, berichtet Jean-Philippe Chateil, Generalsekretär des Verbandes der Offiziere der Handelsmarine (FOMM) im französischen Gewerkschaftsbund CGT. „Er wird nie wieder zur See fahren: Sein Arbeitgeber setzt ihn auf die schwarze Liste.“ Um die Reeder zwingen zu können, für die Heimreise ihres Personal zu sorgen, müssten die Inspekteure der sogenannten Hafenstaatkontrolle Schiffe festsetzen dürfen, die gegen Vorschriften verstoßen. „Aber die Staaten haben schon entschieden, was für sie oberste Priorität hat: der reibungslose Warenverkehr. Auch wenn man in der Handelsschifffahrt dafür die Sklaverei wieder einführen muss.“

Anlässlich des Weltschifffahrtstags am 24. September warnte der Generalsekretär der ITF: „Wenn es uns nicht gelingt, den zunehmend entkräfteten Seeleuten die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, wird es mehr Unfälle geben: Ölkatastrophen an unseren Küsten, Tote auf unseren Meeren.“ UN-Generalsekretär António Guterres seinerseits ermahnte die Regierungen, Seeleute als „systemrelevante Arbeitskräfte“ einzustufen, damit sie wie zum Beispiel Pflegepersonal auch während eines Lockdowns die Grenzen passieren dürfen.

Die Gefahr eines möglichen Ausfalls der Seetransportwege, über die 90 Prozent des weltweiten Warenverkehrs abgewickelt werden, bereitet allmählich auch den Wirtschaftseliten Sorge. Die Financial Times, die sich normalerweise wenig darum schert, wie es dem Proletariat ergeht, schrieb am 29. September: „Die Arbeiter, die im Verborgenen die Globalisierung am Laufen halten, verdienen eine deutlich bessere Behandlung.“ Außerdem verbreitete das Blatt einen Aufruf, in dem rund 30 Chefs von Unternehmen wie Unilever, Procter & Gamble, Danone und Auchan die Regierenden dazu anhielten, „dieser modernen Variante der Zwangsarbeit“ mit allen Mitteln Einhalt zu gebieten.

Darin zeigt sich die ganze Heuchelei der Arbeitgeberseite, die plötzlich auf gewerkschaftliche Positionen umschwenkt, nachdem sie sich bislang ganz gut mit der modernen Sklaverei arrangieren konnte, die von den Crewingagenturen betrieben wird. Drei Viertel der weltweiten Handelsflotte fahren unter den Billigflaggen von Ländern wie den Bahamas, Panama oder Liberia. Das sozial- und steuerrechtliche „Race to the bottom“ ist in der Branche der Normalfall. Es ist legal, Menschen vierzehn Stunden am Tag arbeiten zu lassen und die zehn arbeitsfreien Stunden auch noch in zwei Blöcke zu unterteilen. Als Kostenfaktor ist die Besatzung ohnehin weniger wichtig als der Schiffsdiesel.

Die Arbeitgeber wissen genau, dass die Verdienstpyramide des Welthandels auf dem Kopf steht und auf ein paar Hunderttausend philippinischen, indonesischen, chinesischen, russischen und ukrainischen Arbeitern lastet, die mit ihren Kräften am Ende sind.Pierre Rimbert

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Pierre Rimbert