11.06.2020

Weder Corbyn noch Blair: Labours neuer Chef

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Weder Corbyn noch Blair: Labours neuer Chef

von Andrew Murray

Audun Alvestad, Looks like it’s gonna be one of those nights, 2020, Acryl auf Leinwand, 41 x 34 cm
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Sang- und klanglos endete im April Jeremy Corbyns Amtszeit als Chef der britischen Labour-Partei. Das Land war gerade in den Coronavirus-Lockdown geschickt worden. Seitdem ist es nicht nur auf ein staatliches Gesundheitssystem angewiesen, dessen Unterfinanzierung und Personalnot Corbyn immer wieder zum Thema gemacht hatte, sondern auch auf Gedeih und Verderb den Entscheidungen eines Premierministers ausgeliefert, der keinerlei Erfahrung im Krisenmanagement hat.

Die Wahl des neuen Labour-Vorsitzenden, die nach der Niederlage der Partei gegen Boris Johnsons Konservative bei der Unterhauswahl im Dezember 2019 nötig geworden war, geriet durch die Coronakrise zur Formsache. Wie erwartet machte Sir Keir Starmer das Rennen, bis dahin Brexit-Minister in Corbyns Schattenkabinett. Mit 55 Prozent der Stimmen von Parteimitgliedern, registrierten Unterstützern und angeschlossenen Gewerkschaftern schnitt er nur geringfügig schlechter ab als sein Vorgänger Corbyn, der 2015 mit 59,5 Prozent gewählt worden war.

Bevor er in die Politik ging, war Starmer Großbritanniens oberster Staatsanwalt. Erst 2015 gelangte er ins Unterhaus. Als Labour-Chef bringt er einen frischen Hauch jener Establishment-Effizienz mit, die Corbyn nicht besaß. Nach fünf turbulenten Jahren versprach Starmer der Parteibasis gelassene Kompetenz und präsentierte sich als Mann, den sich die Briten gewiss auch in der Downing Street 10 vorstellen könnten.

Seine Partei forderte Starmer dazu auf, die internen Streitigkeiten beizulegen, was reichlich optimistisch erscheint, denn in der Labour Party gab es schon immer ein breites Spektrum rivalisierender Fraktionen, selbst während der Phase von Tony Blairs ultrazentralistischem Neoliberalismus. Rea­lis­tisch gesehen kann Starmer bestenfalls hoffen, das aufgeheizte Klima der Corbyn-Jahre, in denen die Partei stark polarisiert war, etwas abzukühlen.

Von den politischen Hauptforderungen seines Vorgängers will er sich allerdings nicht verabschieden: Verstaatlichung der Eisenbahn und der Versorgungsbetriebe; ­Finanzspritzen für den öffentlichen Dienstleistungssektor, teilweise finanziert durch Steuer­erhöhungen für Reiche und große Konzerne; massivere staatliche Eingriffe in den Bankensektor und eine stärkere Förderung des öffentlichen Wohnungsbaus.

Starmer ist sich bewusst, dass er bei einer Abkehr von diesem radikalen wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs wahrscheinlich drei Viertel der Parteibasis gegen sich aufbringen würde. Es war gerade Corbyns Sozialismus, der Labour Masseneintritte bescherte und zu einer Partei werden ließ, die heute mehr Mitglieder hat als alle anderen britischen Parteien zusammen.

Nach zehn Jahren, in denen die Tory-Regierungen dem Land ein als Austerität etikettiertes Regime der sozialen Verelendung aufgebürdet haben, gibt es in der Partei weitestgehend Zustimmung zu einer progressiveren Agenda. Für das „New Labour“-Programm der Blair-Jahre – Deregulierung, Steuersenkungen, Privatisierung der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen – finden sich heute kaum noch Fürsprecher. Corbyns bahnbrechender Versuch, mit 40 Jahren parteiübergreifender ­neo­liberaler Regierungspolitik zu brechen, wird so schnell nicht revidiert werden.

Bei der Wahl des neuen Chefs stand auf den Stimmzetteln erstmals kein Kandidat der Parteirechten – seit Generationen die dominierende Strömung innerhalb von Labour, von Herbert Morrison und Ernest Bevin im Zweiten Weltkrieg bis zu Tony Blair und David Miliband. Ursprünglich sollte Jess Phillips, Unterhausabgeordnete für den Wahlkreis Birmingham Yardley, die Rechte repräsentieren. Doch die aufrechte Phillips wirkte eigentlich immer, als meine sie ihre Bewerbung nicht ganz ernst, und verließ vorzeitig den Ring, als klar wurde, dass ihr die Unterstützung der Gewerkschaften und der Ortsverbände fehlen würde.

Das spricht fast so sehr für ein verändertes Kräfteverhältnis in der Partei wie die Wiederwahl Corbyns 2016 zum Vorsitzenden, obwohl ihn damals 80 Prozent der Labour-­Parla­men­ta­rier absetzen wollten. Noch nie in der 120-jährigen Geschichte der Partei waren die Unterhausabgeordneten, die traditionell politisch das Sagen haben, von der Basis so deutlich in ihre Schranken verwiesen worden. Von einer transformierten Partei zu sprechen, wäre allerdings übertrieben. Die Me­dien begrüßten Starmers Wahl vielmehr als Rückkehr zur Normalität. Seine ersten Schritte als Chef, ­überschattet von der alles erdrückenden Gesundheitskrise, scheinen das zu bestätigen.

Starmer schickte fast alle engen Mitarbeiter Corbyns auf die Hinterbänke. Er behielt lediglich Rebecca Long-Bailey, die Kandidatin des linken Lagers, die bei der Wahl hinter ihm Zweite wurde, als bildungspolitische Sprecherin. Er reaktivierte allerdings auch keine Veteranen der Blair-Brown-Jahre, von denen die meisten sich ohnehin schon bei Corbyns Wahl oder im Zuge des Putschversuchs aus den Reihen der Parlamentsfraktion 2016 von der vordersten Front und oft ganz aus der Politik zurückgezogen hatten.

Stattdessen holte sich Starmer Fraktionsmitglieder aus der Parteimitte, die weder als radikal noch neoliberal gelten und sich aus den Flügelkämpfen der Vergangenheit meist herausgehalten hatten. Das lässt durchaus ein Bruch mit den hervorstechendsten Merkmalen der Politik seines Vorgängers erwarten, die es überhaupt erlaubten, vom Corbynismus zu sprechen (obwohl Corbyn selbst die Bezeichnung stets mit den Worten „Es gibt nur Sozialismus“ von sich wies).

Da ist zunächst der radikale Antiimperialismus des ehemaligen Parteichefs: Corbyn war ein entschiedener Gegner der Interventionskriege in Afghanistan, Libyen, Syrien und im Irak. Er unterstützte die Sache der Palästinenser, profilierte sich als Nato-Skeptiker, befürwortete einen unilateralen Abbau des britischen Atomwaffenarsenals und kritisierte die militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen Großbritanniens zu Saudi-Arabien und anderen Golfdiktaturen. Im Juni 2019 sprach Corbyn auf den großen Protestkundgebungen anlässlich des Großbritannien-Besuchs von US-Präsident Trump, der es abgelehnt hatte, den Oppositionsführer zu treffen.

Natürlich hätte Corbyn, wäre er jemals Premierminister geworden, nicht sein gesamtes Programm umsetzen können. Angesichts der großen Meinungsverschiedenheiten unter den Labour-Abgeordneten in diesen Fragen, hätte es nie eine parlamentarische Mehrheit für die einseitige nukleare Abrüstung gegeben, geschweige denn für einen Nato-Austritt.

Dennoch sorgte dieser Aspekt der politischen Programmatik Corbyns für gehörige Unruhe im Establishment, inklusive der Labour-Rechten, mit ihren imperialistischen und transatlantischen Traditionen. Einer Verstaatlichung der Wasserversorgungsbetriebe könnte die Parteielite relativ gelassen gegenüberstehen, nicht aber einer Aufkündigung des Bündnisses mit Washington oder einer vollkommenen Umkehr in der britischen Nahostpolitik. Starmer ist gegen Militäreinsätze wie im Irak, verfolgt aber ansonsten eine konventionellere Linie als Corbyn.

Neu am Corbynismus war zweitens, dass er die Politik von Labour stärker auf die Massenmobilisierung ausrichtete, statt ausschließlich auf Parlamentspolitik zu setzen. Corbyn förderte einen regeren Austausch mit Bürgerbewegungen und Straßenprotesten. Der Ex-Parteichef war immer dann in seinem Element, wenn er draußen im Land Wahlkampf machen konnte.

Die parlamentarische Arbeit jedoch zehrte zunehmend an der Vitalität des Corbynismus. Und hinzu kam noch die parteiinterne Spaltung in Sachen Brexit. Zwischen der Haltung der Unterhausabgeordneten und der Mehrheit der Parteimitglieder auf der einen Seite sowie der meisten Wähler aus der Arbeiterschaft auf der anderen Seite bestand in dieser Hinsicht eine unüberwindbare Kluft.

Keir Starmer und die Effizienz des Establishments

Dass sich innerhalb der Linken die meisten nur schwer ein Leben außerhalb der Europäischen Union vorstellen konnten, machte dem Projekt Corbyns letztlich den Garaus. Wie jetzt auch Starmer waren die Vorsitzenden der britischen Arbeiterpartei häufig im liberalen multikulturellen Milieu Nordlondons verankert.

Sie neigten stets dazu, den EU-weit verordneten Sparmaßnahmen, dem konstitutionellen Kapitalismus, dem Demokratiedefizit der EU und der Flüchtlingspolitik in der Festung Europa weniger Gewicht beizumessen als Brüssels theoretischer Verpflichtung zu kultureller Liberalität, internationaler Zusammenarbeit und der tatsächlichen Förderung von Umwelt-, Verbraucherschutz- und Arbeitsrechtsstandards, die denen in Großbritannien oft weit voraus sind.

Der Riss in der Labour Party zwischen den Anhängern einer marktliberalen Politik und denen, die „mehr Demokratie“ wollten, hatte immer das Potenzial, den Corbynismus zum Scheitern zu bringen. Die von der radikalen Linken gestellte Parteiführung war insbesondere abhängig von einem Erfolg an den Wahlurnen. Das schlechte Abschneiden bei den Wahlen von 2019, als das Labour-Ergebnis im Vergleich zu 2017 von 40 auf 32 Prozent absackte, und der Verlust zahlreicher Wahlkreise in Englands einstmals industriellem Norden und in den Midlands reichte deswegen aus, um den seit 2015 neu eingeschlagenen Kurs wieder zu verlassen – und das, obwohl mehrere Parteichefs in den vergangenen vier Jahrzehnten durchaus schlechtere Ergebnisse eingefahren hatten als Corbyn.

Labours Rechte schob die Wahlschlappe sogleich auf Corbyns Ansichten zu Verteidigung, Sicherheit und Einwanderung, also auf seinen Antiimperialismus – und ebenso auf die üble Anschuldigung, Corbyn sei ein Antisemit. Die Behauptung, dass ein kleiner Teil der Labour-Mitglieder, der dennoch nicht übersehen werden könne, von antisemitischen Ansichten infiziert worden sei, ist nur leider alles andere als aus der Luft gegriffen.

Keir Starmer ist nun mit einer veränderten politischen Landschaft konfrontiert. Corbyn und sein Team hatten durchaus erfolgreich Widerstand geleistet gegen die gnadenlose Sparpolitik der konservativen Regierungen unter David Cameron und Theresa May, durch die ohnehin schon arme Menschen noch mehr verarmten und der öffentliche Raum in fast jeder Hinsicht verwüstet wurde, während die Interessen der Reichen sorgsam gewahrt blieben.

Schon vor der Coronakrise war die Regierung Johnson von ihrer Austeritätspolitik abgerückt und redete davon, mehr für die Gesundheitsversorgung und die Polizei auszugeben, den Mindestlohn anzuheben und Geld in Projekte der öffentlichen Hand zu investieren. Das musste sie auch, um die neu gewonnenen ehemaligen Labour-Hochburgen nicht gleich wieder zu verprellen. Johnsons eigene Covid-19-Erkrankung könnte diese Entwicklung vorantreiben.

Starmer dürfte sich bei seinen Attacken in Zukunft also weniger auf den Sparkurs der Regierung konzentrieren als vielmehr auf deren Versäumnisse in der Pandemie: die mangelhafte Vorbereitung, der verspätete Lockdown in Folge eines leichtsinnigen Flirts mit der „Herdenimmunität“, ein chronischer Mangel an Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal, ein riesiger Rückstand bei den Testkapazitäten und nicht zuletzt das Festhalten Johnsons an seinem kritikrestistenten Chefberater Dominic Cummings, der gegen die Quarantäneregeln verstoßen hatte.

Da die nächsten Wahlen wohl erst in vier Jahren stattfinden, hat der neue Parteivorsitzende genug Zeit, um etwas aufzubauen. Sein erstes Ziel könnte sein, ein ebenso gutes Ergebnis einzufahren wie Corbyn 2017.

Vier Jahre sind genug für Starmer, aber womöglich reichen sie Johnson nicht, um jene Wohlfühlpolitik durchzuziehen, die ihm einen erneuten Wahlerfolg bescheren könnte. Großbritannien gehört zu den von der Pandemie am stärksten betroffenen Ländern und laut manchen Schätzungen ist der ökonomische Schaden so groß, dass das Niveau von 2019 erst 2022 wieder erreicht wird. In Wirklichkeit wäre damit aber lediglich das Level von 2008 wiederhergestellt. Denn schon nach dem Finanzcrash von 2008 durchlebte das Land ein verlorenes Jahrzehnt mit stagnierenden Einkommen.

In Großbritannien trägt die jüngste Krise also nur zur Verschärfung der schon bestehenden bei. Boris Johnson behauptet, er werde sie überwinden. Aber seine populistischen Parolen tönen ebenso hohl wie die des gemäßigten Neoliberalismus.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Andrew Murray ist Generalsekretär der britischen Gewerkschaft Unite und war Corbyns Berater. Er ist Autor von „The Fall and Rise of the British Left“, London (Verso) 2019.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Andrew Murray