12.03.2020

Brief aus Jerusalem

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Brief aus Jerusalem

von Yonatan Mendel und Gal Kramarski

Israelische Sperranlage DEBBIE HILL/picture alliance
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Als Präsident Donald Trump jüngst seinen „Deal des Jahrhunderts“ präsentierte, sprach er auch die Zukunft der Al-Aksa-Moschee an. Wegen seiner immensen Bedeutung für die Palästinenser – nicht nur aus religiösen, sondern ebenso sehr aus politischen und historischen Gründen – stand dieser Ort immer im Zentrum des Konflikts.

Und so wurde erwartet, dass der US-Präsident ihm besondere Beachtung schenken würde. Das tat er dann auch. In seiner Rede betonte er, dass allen Muslimen, die „in friedlicher Absicht in die Al-Aqua-Moschee kommen und dort beten wollen, dies auch gestattet“ werde. Als er den Namen des heiligen Ortes falsch aussprach, redete er langsam und betonte jede Silbe; wie ein Lehrer, der seinen Schülern ein neues, unbekanntes Wort beibringt.

Aus unserer Sicht, als Bewohner Jerusalems, berücksichtigt der „Deal des Jahrhunderts“ ausschließlich israelische Bedürfnisse und lässt außer Acht, dass auch die andere Seite Ansprüche, Sehnsüchte und Ängste hat. Schaut man sich die Karte von Trumps „Palästina“ an (siehe Artikel von Alain Gresh auf Seite 5), tritt einem ein bizarres Gebilde entgegen. Das Westjordanland ist durchlöchert von jüdischen Siedlungen und annektierten Gebieten. Der Gazastreifen ist durch eine Schienentrasse mit dem Westjordanland verbunden, außerdem wurden ihm zwei Wüstenenklaven zugeschlagen, die Israel freundlicherweise zur Verfügung stellt.

Und Jerusalem? Dessen Westteil soll zusammen mit dem 1967 besetzten Ostteil die Hauptstadt Israels werden, und zwar nur Israels. Die Palästinenser sollen sich ihre Hauptstadt bitte schön woanders einrichten, vielleicht in Abu Dis, auf der anderen Seite der Sperranlage.

Die Stadt soll „eins, unteilbar und israelisch“ bleiben, tönte Trump in seiner Rede. Der israelische Staat solle die Hoheitsgewalt über das gesamte Stadtgebiet behalten. Mit anderen Worten: Trumps Plan legitimiert Israels derzeitige politische Praxis und die Schritte, die es zur Schaffung eines „Großjerusalem“ unternimmt – etwa die angestrebte Annexion der großen Siedlungsblöcke Gush Etzion, Ma’ale Adumim und Givat Ze’ev.

Seit 1967 haben sich weder die palästinensischen Behörden noch die israelische Regierung sonderlich darum bemüht, die Lebensumstände der Bevölkerung von Ostjerusalem zu verbessern. Der Ostteil der Stadt wurde zum Niemandsland, für das sich weder die eine noch die andere Seite verantwortlich fühlte. Die Versäumnisse sind allenthalben sichtbar; der Unterschied zwischen einem jüdischen und einem palästinensischen Viertel springt in Jerusalem sofort ins Auge.

Die meisten palästinensischen Viertel in Ostjerusalem platzen aus allen Nähten; eine Folge des Mangels an Infrastrukturprogrammen und weil die Stadtverwaltung keine Baugenehmigungen an Palästinenser vergibt. Weil die Stadtverwaltung sich auch um die Abfallbeseitigung nicht kümmert, verbrennen die Bewohner ihren Müll oder werfen ihn einfach auf die Straße. Offiziell haben in Ostjerusalem nur 59 Prozent der Haushalte Zugang zu fließendem Wasser.

Indikatoren für die Vernachlässigung der palästinensischen Bevölkerung findet man auch in den Bereichen Wirtschaft und Bildung. Das durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen liegt im besetzten Ostteil der Stadt mit 2000 Schekel (umgerechnet 500 Euro) bei 40 Prozent des Westniveaus. Daten von 2018 zeigen, dass über 80 Prozent der palästinensischen Kinder in Ostjerusalem in Armut leben – unter der jüdischen Bevölkerung sind es 36 Prozent. In Ostjerusalem fehlen mindestens 2550 Klassenzimmer, fast 17 000 Kinder erhalten dort keine formale Schulbildung.

Für die über 200 000 jüdischen Israelis, die in den Siedlungen Ostjerusalems wohnen (insgesamt hat Ostjerusalem etwa 550 000 Bewohner), verhält sich die Sache genau umgekehrt: Israel investiert laufend in die Infrastruktur der Siedlungen und weitet die Bautätigkeit für die jüdische Bevölkerung aus. Jüngstes Beispiel ist Gi’vat HaMatos – ein Gebiet südlich der Altstadt im Westjordanland direkt neben dem palästinensischen Dorf Beit Safafa. Erst kürzlich ordnete Netanjahu dort den Bau tausender Wohneinheiten für jüdische Siedler an.

2018 beschloss die israelische Regierung ein Fünfjahresprogramm zur sozioökonomischen Entwicklung (Regierungsbeschluss Nr. 3790), mit dem offiziell die Lebensbedingungen der palästinensischen Bevölkerung in Ostjerusalem verbessert werden sollten. Zwei Milliarden Schekel wurden dafür veranschlagt.

Doch die Sache hat einen Haken: Mit dem Programm will die Regierung die Palästinenser in Ostjerusalem vor allem enger an Israel binden. Sie sollen Hebräisch lernen und in den is­rae­li­schen Arbeitsmarkt integriert werden. Ganz nebenbei baut man so die Kontrolle Israels über den Ostteil der Stadt aus und verankert in den Köpfen das Bewusstsein, dass Israel Herrscher über beide Teile der Stadt ist.

Folgerichtig ist die Vergabe der Programmmittel fast durchweg an Bedingungen geknüpft. Neue Klassenräume zum Beispiel werden nur finanziert, wenn sich die betreffende Schule dazu verpflichtet, nach dem israelischen statt dem palästinensischen Lehrplan zu unterrichten. In dieser Weise hat sich die Regierung Netanjahu in den vergangenen Jahren die trostlose Rea­li­tät in Ostjerusalem ausgenutzt, anstatt nach einer gemeinsamen politischen Lösung zu suchen.

95 Prozent der palästinensischen Bewohner Ostjerusalems sind nach israelischem Gesetz keine Bürger Israels, seit der Besetzung Ostjerusalems 1967 besitzen sie den provisorischen Status „permanent resident“ (dauerhafter Bewohner). Der israelische Staat verweigert ihnen, ihre Stimme bei den israelischen Parlamentswahlen abzugeben. Lediglich bei den Kommunalwahlen haben sie das Recht, zu wählen – von dem allerdings nur die wenigsten Gebrauch machen, aus Protest gegen die Besetzung des Ostteils der Stadt.

Als permanent resident Ostjerusalems kann man zwar die israelische Staatsbürgerschaft beantragen, aber das Prozedere ist langwierig und an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, etwa dass man einen Hebräischtest besteht und nicht Mitglied einer verbotenen politischen Vereinigung ist. Viele Anträge gibt es ohnehin nicht, denn auch die werden als Zeichen der Anerkennung der israelischen Souveränität über Ostjerusalem angesehen.

Auch bei der Frage des Status der palästinensischen Bewohner Ostjerusalems übernimmt der „Jahrhundert-Deal“ den Standpunkt Israels. Den permanent residents bietet man drei Op­tionen:

Sie können erstens Bürger des Staates Israel werden – was Israel aus Sorge um die demografische Entwicklung nach Kräften zu verhindern sucht, indem es hohe bürokratische Hürden errichtet.

Zweitens können sie Bürger des zukünftigen Staats Palästina werden. Aber dann müssen sie womöglich auf die andere Seite der israelischen Sperranlage außerhalb der Grenzen Großjerusalems ziehen. Das geschieht teils schon heute auf „natürliche Weise“, denn Israel verweigert Baugenehmigungen westlich der Sperrmauer. Um ihre Aufenthaltsberechtigung nicht zu verlieren, müssen Palästinenser in Gegenden wie Kafr ’Aqab ziehen, die zum Stadtgebiet gehören, aber östlich der Mauer liegen.

Drittens können palästinensische Ostjerusalemer ihren Status als permanent Aufenthaltsberechtigte in Israel behalten, und es bleibt alles beim Alten.

Diese drei Optionen erinnern an frühere israelische Lösungsvorschläge. Trumps Deal bestätigt also einfach nur den Status quo. Seit der Bekanntmachung des Plans ist die Gewalt wieder massiv angestiegen. In Jerusalem ereigneten sich gewalttätige Zusammenstöße zwischen der israelischen Polizei und Armee und Palästinensern; zahlreiche Palästinenser wurden verhaftet.

Ein neunjähriger palästinensischer Junge verlor in al-Isawiya in Ostjerusalem ein Auge, nachdem ihn ein Gummigeschoss am Kopf getroffen hatte. Dieses Viertel ist in letzter Zeit zum Symbol der israelischen Unterdrückung der palästinensischen Stadtbevölkerung geworden. In Wirklichkeit also bringt der Plan für uns Jerusalemer jetzt schon mehr Hass, mehr Gewalt, Ungerechtigkeit und Probleme und alles andere als Frieden und Wohlstand. Leider hat sich Israel im Verhandlungspartner geirrt, und sowohl die Israelis als auch die Palästinenser zahlen den Preis.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Yonatan Mendel lehrt am Department of Middle East Studies der Ben-Gurion-Universität. Er ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Gal Kramarski hat an der Hebrew University studiert. In ihrer Abschlussarbeit beschäftigte sie sich mit den palästinensischen Vierteln in Ostjerusalem.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.03.2020, von Yonatan Mendel und Gal Kramarski