09.01.2020

Was die französischen Rentnerinnen erwartet

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Was die französischen Rentnerinnen erwartet

Neue Mindestrente

Die Erklärung sorgte für Aufsehen: Ministerpräsident Édouard Philippe versprach, die Mindestrente ab 2022 auf 85 Prozent des Mindestlohns anzuheben. So steht es auch im Gesetz, allerdings in dem von 2003.

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Die Regierung tut also nichts anderes, als endlich das damals vom Parlament beschlossene Gesetz umzusetzen. Allerdings müsste diese Mindestrente schon heute bei 1023 Euro liegen, wenn man die Verzögerung aufholen wollte. Aber die Erhöhung wird nicht rückwirkend gelten und betrifft zudem nur diejenigen, die heute in Rente gehen. Diese müssen mindestens 42 Beitragsjahre vorweisen. Die „solidarische Beihilfe für alte Menschen“ (Grundrente), die wenig oder keine Beiträge gezahlt haben, beträgt ab 1. Januar 2020 nur 903 Euro.

Alter vor Jugend

Die Regierung hat die vollständige Umstellung auf das einheitliche Punktesystem bis auf das Jahr 2037 verschoben. Dahinter steht der Bestandsschutz oder die sogenannte Großvaterklausel. Sie besagt, dass in einem Unternehmen die Jüngeren weniger Rechte haben als die Älteren, obwohl sie dieselbe Arbeit verrichten – Zündstoff für den Generationenkonflikt.

Das aktuelle System gilt weiter für alle, die vor 1975 geboren wurden. Für alle Jahrgänge danach werden die bisher erworbenen Rechte nach einem noch unbekannten System in Punkte umgewandelt. Alle, die ab 2022 zu arbeiten beginnen, trifft die Reform mit voller Härte: Sie werden länger arbeiten und weniger Rechte genießen.

Frauen verlieren

„Die Frauen werden die großen Gewinnerinnen sein“, versicherte der Ministerpräsident. Tatsächlich werden auch die Frauen verlieren, nur etwas weniger. Sie profitieren von einer Erhöhung ihrer Rente um 5 Prozent für jedes Kind und zusätzlichen 2 Prozent ab dem dritten Kind. Das sind 17 Prozent für drei Kinder, wahlweise für die Mutter oder den Vater anrechenbar. Gegenwärtig sind es allerdings jeweils 10 Prozent für Mutter und Vater, insgesamt also 20 Prozent. Da es meistens die Männer sind, die besser verdienen, werden die Paare diese Erhöhung voraussichtlich dem Vater zuschreiben. Die Mütter werden benachteiligt.

Vor der Reform wurden Frauen pro Kind acht Quartale in der Privatwirtschaft und vier (manchmal zwei) Quartale im öffentlichen Dienst angerechnet. Das war ein beachtlicher Vorteil für berufstätige Frauen ohne vollständige Berufslaufbahn. Diese Regelung wird es nicht mehr geben. Frauen mit Kindern haben also die Wahl, länger zu arbeiten oder weniger Rente zu erhalten. Die Einschnitte sind besonders hart, weil die Höhe der Rente künftig nach der gesamten Berufstätigkeit berechnet wird und nicht mehr nach den 25 besten Berufsjahren. Schon heute fallen nach Angaben des Sozialministeriums die Renten von Frauen im Durchschnitt um 42 Prozent niedriger aus als die der Männer, obwohl der Gehaltsunterschied nur 23 Prozent beträgt.

Schwerstarbeit zählt weniger

Ministerpräsident Philippe verspricht, die Schwere der Arbeit zu berücksichtigen und Betroffenen die Möglichkeit zu geben, „zwei Jahre früher in Rente zu gehen“ oder vor dem Renteneintritt drei Jahre in Teilzeit zu arbeiten. Das würde auch für Pflegekräfte gelten. Was nützt das aber, wenn das Renteneintrittsalter mit vollständigem Rentenanspruch zugleich um zwei Jahre verschoben wird?

Am Ende ist nichts gewonnen. Ein Gesetz vom Oktober 2014 hatte zehn Kriterien für beschwerliche Arbeit festgelegt. 2017 ließ Macrons Regierung vier davon streichen. Ein Arbeiter, der den ganzen Tag am Presslufthammer steht, profitiert nun nicht mehr von der Regelung.

De facto neue Altersgrenze

Das gesetzliche Renteneintrittsalter von 62 Jahren wird nicht infrage gestellt, aber selbst wenn man die geforderten Jahre gearbeitet hat, berechtigt es nicht mehr zu einer abschlagsfreien Rente. Die gibt es erst ab 64 Jahre. Vorher gibt es einen Abzug von 5 Prozent für jedes Jahr (also 10 Prozent, wenn man mit 62 Jahren in Rente geht).

Rente nach Punkten

Im aktuellen System muss man ein Quartal (oder ein Äquivalent) gearbeitet haben, um Rechte zu erwerben. Mit dem Punktesystem soll schon die erste gearbeitete Stunde zählen. Auf den ersten Blick ist das positiv. Aber die Rentenhöhe wird nicht mehr nach dem Durchschnittseinkommen der 25 besten Berufsjahre berechnet, sondern anhand der gesamten Berufstätigkeit. Dazu zählen auch Nebenjobs vom Anfang der Erwerbstätigkeit.

Außerdem lässt sich die Höhe der am Ende zu erwartenden Rente nicht vorhersehen, auch wenn man die Zahl der gesammelten Punkte kennt. Es gibt nämlich zwei Variablen: die Zahl der Punkte, die man für sein Einkommen erwirbt, und den Wert eines Punktes zum Zeitpunkt des Renteneintritts. Angenommen, man erwirbt für 100 Euro 10 Punkte, die 5,50 Euro Jahresrente entsprechen. In diesem Fall könnte die Regierung irgendwann beschließen, dass 10 Rentenpunkt nur noch 4,95 Euro wert sind.

Andererseits kann sie aber auch am Kaufwert der Punkte schrauben. Dann gibt es für diese 100 Euro vielleicht nur noch neun Punkte. Auch dann beträgt die Rente nur noch 4,95 Euro. Bei den Zusatzrenten (Agirc-Arrco) konnte man diesen schleichenden Verfall bereits beobachten: Deren Rendite ist von 16 Prozent Mitte der 1960er Jahre auf 7,15 Prozent im Jahr 2000 und auf 5,99 Prozent im Jahr 2018 gesunken.

Der Ministerpräsident verspricht, dass der Wert eines Punkts „von den Sozialpartnern unter Kontrolle des Parlaments“ festgelegt wird. Doch das ist keine Garantie. Die Einschnitte bei den Zusatzrenten wurden von wichtigen Gewerkschaftsbünden wie der CFDT und der Force ouvrière (FO) ausgehandelt.

Lehrer haben es schwerer

Bisher wurde die Rente für Beamte nach dem Durchschnitt der letzten sechs Monatsgrundgehälter berechnet und betrug etwa 75 Prozent davon. Für das Punktesystem will die Regierung die gesamte Berufslaufbahn berücksichtigen. Dafür sollen die Prä­mien miteingerechnet werden, die sich durchschnittlich auf 23 Prozent des Einkommens belaufen. Bei Lehrern beträgt die Prämie hingegen im Schnitt nur 9 Prozent. Die Einbeziehung der Prämien wird hier nicht ausreichen, um die Einbußen zu kompensieren. Der Verlust wird umso größer sein, als die Lehrergehälter seit Jahren stagnieren.

Le Monde diplomatique vom 09.01.2020