12.10.2012

Menetekel für Südafrika

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Menetekel für Südafrika

Achtzehn Jahre nach der Geburt der Regenbogennation schießen Polizisten wieder auf Demonstranten von Greg Marinovich

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Das ganze Land und die ganze Welt konnten es sehen. An den Hängen des orangefarbenen felsigen Hügels drängten sich tausende mit traditionellen Stöcken und Speeren bewaffnete Männer, umzingelt von Stacheldraht und den Eingreiftruppen der Polizei, dabei singend und tanzend wie ein einziges großes Lebewesen. Es war der 16. August. Schon zuvor waren bei gewalttätigen Auseinandersetzungen während des Streiks der Bergarbeiter in der Mine des Platinmultis Lonmin in Wonderkop mehrere Menschen ums Leben gekommen, darunter zwei Polizisten.

Der Hügel war bereits von Bereitschaftspolizisten und Nyala-Panzerwagen umstellt. Etwas weiter hinten in Richtung der Bergarbeitersiedlung Marikana standen über 200 Polizisten und Wachmänner einer privaten Sicherheitsfirma auf der Straße und aßen. Als sie fertig waren, warfen sie die leeren Plastikbecher in die Gegend und urinierten ins trockene Veld-Gras, wie bei einem archaischen Ritual zur Vorbereitung des Kampfes, wobei sie mit ihren Waffen und kugelsicheren Westen allerdings etwas unbeholfen wirkten.

Es sah aus, als zögen die Geschöpfe einer technisch-industriellen Macht in den Krieg gegen Männer, die soeben aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwacht waren. Einige tanzten zum Gesang ihrer eigenen tiefen Stimmen, im gleichen eintönigen Rhythmus, der durch Schläge von Metall auf Metall akzentuiert wurde. Ein Mann kam aus der sich wiegenden, singenden Menge auf mich zu und bat mich um eine Zigarette. Wir kamen ins Gespräch, an dem sich noch ein anderer Streikender beteiligte. Der eine war ein Hauer malaisha (Schaufler), der andere ein Chisaboy (Sprengassistent). Beide gehörten zu den Arbeitern, die in der Hitze unter Tage schuften. Und die jetzt eine Erhöhung ihres monatlichen Grundlohns von 4 350 und 5 100 Rand (zwischen 400 und 475 Euro) auf 12 500 Rand (knapp 1 200 Euro) forderten.

Der Streik war ausgerufen worden, nachdem das Management von Lonmin wiederholt nicht zu den Sitzungen erschienen war, auf dem über die Lohnforderungen gesprochen werden sollte. Die Unternehmensleitung wollte formelle Verhandlungen verweigern, da sie sich auf einen noch gültigen Tarifvertrag mit der National Union of Mineworkers (NUM) berief. Diese Gewerkschaft ist die größte innerhalb des südafrikanischen Gewerkschaftsdachverbands Cosatu und über diesen aufs Engste mit dem regierenden ANC verbunden (siehe Kasten).

Der CEO von Lonmin, Ian Farmer, lag zu der Zeit schwerkrank im Hospital. Das restliche Management war entweder von einer kollektiven Lähmung befallen oder glaubte seine Unnachgiebigkeit demonstrieren zu müssen. Dabei war Lonmin auf gute Geschäftsergebnisse für den August angewiesen. Das Ende des Bilanzjahrs rückte immer näher, und Platin hatte auf den von der Rezession gebeutelten globalen Märkten bereits einiges von seinem Glanz verloren. Die Aktienkurse des Unternehmens befanden sich seit Ausbruch des Arbeitskampfs auf Talfahrt.

Gehen wir einen Schritt zurück. Begonnen wurde der Streik von den Hauern, die in den engen Stollen unter Tage mit 25 Kilo schweren Bohrhämmern arbeiten. Obwohl sie nicht aufrecht stehen können, müssen sie das schwere Gerät mit aller Kraft gegen die Felswände pressen. Wann immer es zu Grubenunglücken kommt, sind die Opfer in aller Regel die Hauer. Sie haben die gefährlichste Arbeit im gesamten Minensektor. Auch deshalb pflegen die Männer, die in in den Stollen schuften, einen speziellen Machokult.

Ein Hauer verdient umgerechnet 375 Euro im Monat. Für diesen Lohn riskiert er sein Leben bei der Gewinnung eines Edelmetalls, das zum Beispiel dazu dient, die Abgase von Autos zu reinigen, die er sich selbst nie wird leisten können. Er und seine Kollegen tragen dazu bei, das Leben von Städtern, das für sie unerreichbar bleibt, angenehmer und gesünder zu machen. Das Platin, das sie produzieren, funkelt an Händen, die nie einen Finger krumm gemacht haben. Und dabei ist ihnen die Gefahr bewusst, dass ihr Arbeitsleben wahrscheinlich vorzeitig durch eine Staublunge beendet wird.

Diese Leute fühlten sich doppelt herabgesetzt und gedemütigt: durch die Ignoranz des Managements und durch die Gleichgültigkeit ihrer eigenen, gewählten Gewerkschaftsvertreter. Als die NUM-Funktionäre am 16. August von gepanzerten Polizeiwagen zu dem Hügel eskortiert wurden, weigerten sich die Streikenden, mit ihnen zu reden.

Die Kumpel waren entschlossen, der Gewalt so lange standzuhalten, bis sich das Management zu Verhandlungen bequemen würde. Sie wollten ausharren, bis sie ihre verlorene Stärke wiedergefunden und ihre männliche Würde zurückgewonnen hätten.

Deshalb wandten sie sich an ihre spirituellen Vermittler. In einer Höhle am Fuße des besetzten Felshügels veranstalteten sie die alten geheimen Rituale, die sie unverwundbar machen und die Gewehrkugeln der Polizei in Wasser verwandeln sollten.

Spurensuche in Small Koppie

Jenseits des Hügel wurden derweil Entscheidungen getroffen oder auch verweigert, gegenüber denen die Magie der Bergleute so unschuldig wie hilflos anmutet. Als die Polizei am Nachmittag des 16. August den Kordon um die Streikenden zu schließen begann, blieb für kurze Zeit noch eine Lücke zwischen Stacheldraht und den gepanzerten Fahrzeugen. Als die Männer auf diese Lücke zu rannten, wurden sie von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen empfangen. Ein Arbeiter schoss mit einer Pistole zurück. Darauf eröffneten Dutzende von Polizisten das Feuer mit automatischen Waffen.

Vor laufenden Kameras und unter den Augen mehrerer Journalisten wurden zwölf Männer niedergemäht. Spätere Zeugenaussagen und die Spurensuche vor Ort ergaben, dass abseits der Fernsehkameras noch mehr Menschen getötet worden waren. An einem Ort namens Small Koppie wurden vierzehn Männer erschossen, viele von ihnen wollten sich gerade der Polizei ergeben.

Ein Zeuge, der nicht namentlich genannt werden will, gab folgenden Bericht: „Ich erinnere mich genau, wie einer von uns sagte: ‚Lasst uns aufgeben.‘ Dann nimmt er beide Hände hoch. Wir wollen uns also schon ergeben, da schießen die Bullen vom Wasserwerfer aus auf den Mann. Er wird an zwei Fingern getroffen und fällt hin. Aber er steht wieder auf und ruft: ‚Leute, wir ergeben uns!‘ Da trifft ihn eine zweite Kugel, in die Brust. Er stürzt, liegt auf den Knien, versucht wieder aufzustehen – da trifft ihn die dritte Kugel, in die Seite. Er sackt zusammen, aber er bewegt sich immer noch. In dem Moment will sich einer direkt hinter ihm ebenfalls ergeben, und der bekommt eine Kugel in den Kopf und fällt auch zu Boden, direkt neben dem anderen.“

Mehrere Zeugen berichten, sie hätten gehört, wie die Polizisten gerufen haben, das sei die gerechte Strafe für Polizistenmörder. Es waren außergerichtliche Tötungen, Hinrichtungen, und zwar in großem Maßstab. Irgendwo in der polizeilichen und womöglich sogar in politischen Befehlskette war die Entscheidung getroffen worden, dass die Bergleute besiegt werden müssten. Die meisten Polizisten waren mit Schusswaffen ausgestattet, statt mit Schilden und der üblichen Ausrüstung für Demonstrationseinsätze. Welche Befehle sie bekamen, ist nicht bekannt.

Am Morgen nach dem Massaker sagte ein Bergmann: „Einer von uns hat in einem gepanzerten Polizeifahrzeug einen alten Freund aus seiner Gegend vom Ostkap entdeckt. Und der hat zu ihm gesagt, heute sei der D-Day, sie seien gekommen, um zu schießen. Er sagte auch, es gebe einen Befehl, mit Unterschrift, dass sie uns erschießen dürften.“

Ein anderer Bergarbeiter, der ebenfalls ungenannt bleiben will, meinte empört: „Die Polizei ist dazu da, uns zu beschützen, aber in Wirklichkeit knallen sie uns ab.“ Die Umstehenden stimmen ihm zu, einer sagt: „Die haben uns nicht mal vorher gewarnt, die haben einfach angefangen zu schießen.“

34 Minenarbeiter wurden von der Polizei erschossen, weitere 78 durch Schüsse verletzt. Gegen keinen einzigen Polizisten wurde bisher Anklage erhoben. Dafür wollte man zunächst mehr als 200 Bergleute wegen Mordes an ihren eigenen Kollegen anklagen. Dieser juristische Unfug wurde mittlerweile rückgängig gemacht, aber offenbar haben Staatsanwaltschaft und Polizei einen Schleier des Schweigens über das Massaker ausgebreitet. Der Staatsapparat und die herrschende Partei scheinen diesen Kurs zu unterstützen. Wir erleben einen kritischen Moment in der Geschichte Südafrikas. Sollte die Justiz nicht schnell und kompromisslos handeln, sehen viele das Land in ein autoritäres Regime abdriften.

Aus dem Englischen von Robin Cackett Greg Marinovich ist Fotograf in Johannesburg. Zuletzt ist von ihm zusammen mit João Silva erschienen: „The Bang Bang Club. Snapshots From a Hidden War“, New York (Basic Books) 2011.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2012, von Greg Marinovich