08.02.2018

Von den Holländern lernen

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Von den Holländern lernen

von Jordan Pouille

Bauer Li pflügt sein Tomatenfeld reuters
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Der Campus von Wageningen ist wie jeden Samstagmorgen menschenleer. Nur Gu Shenghao sitzt mal wieder seit Tagesanbruch vor seinem Rechner. Er hat ein kleines Büro in der ersten Etage des „Radix“. Hier befindet sich die Abteilung für Pflanzenzucht mitsamt DNA-Sequenzierer und Gewächshäusern zum Experimentieren. Der 27-jährige Gu wuchs als Sohn eines kleinen Beamten und einer Modeverkäuferin in der Stadt Baiyin in der Provinz Gansu auf. Die Gegend ist bekannt für ihre roten Berge und den Gelben Fluss, aus dem die Bauern das Wasser für ihre Felder schöpfen. Gu promoviert an der Landwirtschaftsuniversität in Peking, sein Doktorvater hat ihm ein zweijähriges Regierungsstipendium verschafft, damit er seine Forschungen in den Niederlanden fortsetzen kann. „Die Universität von ­Wageningen ist weltweit als Hightech­labor der Landwirtschaft bekannt“, schwärmt er. „Sie führt alle Ranglisten an! Und zwar mit dem Motto: wenig Pestizide, wenig Wasser, aber maximale Erträge.“

Gu interessiert sich am meisten für das Thema Baumwolle (in China wird hauptsächlich Bt-Baumwolle angebaut, siehe nebenstehender Artikel). Die einst an der University of Mississippi entwickelten mathematischen Formeln, mit denen man den Ertrag einer Baumwollstaude nach dem Stickstoffgehalt des Bodens berechnen kann, beherrscht Gu aus dem Effeff. „In Zeiten von Big Data möchte ich so viele Daten wie möglich nutzen, vor allem zu Bewässerung und Wettervorhersagen, und dann am Computer simulieren, wie man maximale Ernten erreichen kann.“ Wenn er seine Promotion abgeschlossen hat, will er ein Start-up für „intelligente Landwirtschaft“ gründen, das in Hand in Hand mit der chinesischen Regierung zusammenarbeiten soll.

Im Studienjahr 2017/18 sind 660 Chinesen an der Universität Wageningen eingeschrieben: Zehn streben einen Bachelor und 450 einen Master an, 200 schreiben an ihrer Doktorarbeit. Die Chinesen bilden die größte Gruppe ausländischer Studierender, vor Deutschen und Indonesiern. „Diesen massiven Zustrom haben wir erst seit knapp zehn Jahren, als der Lebensmittelwissenschaft in China Priorität eingeräumt wurde“, erzählt die Wageninger Kon­sumforscherin Xiaoyong Zhang. 2008 waren in China 296 000 Säuglinge an mit Melamin verseuchter Babymilch erkrankt. Die giftige Chemikalie war dem Getränk beigemischt worden, um einen höheren Proteingehalt vorzutäuschen. Gepanschtes Öl, anabolikahaltiges Schweinefleisch, mit Formalin überzogener Kohl: Immer mehr Skandale haben nachhaltig das Vertrauen der Verbraucher in Chinas Lebens­mittel­indus­trie zerstört.

Seit 2013 organisiert Xiaoyong Zhang mit viel Engagement die universitäre Kooperation mit China. 2015 konnte der Vizedekan ihrer Uni an einem Staatsbesuch des niederländischen Königs Willem-Alexander in China teilnehmen. Dort schloss er eine Partnerschaft mit dem Staatlichen Institut für Boden- und Wasserreinhaltung ab, um gemeinsam an Methoden gegen die Wüstenbildung auf dem nord­chinesischen Lössplateau zu forschen. Im Juni 2016 lud die Pekinger Tsinghua-Universität niederländische Gastprofessoren zu sich ein, und im Frühjahr 2017 besuchten der Chefingenieur des Pekinger Büros für Umweltschutz und eine Vertreterin des chinesischen Umweltministeriums die Wageninger Experten für Luftverschmutzung.

Derzeit klafft auf dem Campus in Wageningen eine gigantische Baugrube. Das künftige „Innovationszentrum für Welternährung“ des britisch-niederländischen Lebensmittelkonzerns Unilever wird dort aus dem Boden gestampft. In Wageningen finanzieren vor allem private Sponsoren die Forschung, von kleinen und ­mittelständischen Unternehmen bis hin zu globalen Multis. Eine Öffnung nach China liegt auch in deren Interesse.

Der Botaniker und Orchideenexperte Filip van Noort will im Treibhaus Vanille züchten, mit Unterstützung der großen Tomatenproduzenten Duijvestijn und van Marrewijk, die sich davon hohe Gewinne versprechen: Ein Kilo Vanilleschoten wird derzeit für etwa 500 Dollar gehandelt. Gleichzeitig warten die Erzeuger der niederländischen Kirschtomate auf grünes Licht aus China. Die Firma Prins, niederländischer Marktführer für Gewächshäuser, hat gerade einen Vertrag für die größte Tomatentreibhausanlage in ganz ­Asien unterzeichnet, die in der Pekinger Vorstadt Daxing errichtet werden soll. Prins schickt seine leitenden Angestellten regelmäßig zur Fortbildung nach Wageningen.

Die 26-jährige Wang Zhaojun stammt aus einer Arbeiterfamilie und wuchs bei ihren Großeltern auf dem Land auf. Heute ist sie Assistentin von Professor Atze Jan van der Goot, einem Experten für Fleischersatz. Nach mehreren Jahren Forschung, mitfinanziert von Unilever, konnte van der Goot eine rote, von Fettfasern durchzogene Masse herstellen, die wie Hackfleisch aussieht, aber rein pflanzlich ist. Welche Fasern muss man einsetzen, damit dieses Ersatzfleisch nach dem Kochen oder Braten seine Form behält? Welche Aromen muss man „einschließen“? Und vor allem: Was macht man mit den entstehenden Luftblasen?

Diese Fragen beschäftigen Wang, seit sie in Wageningen ankam. „Am Anfang dachten alle, Luft sei schlecht. Aber ich konnte nachweisen, dass sie Geschmack und Konsistenz fördert.“ In ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich mit Milchproteinen und bekommt dafür von der chinesischen Regierung ein monatliches Stipendium von 1200 Euro. Von Zeit zu Zeit ruft sie ein Vertreter von Yili an, Chinas größter Molkereikonzern, und erkundigt sich, wie sie mit ihrer Arbeit vorankommt. „Er hat mir sogar vorgeschlagen, ich solle ihn bei einem Gipfeltreffen in Brüssel vertreten“, erzählt sie amüsiert. Yili war damals eine der in den Melamin-Skandal verwickelten Firmen. Erst vor Kurzem hat Yili neben dem Wageninger Campus ein „Europäisches Forschungs- und Entwicklungszentrum“ eröffnet.⇥Jordan Pouille

Le Monde diplomatique vom 08.02.2018, von Jordan Pouille