08.02.2018

Eine italienische Misere

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Eine italienische Misere

Das große Geschäftesterben im Land des ewigen Berlusconi, dessen rechte Allianz am 4. März wohl die Mehrheit gewinnt, ist ein Sinnbild für Italiens Niedergang. Über den können auch die todschicken Food-Parks von Eataly nicht hinwegtäuschen.

von Francesca Lancini

Andrius Zakarauskas, My Silver Brushstroke, 2008, Öl auf Leinwand, 160 x 160 cm
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Mieten Sie mich! Gleich dreimal werden Passanten in Cesano Boscone von der roten Aufschrift auf dem heruntergelassenen Rollladen eines Zeitungskiosks angesprochen. Die Aufforderung wirkt wie ein verzweifelter Fluchtversuch aus diesem Stadtrandviertel, das seit 2015 zur Metropolitanstadt Mailand gehört. Die angebliche Wirtschaftshauptstadt Italiens umfasst inzwischen 134 Kommunen und 3 Millionen Einwohner. Doch schon kurz hinter der Ringautobahn, unweit der Altstadt, verwandelt sich der Ballungsraum in eine heruntergekommene Trabantenstadt.

Der Niedergang von familiengeführten Geschäften begann in Cesano Boscone wie überall in Italien in den 1980er Jahren – zwar später und verlangsamter als in anderen Ländern Westeuropas, aber seit der Krise von 2008 umso dramatischer. 13,2 Prozent aller italienischen Läden sind zwischen 2008 und 2016 verschwunden, allein 2013 schlossen durchschnittlich 134 Geschäfte pro Tag.

Derzeit stehen mehr als 600 000 Läden leer – ein Viertel aller Geschäfte. „In Bergregionen und Tiefebenen mit verstreuter Bevölkerung ist das Angebot schon so schlecht, dass die Versorgung mit bestimmten Grundgütern womöglich bald nicht mehr gewährleistet ist“, sagt Luca Zanderighi, Wirtschaftsprofessor an der Universität Mailand. Und Mariano Bella, Chef der Forschungsabteilung des Handelsverbandes Confcommercio, fürchtet, dass sich die historischen Zentren von mittelgroßen Städten wie Perugia, Parma oder Triest über kurz oder lang in „Museen für Touristen oder Ansammlungen von Banken, Versicherungen und Modeketten“ verwandeln.

Viele Händler schimpfen auf die hohen Steuern. Das Misstrauen gegenüber dem Staat, mit dem sie nur Technokratie und Abgabenwahn verbinden, ist ohnehin groß. Dabei sind die Gründe für den Aderlass eher in der ökonomischen Situation des Landes zu suchen. In Zeiten sinkender Haushaltseinkommen konnte der Einzelhandel kaum mit den Preisen der großen Supermarktketten konkurrieren.

Italien ist zwar seit 2014 wieder auf Wachstumskurs, doch die Situation bleibt entgegen allen optimistischen Bekundungen weiter kritisch. Sowohl 2015 als auch 2016 wuchs die italienische Wirtschaft um weniger als 1 Prozent. Zudem sind 4,7 (von insgesamt 60) Millionen Italienern von Armut betroffen, allen voran die Jungen: 10,4 Prozent aller Italiener zwischen 18 und 34 Jahren leben unterhalb der Armutsgrenze, bei den über 65-Jährigen liegt der Anteil bei 4 Prozent.

Natürlich spielt auch der Onlinehandel eine Rolle, der 2016 um 18 Prozent zulegte. Manche Branchen bekommen die veränderten Lebens- und Konsumgewohnheiten besonders schmerzhaft zu spüren. So ist es im Land der großen Verlags- und Zeitungskrise kein Wunder, dass ein Kiosk nach dem anderen schließen muss und viele Buchhandlungen sich kaum noch halten können. Hinzu kommen eine durch die Bankenkrise bedingte Kreditklemme und Mieten, die vor allem in den norditalienischen Städten durch die Decke gehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Mailand noch von Bauernhöfen und Feldern umgeben. Die Vorstädte sahen aus wie kleine Dörfer, mit belebten Plätzen und vielen unterschiedlichen Geschäften. In den Jahrzehnten nach der Ansiedlung von Industriebetrieben stieg die Einwohnerzahl von Cesano Boscone zwischen 1961 und 1991 von 5000 auf 26 000 (und ging in den letzten Jahren wieder leicht zurück), und da es damals keine stadtplanerischen Konzepte gab, entwickelten sich Mailands Vorstädte völlig chaotisch.

Inzwischen liegen viele Geschäfte an den Ausfallstraßen, man kann praktisch gar nicht mehr ohne Auto einkaufen. Der erste Hypermarkt Ita­liens wurde 1971 etwa 30 Kilometer von Mailand entfernt in Castellanza eröffnet. Danach breiteten sich die Riesensupermärkte rasant aus. Vor den Toren von Cesano Boscone eröffnete 2005 eine gigantische Filiale der französischen Auchan-Kette, die mit ihrem großen roten Bogen wie eine postmoderne Kathedrale wirkte und in deren Einzugsgebiet immerhin 200 000 potenzielle Kunden leben. Trotzdem machte die Filiale Verlust (16 Millionen Euro zwischen 2011 und 2014) und wurde im Juli 2015 wieder geschlossen. Als Gründe für derartige Pleiten werden der aggressive Konkurrenzkampf, das Überangebot, die hohen Mieten sowie die oft dysfunktionale Architektur genannt.

Nach einer aufwändigen Umstrukturierung, die auch soziale Funktionen in den Blick nahm, wurde der Auchan in Cesano Boscone 2016 unter dem Namen „Auchan City, Hypermarkt der Stadt, Hypermarkt des Viertels“ wiedereröffnet. Dabei ist so etwas wie ein bequemer und zugleich kühler Ersatz für den öffentlichen Raum entstanden, der keine kleinen, lokalen Dienstleistungen mehr bietet, aber der einzig verbliebene Anziehungspunkt in einer zersplitterten Stadt ist. In den Auchan-Hallen findet man neben den typischen Ladengeschäften ein Bürgeramt, eine Wirtschaftsprüfungsfirma, eine Zahnarztpraxis und ein Freizeitzentrum für Kinder.

Von Cesano Boscone aus führt eine vier Kilometer lange Schnellstraße zum Designerviertel von Mailand. Der Stadtplaner Gabriele Rabaiotti schlägt vor, sie – wie so vieles im heutigen Mailand – in drei Abschnitte zu unterteilen. Am Ende der Via Giambellino, eine halbe Stunde vom berühmten Domplatz entfernt, befindet sich die Endhaltestelle der Tram 14, wo neben den Gleisen Müllsäcke liegen. Hier wohnen Italiener, die vor Jahrzehnten aus dem Osten und Süden zugezogen sind, Tür an Tür und offensichtlich ohne nachbarschaftliche Kontakte neben Einwanderern aus 18 verschiedenen außereuropäischen Ländern – die insgesamt 6000 Familien kamen zwischen 1990 und 2010 hierher.

Zahlreiche Neuankömmlinge haben aufgegebene Geschäfte übernommen. „Das sind Läden für Arme, die auf ein Überleben mit wenig Geld eingestellt sind“, so Rabaiotti. Die Halal-Fleischerei, das Berber-Grillrestaurant und der ägyptische Basar seien Treffpunkte, die immer geöffnet hätten und in denen die Kunden auf Pump kaufen könnten. „Die Menschen helfen einander wie im Italien der Nachkriegszeit.“

Ein paar Schritte weiter liegt die alte Markthalle von Lorenteggio, für die es lange sehr schlecht aussah, weil sich kaum noch Pächter für die Stände fanden. Ihre Rettung verdankt sie Vito Landillo, der in der Halle eine Pferdefleischerei betreibt. Der Sizilianer hat mit einigen Kollegen eine Händlervereinigung gegründet, die einen Plan für die Wiederbelebung der Markthalle gemacht hat und darin von der Stadtverwaltung unterstützt wurde: Die Lebensmittelhändler teilen sich die Halle jetzt mit lokalen Verbänden, Kulturveranstaltern, einer Sprachschule und anderen Initiativen – und auf einmal weht wieder ein neuer Wind.

Größere Sorgen bereitet ­Gabriele Rabaiotti der zweite Abschnitt der Via Giambellino. Auch hier gibt es immer mehr leer stehende Läden. In dem Viertel wohnen vor allem Rentner, die meist in den Riesensupermärkten jenseits der Ringautobahn einkaufen. Die Bars mit Spielautomaten und Plastikdeko, die verstaubten Kurzwarengeschäfte und die Thai-Massagestudios hinter dunklen Scheiben wirken wie aus der Zeit gefallen. Tischlereien, Polsterer und andere Handwerksbetriebe, die seit dem Mittelalter das Herzstück jeder italienischen Arbeiterstadt bildeten und noch vor wenigen Jahren weit verbreitet waren, sieht man hingegen immer seltener.

In Italien existiert zwar kein Programm zur Erneuerung heruntergekommener Stadtviertel, aber gelegentlich wird ein Stararchitekt – wie Renzo Piano für Mailand – mit solchen Projekten beauftragt. „In den vergangenen 20 Jahren gab es nach unserer Zählung mehr als 700 Programme für vernachlässigte Stadtviertel, die insgesamt etwa 200 Millionen Euro gekostet haben“, bestätigt Stefano Sampaolo, Wissenschaftler am Centro Studi In­ves­ti­menti Sociali (Censis) in Rom. „Aber wir haben eben keinen Minister oder Ministerausschuss für ihre Koordinierung, deshalb ist das alles Stückwerk.“

Auf dem letzten Abschnitt der Via Giambellino, die hier zur Via Andrea Solari wird, verändert sich das Bild abermals – in einem gepflegten Park dreht sich ein Karussell im Belle-­Epoque-Stil, zahlreiche kleine Läden, von hippen Zeitungskiosken und Luxusboutiquen über Feinkost- und Weinhandlungen bis hin zu schicken Blumenläden reihen sich aneinander. Hier hält Giulio Velati Erinnerungen wach, indem er den Eisenwarenhandel seines Großvaters fortführt und den „goldenen Sechzigern“ nachtrauert. Velati hat Zweifel, ob sein Sohn, der ihm aus dem Hinterzimmer bei der Arbeit zusieht, das Geschäft eines Tages übernehmen kann.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Francesca Lancini ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2018, von Francesca Lancini