10.08.2017

Wir sind alle Mutanten

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Wir sind alle Mutanten

Das Genom von Menschen, Tieren und Süßkartoffeln unterliegt ständigen natürlichen Veränderungen

von Bernard Dujon

„Du bist das Blökende“: Ian Wilmut und seine Dolly (1996–2003) J. MITCHELL/reuters
Wir sind alle Mutanten
Gene basteln

Am Thema Genetik und insbesondere der Frage, ob gezielte Eingriffe ins menschliche Erbgut erlaubt sein sollen oder nicht, scheiden sich die Geister. Mit der CRISPR/Cas-Methode gibt es seit Kurzem neue molekulare Werkzeuge, mit denen man Gensequenzen vergleichsweise einfach exakt schneiden, entfernen und ersetzen kann. Theoretisch eröffnet diese Methode unbegrenzte Anwendungsmöglichkeiten.

Das Erbgut zu verändern bedeutet, gezielt ein Gen oder Genfragment durch ein anderes zu ersetzen, um es zu reparieren oder auszuschalten. Im Labor wurde daran bereits seit Jahrzehnten gearbeitet, aber mit anderen, viel schwerfälligeren molekularen Werkzeugen.

Die gezielte Veränderung des Erbguts, auf Englisch genome editing (deutsch: Genombearbeitung oder Genomchirurgie) ist nicht zu verwechseln mit der einfachen Transgenese, bei der man lediglich irgendwo im Genom ein zusätzliches Gen einfügt, ohne den Genort gezielt anzusteuern, in der Hoffnung, dass die Zelle oder der Organismus dadurch neue Eigenschaften erwirbt. Auf Transgenese beruhen etwa die umstrittenen Gentechnisch Veränderten Organismen (GVO) oder die Ursprungsform der Gentherapie. Beim genome editing wird dagegen nur der gewünschte Genlokus, also eine bestimmte Position auf dem Gen, verändert (siehe Glossar).

Die molekularen Genscheren sind bereits natürlich vorhanden oder stammen aus einfachen Kombinationen natürlicher Elemente, denn die Natur verändert selbst das Erbgut, und zwar ständig. Transgenese und zufällige Mutationen sind selbstverständliche Vorgänge, ohne die wir gar nicht existieren würden. Alle jemals untersuchten Genome, auch die unsrigen, enthalten Spuren von Erbmaterial anderer Organismen, die durch Transgenese in den menschlichen Stammbaum gelangt sind. Man weiß noch nicht genau, welche Mechanismen für solche Gentransfers verantwortlich sind, aber sie spielen ohne Zweifel eine wichtige Rolle in der Evolution.

So enthält das Erbgut der Süßkartoffel (Ipomoea batatas) funktionierende Gengruppen des Agrobacteriums, das gewöhnlich in Symbiose mit Hülsenfrüchten lebt und diesen erlaubt, den Stickstoff aus der Atmosphäre zu binden; mit der Süßkartoffel gibt es aber keine Symbiose. Die Gene des Bakteriums sind durch natürliche Transgenese in das Erbgut einer Urpflanze gelangt und werden jetzt in allen Varianten der Süßkartoffel von Generation zu Generation weitergegeben. Wir essen also schon seit Jahrhunderten eine natürlich transgene Pflanze.

Ein anderes Beispiel: Heute weiß man, dass auch die Plazenta aus einem Gentransfer stammt. Zur Ausbildung des Mutterkuchens, ohne den sich der Fötus nicht entwickeln kann, braucht es bestimmte Eiweiße, die Syncytine. Sie werden von Genen hergestellt, die unsere fernsten Vorfahren erst durch Infektionen mit Viren erwarben, die ähnlich wie heutige Retroviren (etwa HIV) ihr Erbgut in die DNA der infizierten Zelle einschleusten. Bei der Plazenta wurde das Gen, das für die Ummantelung des Virus nötig war, von einer infizierten Keimzelle aufgenommen und diente im Laufe der Evolution der Eiweißbildung.

Auch bei Mikroorganismen kommt Transgenese vor. Das CRISPR/Cas-System ist nichts anderes als ein Abwehrmechanismus von Bakterien gegen Viren, die sie infizieren wollen. Im Gegensatz zum menschlichen Immunsystem, wo das Zellgedächtnis auf eine Generation beschränkt ist, können Bakterien diese Informationen an die folgenden Generationen weitergeben.

Zellen, die eine Infektion überleben, nehmen in ihr Erbgut am CRISPR-Lokus Kopien kurzer DNA-Sequenzen auf, die dem Virus entsprechen. So geben sie die Information an ihre Nachkommen weiter, damit diese ebenfalls die Viren aus dieser Familie erkennen und zerstören können.

Die Immunität wird also vererbt. Heute nutzen Genforscher dieses System, um das Erbgut künstlich zu verändern, indem sie Virusfragmente durch andere, erwünschte Genfragmente ersetzen. Während in der Natur solche Vorgänge zufällig ablaufen, werden sie im Labor gezielt gesteuert.

Die Methoden sind zwar neu, aber das menschliche Eingreifen ins Erbgut ist schon uralt. Seit Jahrtausenden verändern Menschen durch Züchtung das Genmaterial von Tieren und Pflanzen. Die unglaubliche Vielfalt der Hunderassen, die der Mensch gezüchtet hat, wäre ohne die Instabilitäten des Wolfgenoms nicht möglich gewesen.

Da die Züchter nicht wussten, wie die molekularen Mechanismen funktionieren, gingen sie nach dem Trial-and-Error-Prinzip vor. Damit konnten sie das Erbgut so weit bearbeiten, dass die Tierrassen und Pflanzenarten, die wir heute nutzen, nicht mehr viel Ähnlichkeit mit ihren wilden Vorfahren aufweisen.

So ist Weizen ein Hybrid von – je nach Art – zwei oder drei Wildgräsern, die längst in Vergessenheit geraten sind. Im Lauf der verschiedenen Züchtungen wurden die Erträge gesteigert und die Eigenschaften des Mehls verbessert und verschiedenen Zwecken angepasst. Man weiß heute zwar immer noch nicht, wie viele Gene dabei auf welche Weise verändert wurden, aber eine Bearbeitung fand statt.

Durch genetische Untersuchungen konnten Forscher rekonstruieren, dass indigene Völker aus der Grasart Teosinte, die in Mexiko, Guatemala und Nicaragua wild wächst, vor 8700 Jahren Mais gezüchtet haben – durch Veränderung der pflanzlichen Gene, von deren Existenz damals niemand etwas ahnte.

Ähnliches geschah mit Kühen, Pferden und Schweinen, die nach ihrer Leistung selektiert wurden. Die Hefestämme, die in Brauereien oder im Weinanbau zum Einsatz kommen, sind mehrheitlich ebenfalls komplexe Hy­bri­de, die experimentell selektiert wurden und andere Gene besitzen können als die ursprünglichen Saccharomyces (Backhefen). In all diesen Fällen handelt es sich nicht um eine künstliche Muta- oder Transgenese, sondern man hat nur die Genveränderungen genutzt, die die Natur selbst hervorbrachte.

Alle Genome, vor allem das menschliche, verändern sich ständig, und zwar nicht nur auf lange Sicht, sondern in jeder Generation. Wenn man die gesamte DNA-Sequenz einer Neugeborenen mit der ihrer Eltern vergleicht, kann man sämtliche Mutationen erkennen, die im Laufe einer Generation stattgefunden haben. Hunderte solcher Analysen haben das besorgniserregende Ergebnis geliefert: Wir sind alle Mutanten! Besser gesagt, jedes Neugeborene besitzt im Schnitt etwa 50 punktuelle Mutationen, das heißt Veränderungen, die auf einen oder einige wenige Nukleotiden begrenzt sind.

Molekulares Werkzeug gegen Krebs

Zum Glück haben diese Veränderungen in den meisten Fällen keine unangenehmen Folgen. Aber das ist noch nicht alles. In jeder neuen Genera­tion verschwinden kürzere oder längere DNA-Stücke, sie verschieben oder verdoppeln sich. Sie können Gene oder Genfragmente enthalten, die zufällig verschwinden, sich vermehren oder ihren Ort auf dem Genom wechseln. Insgesamt sind an diesen strukturellen Mutationen viel mehr Nukleotide beteiligt als an den punktuellen Mutationen.

Das Erbgut wird also deutlich verändert, auch hier meist ohne verhängnisvolle Konsequenzen. Manche dieser Mutationen sind aber auch schädlich und führen beispielsweise zu schweren geistigen Behinderungen oder zu Autismus. Um die gezielte Bearbeitung des Erbguts und die damit verbundenen Hoffnungen und Ängste richtig einordnen zu können, müssen wir all das berücksichtigen, was wir über diese permanent stattfindenden natürlichen Genveränderungen wissen.

Wenn Wissenschaftler mit den heutigen molekularen Werkzeugen im Prinzip in der Lage sind, einzelne Gene exakt zu bearbeiten, stellt sich die Frage, warum und unter welchen Bedingungen sie dies tun wollen. Im Falle von Erbkrankheiten wie Beta-Thalassämie (Blutarmut) oder Mukoviszidose, die von Mutationen in einem bestimmten Gen verursacht und dann von Generation zu Generation weitergegeben werden, scheint die Antwort einfach. So gelang es kürzlich mit der ­CRISPR/Cas-Technik, eine Mutation in den Blutstammzellen eines Patienten zu korrigieren, der an Thalassämie leidet.

Theoretisch könnte man dem Erkrankten nun – und natürlich nach allen notwendigen Kontrollen – die bearbeiteten Zellen rückinjizieren, um seine Krankheit zu behandeln. Dann wird es jedoch schwierig.

Soll man die Behandlung, falls sie erfolgreich ist, bei allen Familienmitgliedern in jeder Generation wiederholen oder lieber die Keimbahn verändern, um die Krankheit auszumerzen? Letzteres verbietet die Gesetzgebung in vielen Ländern wie auch das internationale Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin, das im April 1997 in Oviedo verabschiedet wurde. Beim gegenwärtigen Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts wird es nicht lange dauern, bis sich diese Frage wieder stellt.

Im Falle komplexerer Krankheiten wie Krebs gibt die Gentherapie Anlass zu großen Hoffnungen. Es ist bereits gelungen, weiße Blutkörperchen (Lymphozyten) so zu verändern, dass sie gezielt Krebszellen erkennen und töten. Erste Versuche, mit Gen-Editing leukämiekranke Kinder zu heilen, waren offenbar erfolgreich.

Inzwischen wendet sich die Gentherapie auch in der Behandlung anderer Krankheiten den neuen Methoden der gezielten Genbearbeitung zu. Für eine therapeutische Nutzung am Menschen muss man sicherstellen, dass allein das angesteuerte Gen verändert wird und im Verlauf dieser Operation keine weiteren, unerwünschten Mutationen erfolgt sind. Dieses Problem stellt sich bei der CRISPR/Cas-Methode ebenso wie bei den vorhergehenden, allerdings haben sich inzwischen die Kontrollmethoden in rasanter Geschwindigkeit verbessert.

Schließlich muss man fragen, welchen allgemeinen Nutzen die Bearbeitung des Erbguts hat. Bei Pflanzen ist eine Vielfalt genetischer Veränderungen zu beobachten, von denen manche rein dekorativen Zwecken dienen. Andere hingegen steigern die Produktivität in der Landwirtschaft und könnten zur Lösung der Ernährungsprobleme im globalen Süden beitragen.

Aber wer soll Zugang zu diesem „verbesserten“ Saatgut bekommen? Auf natürliche Gene kann niemand ein Patent anmelden. Aber Züchtungen mit bearbeitetem Erbgut und die entsprechenden Verfahren sind womöglich patentierbar, wie der in den USA tobende Rechtsstreit um die Patentierung der CRISPR/Cas-Technik zeigt.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Bernard Dujon ist emeritierter Professor (Université ­Pierre et Marie Curie und Pasteur-Institut) und Mitglied des Institut de France (Akademie der Wissenschaften).

Gene basteln

Wie ist in der unendlichen Abfolge der DNA-Moleküle eine Sequenz erkennbar? Die Doppelhelix ist wie ein Reißverschluss aufgebaut, allerdings mit vier verschiedenen Zähnen, den vier Nukleotiden. Ihre Abfolge entlang der DNA-Stränge bildet den genetischen Code, der die Erbinformation von einer Generation zur nächsten überträgt. Das menschliche Genom enthält ungefähr 3 Milliarden Nukleotide (wobei es eigentlich doppelt so viele sind, da bis auf die Keimzellen alle unsere Körperzellen einen doppelten Chromosomensatz haben).

Die Zahl der möglichen Kombinationen ist so hoch, dass eine Sequenz von 20 Nukleotiden ausreicht, um einen bestimmten Genlokus (siehe Glossar) auf einem Genom zu identifizieren. Molekulare Genscheren oder Nukleasen können die gesuchte Sequenz erkennen und den DNA-Doppelstrang an exakt dieser Stelle schneiden.

Vor 30 Jahren entdeckte man die Mega­nukleasen aus Hefe, Mitte der 1990er Jahre synthetisierte man Zinkfinger-Nukleasen, und 2010 kamen dann die aus Bakterien konstruierten Talen-Nukleasen hinzu. Seit ein paar Jahren werden aus Bakterien Cas-Nukleasen hergestellt, welche die gewünschte Nukleotidsequenz durch ein kleines RNA-Molekül erkennen, das komplementär zum DNA-Strang gebaut ist. Diese Methode bedeutet eine ­erhebliche Erleichterung für die Gentechnik.

Das unter dem Namen CRISPR/Cas bekannte System wird häufig mit der Präzision eines Schweizer Messers verglichen. CRISPR steht für Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats. Es handelt sich dabei um Abschnitte sich wiederholender DNA, die im Erbgut von Bakterien und Archaeen vorkommen. Sie stellen die „Bauanleitung“ für die RNA-Moleküle dar, die die Genschere an die richtige Stelle dirigieren.

Diese Nukleasen werden in lebende Zel­len injiziert oder von den Zellen selbst gebildet, nachdem man ihnen vorübergehend die entsprechenden Gene eingesetzt hat. Sobald das DNA-Molekül an der gesuchten Stelle angedockt hat, kann man wählen, welche Art Reparatur man ausführen möchte. So kann man etwa ein schädliches Gen deaktivieren oder ein defektes Gen reaktivieren, indem man ein DNA-Stück mit der korrekten Sequenz einfügt. Man kann auch die Funktionsweise oder das Produkt eines bestimmten Gens verändern, indem man künstlich erzeugte DNA-Segmente einfügt – die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Bevor man die genetisch bearbeiteten Zellen nutzt, prüft man durch erneute Sequen­zie­rung des gesamten Genoms (oder ähnliche Verfahren), ob die Reparatur wirklich geklappt hat und keine andere Genveränderung festzustellen ist.⇥B. D.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2017, von Bernard Dujon