09.03.2017

Wahlen wohldosiert

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Wahlen wohldosiert

von Jean-Louis Rocca

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Wahlen spielen im politischen System Chinas nur eine untergeordnete Rolle. Die Macht liegt beim Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KPCh). Theoretisch wird er gewählt, praktisch aber von den Mitgliedern des Politbüros ausgesucht. Der Staatspräsident, der stellvertretende Ministerpräsident und der Vorsitzende der Zentralen Militärkommission werden vom Nationalen Volkskongress (NVK) gewählt. Dessen demokratische Legitimation ist jedoch sehr gering.

Die lokalen Parlamente (hauptsächlich der Bezirke und Kreise) werden nach dem allgemeinen Wahlrecht bestimmt – mit einer strengen Auswahl der Kandidaten und Gewählten durch die KPCh. Die fast 3000 Mitglieder des NVK gehen aus einer Reihe indirekter Wahlen hervor. Der NVK besteht im Wesentlichen aus Vertretern der Provinzregierungen und verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen: Militär, Arbeiter, nationale Minderheiten, Intellektuelle, private Unternehmer – darunter etwa 30 Milliardäre.

Bei Lokalwahlen können unabhängige Kandidaten zwar antreten, aber sie sind chancenlos. Hingegen fällt auf, dass ­unter den Gewählten immer mehr Unternehmer sind, die von lokalen Funktionsträgern kooptiert werden. Die Mitglieder der lokalen Parlamente repräsentieren alle sozialen Gruppen und werden von der Partei ausgewählt.

Abgesehen von den Wahlen zu den lokalen Parlamenten können die chinesischen Bürger nur bei zwei weiteren Gelegenheiten ihr Wahlrecht ausüben: In den Städten wählen sie Einwohnerkomitees, ebenfalls aus von oben sorgfältig zusammengestellten Listen. Weil diese Gremien wenig Einfluss haben, stößt die Wahl auf wenig Interesse, die ­„Gewählten“ werden oft einfach nur ernannt.

Interessanter sieht es bei den Dorfkomitees aus. In fast allen der mehr als 600 000 chinesischen Dörfern wählen die Bewohner ihre Vertreter direkt. Meist steht nicht viel auf dem Spiel. Die Zuständigkeit der Dorfkomitees beschränkt sich auf alltägliche Aufgaben, und das Parteikomitee, das es außerdem gibt, schmälert deren Handlungsspielraum zusätzlich. Dennoch ermöglichen die Wahlen den Dorfbewohnern gelegentlich, inkompetente beziehungsweise korrupte Personen zumindest vorübergehend loszuwerden.⇥J.-L. R.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2017, von Jean-Louis Rocca