09.06.2016

Das Kabinett des Dr. Seltsam

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Das Kabinett des Dr. Seltsam

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Bald fällt der erste Dominostein: Um nur 30 000 Stimmen hat der Rechtspopulist Norbert Hofer das Präsidentenamt in Österreich verfehlt. Vor der Wahl hatte Jean-­Claude Juncker gewarnt: „Mit den Rechtspopulisten ist weder eine Debatte noch ein Dialog möglich.“ Ein besseres Geschenk konnte man einer Partei nicht machen, die damit wirbt, außerhalb des Systems zu stehen: so ein Spruch vom Exregierungschef eines Steuerparadieses, der durch einen Kuhhandel von Konservativen und Sozialisten Präsident der ­Eu­ropäischen Kommission wurde.

Juncker hat zu allem eine Meinung, auch zum neuen französischen Arbeitsgesetz, das eine Mehrheit erbittert ablehnt: „Die von Valls angestrebte Arbeitsmarktreform ist das Mindeste, was man tun muss.“ Das Mindeste? Ja, meint Juncker, verglichen mit den „Reformen, wie sie ­Griechenland auferlegt [sic!] wurden“.

Die EU-Verträge sind ein Berg von Verboten, Vorschriften und „Reformen“, die man offenbar nicht begreifen muss, um sie mit Härte durchzusetzen. Eurogruppenchef Dijsselbloem hat am 29. April in Les Échos zugegeben, dass er die Bedeutung des „strukturellen Defizits“, das kein Staat überschreiten darf, selbst nicht versteht: „Dieser Indikator lässt sich schwer antizipieren, beeinflussen oder erklären. Es frustriert mich, dass er steigt und fällt, ohne dass ich weiß, warum.“

Und Griechenland wird auf Basis solcher undurchsichtigen Statistiken weiterhin bestraft. Es musste einem 7000-Seiten-Spargesetz zustimmen, mit massiven Mehrwertsteuererhöhungen, Privatisierung von Flughäfen zu Schleuderpreisen, Erhöhung des Renteneintrittsalters und der Krankenkassenbeiträge und dem Ende des Schutzes für zahlungsunfähige kleine Unternehmen. Im Gegenzug erhält Athen Kredite, mit denen vor allem die Zinsen seiner Auslandsschulden bezahlt werden. Der IWF hält diese für „unerträglich“, aber Deutschland ist gegen einen Schuldenschnitt.

Berlin und die EU-Kommission sind manchmal durchaus nachsichtig – etwa gegenüber Großbritannien oder auch Spanien, dessen Haushaltsdefizit munter die Grenzwerte überschreitet. Vor den Neuwahlen am 26. Juni will man die Regierung Rajoy nicht in Schwierigkeiten bringen, der zum selben Stall gehört wie Juncker und Merkel.

Im Namen von Regeln, die man selbst nicht versteht, werden ganzen Nationen Opfer auferlegt; aber wenn es um die politischen Freunde geht, sind diese Regeln vergessen: Solche Amoral und solcher Zynismus sind der Nährboden für die Rechtsextremen in Europa.

⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 09.06.2016