09.06.2016

Sekuhara

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Sekuhara

Sexuelle Diskriminierung auf Japanisch

von Johann Fleuri

Erwin Wurm, Narrow House II, Kitchen, 2010 Studio Wurm
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Die 37-jährige Mori Tomoko ist eine lebhafte Frau, die sich wohlfühlt in ihrer Haut. Sie lebt in Tokio und arbeitet für eine große US-amerikanischen Hotelkette. Kürzlich sei sie auf eine Führungsposition befördert worden, erzählt sie stolz. „Ich arbeite mehr, aber ich bin zufrieden. Mein Unternehmen kann sich auf mich verlassen.“ Seit Kurzem ist sie verheiratet und hätte gern ein Kind, bevor sie 40 ist. „Das könnte ein Problem für meine Karriere werden“, bekennt sie zaghaft. „Wenn ich Unterstützung vom Staat und von meinem Arbeitgeber bekomme, könnte es klappen.“ Doch sofort, fast automatisch, äußert sie Vorbehalte und weicht dem Thema schließlich aus.

Eine Frau, die Mutter wird, hat in Japan wenig Chancen, im Beruf verantwortungsvolle Aufgaben übertragen zu bekommen: Arbeitgeber gehen davon aus, dass sie mit ihren Gedanken zu Hause beim Kind ist.

Noch nie haben so viele Japanerinnen ein Hochschulstudium abgeschlossen wie heute, doch 60 Prozent hören auf zu arbeiten, sobald das erste Kind kommt. Gegenwärtig sind nach Zahlen des Gleichstellungsbüros in Japan 64 Prozent der Frauen und 84 Prozent der Männer berufstätig. Führungspositionen bekleiden lediglich 11 Prozent der Japanerinnen. Regierungschef Abe Shinzo hat im April 2013 „eine Gesellschaft, in der die Frauen glänzen“, versprochen und das Programm Womenomics gestartet, mit dem 30 Prozent der Führungspositionen bis 2020 an Frauen gehen sollen.

Die Gründe für den Karriereverzicht untersuchte das Forschungsinstitut Frauen und Karriere (Riwac) der Frauen­universität Tokio 2011 in einer Befragung von 5000 Frauen. „Häufigster Grund (63 Prozent) war, dass Berufsperspektiven fehlen“, berichtet Riwac-Leiterin Osawa Machiko. „Die Ehrgeizigsten geben zuerst auf.“ Weitere Gründe waren die Kindererziehung, verschärft durch den Mangel an Kindergartenplätzen (32 Prozent) und die Pflege eines alten Elternteils (38 Prozent), die in den Familien traditionell der Ehefrau obliegt.

Mitverantwortlich ist jedoch auch die unverhohlene Diskriminierung weiblicher Arbeitskräfte. In Sachen Geschlechtergleichheit steht Japan auf Rang 104 von 142 der Liste des Weltwirtschaftsforums. Frauen machen im Lauf ihres Arbeitslebens die bittere Erfahrung, dass ihnen stets niedere Aufgaben zugewiesen werden und sie bei gleichen Kompetenzen gegenüber den männlichen Kollegen immer den Kürzeren ziehen.

„Missachtung und Respektlosigkeit gegenüber Frauen ist in der japanischen Gesellschaft ein strukturelles Problem. Auch wenn sich die offizielle Politik die Förderung der Frauenarbeit noch so sehr auf die Fahnen schreibt, Frauen werden in der Arbeitswelt nicht als vollwertige Akteurinnen betrachtet. Ihr Anteil an prekären Arbeitsverträgen wächst ständig. Frauenarmut ist ein wirkliches Problem, ebenso Mobbing“, erklärt Muta Kazue, Soziologin und Forscherin in Gender Studies an der Universität von Osaka. Schon 1989 unterstützte sie eine Angestellte bei der Klage gegen einen Kollegen, der sie beleidigt und Gerüchte über ihr Sexualleben verbreitet hatte. Es war der erste Fall von sexueller Belästigung, der in Japan öffentlich wurde und vor Gericht kam. Im Verlauf dieses Prozesses wurde der Begriff sekuhara geprägt. „Seku­ha­ra“ bedeutet sexuelle Belästigung, aber auch Mobbing und Diskriminierung wegen der Geschlechtszugehörigkeit.

Nach Schätzung der NGO Matahara Net wird jede vierte Frau Opfer von Beleidigung und Diskriminierung, weil sie Mutter werden will oder ein kleines Kind hat. In Japan gibt es zwar Mutterschaftsurlaub, in Anspruch genommen wird er aber kaum, weil Frauen von ihren Vorgesetzten unter Druck gesetzt werden. Dafür ist ein eigener Begriff geprägt worden: matahara („Mutterbelästigung“). Osakabe Sayaka, die Gründerin von Matahara Net, war selbst davon betroffen: Trotz einer komplizierten Schwangerschaft wurde sie von ihrem Chef zu Überstunden gedrängt und erlitt nacheinander zwei Fehlgeburten. „Frauen, die Mutterschaftsurlaub nehmen wollen, werden vom Arbeitgeber abgekanzelt und von Kollegen verhöhnt“, sagt Osakabe.

Sie hat am Tag nach ihrer zweiten Fehlgeburt gekündigt und gegen ihren Arbeitgeber geklagt. Seit sie an die Öffentlichkeit gegangen ist, haben sich zahlreiche Frauen mit ähnlichen Erfahrungen bei ihr gemeldet. „Viele rea­li­sieren nicht einmal, dass sie Opfer von Mobbing sind“, meint Osakabe. In einem Land, in dem es kein „Nein“ gibt, ertragen viele Frauen stumm ihre Situation.

Weit und breit keine weiblichen Chefs

„Haben die werdenden Mütter erst einmal aufgehört zu arbeiten, haben sie keine andere Wahl, als ihre Berufslaufbahn abzubrechen. Wenn sie nach der Geburt wieder einsteigen wollen, gelangen sie nur noch in prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ihre Kompetenzen spielen keine Rolle mehr“, erklärt Frauen­forscherin Osawa Machiko. Sie selbst studierte in den USA und kehrte 1987 nach Japan zurück, als das Gleichstellungsgesetz in Kraft trat. „Dadurch, dass ich ins Ausland gegangen bin, habe ich ein Selbstvertrauen erworben, das den Japanerinnen extrem fehlt.“ An der Frauenuniversität gibt es auch ein spezielles Programm für junge Mütter bei der Rückkehr in den Beruf.

Auch die Regierung hat Ende 2015 einen Aktionsplan ausgegeben, nach dem alle japanischen Firmen mit mehr als 300 Beschäftigten bis zum 1. April 2016 einen Maßnahmenplan zur Förderung weiblicher Arbeitskräfte vorstellen sollten. „Wir werden nun ihre Anstrengungen über zehn Jahre verfolgen und Punkte für ein Ranking der Unternehmen vergeben“, sagt Takegawa Keiko vom Gleichstellungsbüro der Regierung. Für Unternehmen mit weniger als 300 Angestellten gebe es „keine Verpflichtungen, aber wir haben sie gebeten, sich Mühe zu geben“.

Zuvor gab es bereits ein anderes Regierungsprogramm, das aber auf ganzer Linie scheiterte: Für jede weibliche Angestellte, die mit einer Führungsposition betraut würde, wollte der Staat dem Arbeitgeber 300 000 Yen (circa 2350 Euro) zahlen. Man erwartete Hunderte von Bewerbungen, 120 Millionen Yen waren bereitgestellt. Doch als das Programm auslief, hatte sich kein einziges Unternehmen beworben.

Im letzten Jahr haben 27 Chefs großer Unternehmen ein Manifest unterzeichnet, das darauf abzielt, das Macho-­Image der japanischen Arbeitgeber zu korrigieren. Es wurden auch konkrete Maßnahmen ergriffen: Cross Company gab Frauen die Möglichkeit, nach der Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub ihre Arbeitszeiten zu ändern beziehungsweise zu reduzieren, so dass sie ihre Stelle behalten können; Mitsubishi verbesserte die betriebliche Fortbildung von Frauen; und Johnson & Johnson führte für Angestellte, Frauen wie Männer, die pünktlich nach Hause gehen, einen – eher symbolischen – finanziellen Ausgleich ein: 50 Yen (weniger als 40 Cent) pro Tag.

Dieser letzte Punkt mag überraschen, aber in Japan sind Angestellte traditionell verpflichtet, nicht vor dem in der Hierarchie Höherstehenden ihren Arbeitsplatz zu verlassen, selbst wenn sie ihre eigenen Aufgaben erledigt haben. Fast 20 Prozent der männlichen Angestellten zwischen 30 und 50 Jahren arbeiten wöchentlich 60 Stunden und mehr.

Eine Reduzierung der Arbeitszeit wäre ein großer Gewinn für die Mütter, aber auch für die Väter, die sich durchschnittlich nur eine Stunde am Tag ihrer Familie widmen. Das Bild vom Mann bei der Arbeit und der Frau zu Hause ist fest in den Köpfen der Japaner verankert. Seit April 2014 gibt es zwar auch für Väter die Möglichkeit, Erziehungsurlaub zu nehmen, die Zahlungen dafür wurden von 50 auf 75 Prozent des letzten Gehalts angehoben. Aber nur 2,3 Prozent der Väter nutzten sie. (2,03 Prozent waren es vor der finanziellen Verbesserung.)

Ein anderes Hindernis für die Karriere der Frauen ist die bei einer Beförderung des Ehemanns unumgängliche Versetzung an einen anderen Unternehmensstandort beziehungsweise in eine andere Stadt. „Wenn ein Mann aus Tokio befördert werden will, muss er bereit sein, eine Stelle in der Provinz anzunehmen“, sagt Frauenforscherin Osawa. „Die Ehefrauen gehen mit, ohne dort selbst eine Berufsperspektive zu haben.“ Angesichts all dieser Zwänge heiraten inzwischen immer weniger Japanerinnen: Statistisch 5,3 von 1000 jedes Jahr. In den 1970er Jahren waren es 10 von 1000. Auch die Geburtenrate ist gesunken: 1,42 Kinder pro Frau, gegenüber 2,2 im Jahr 1970. Weniger als 2 Prozent aller Kinder werden außerehelich geboren.

Osakabe Sayaka, die Gründerin von Matahara Net, erhielt im März 2015 den U.S. International Woman of Courage Award aus den Händen von Michelle Obama. Sie habe während der Preisverleihung nicht gewusst, ob sie über diese Auszeichnung glücklich oder zutiefst beleidigt sein soll, erzählt sie. „Dieser Preis ist für Entwicklungsländer bestimmt. Ich habe daher nicht verstanden, warum ich als Japanerin ihn bekam. Und dann habe ich dieses internationale Ranking gesehen, auf dem Japan bei der Gleichstellung der Geschlechter ganz unten steht.“

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Johann Fleuri ist Journalistin in Tokio.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2016, von Johann Fleuri