11.01.2013

Brief aus Moskau

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Brief aus Moskau

von Kerstin Holm

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Wie immer wenn ich von einem Kurzbesuch in Westdeutschland nach Moskau zurückgekehrt bin, kommt es mir so vor, als verschlucke einen hier ein riesiger schwarzer Sack. Mehrere russische Bekannte haben mir gestanden, dass es ihnen ganz ähnlich gehe.

Das Gefühl, irgendwie im Hellen zu leben, das einen in Hamburg oder Frankfurt auch nachts entspannt umherschlendern und ruhig atmen lässt, entsteht ja nicht nur durch Straßenbeleuchtung und eine relativ transparente Nachrichtenlage, sondern auch infolge der Gültigkeit von Recht und Straßenmarkierungen, wodurch das Gesetz des Dschungels ausgehebelt wird.

Mein Freund aus einem russischen Dorf findet, im Westen gehe sogar von den Menschen, die mit offenem Blick das Weiße ihrer Augen sehen lassen und lächelnd die Zähne blecken, mehr Licht aus. Und tatsächlich sind die misstrauischen Blicke und alarmbereit verzogenen Mienen, die einem hier unterwegs vor allem begegnen, wahre Lichtschlucker.

Es war deshalb besonders euphorisierend, als sich im vorigen Winter die hiesige Zivilgesellschaft aufbäumte und gut erzogene, gut ausgebildete Leute bei Eis und Schnee und zwanzig Grad Frost auf die Straße gingen, um mit weißen Schleifen oder Schals und lustigen Plakaten gegen die wirklich unverschämt gefälschten Duma-Wahlen zu protestieren sowie ihren Ärger darüber kundzutun, dass Altpräsident Putin durch seine neue Kandidatur die von seinem Interimsthronfolger Medwedjew ausgelösten Hoffnungen als dumme Reaktionen auf einen bloßen Aprilscherz herabgestuft hatte.

Die Leute wurden durch die Umstände wundersam mit sich selbst bekannt gemacht. Denn was immer man über die Russen sagen konnte, ob sie gebildet seien, insgeheim oder offen nationalistisch, orthodox oder zynisch, ihre – auch seriös soziologisch diagnostizierte – Haupteigenschaft war die politische Apathie. Und plötzlich diese tausende Demonstranten mit offenen Gesichtern und Augen, die leuchteten wie Wohnungsfenster, wenn jemand zu Hause ist. Die Auswanderungswelle, die wieder tüchtig fließt, hielt noch einmal an.

Auf einer der Kundgebungen kam ich mit einem jungen Familienvater ins Gespräch, der mir gestand, er habe emigrieren wollen und schon vorsorglich seine kleine Tochter auf den englischen Namen Alice getauft. Doch angesichts solcher Mitbürger, sagte er mit einer einladenden Handbewegung, werde er auf keinen Fall sein Land verlassen.

Doch die Aufbruchstimmung ist schon verflogen wie der leichte Rausch, den der sympathische Kerl sich zur Feier des Tages angetrunken hatte. Nur die schikanösen Gesetze und Verordnungen, die zu ihrer Unterdrückung erlassen wurden, sind übrig geblieben wie ein Kater, der leider nicht vorübergeht: das De-facto-Versammlungsverbot, die drakonischen Geldstrafen, die paranoide Ausweitung der Definition von Geheimnisverrat und des Stigmas „ausländischer Agent“.

Auch die erfrischend anarchischen Auftritte der feministischen Punkband Pussy Riot hinterließen, nach der Verurteilung von zweien ihrer Mitglieder zu grimmigen Haftstrafen, ein Gefühl, als seien Luftballons geplatzt. Zum Prozess gegen Pussy Riot waren mehr Leute vors Gerichtsgebäude gezogen als zu dem gegen Exoligarch Michail Chodorkowski, der seiner Heimat wohl Substanzielleres zu bieten gehabt hatte. Die drei jungen Frauen legten im Angeklagtenkäfig bewundernswürdige Standfestigkeit an den Tag, doch sie hinterließen außer dem Versprechen einiger Sympathisanten, noch radikalere Aktionen zu veranstalten, nichts.

Eine wurde auf Bewährung freigelassen, während zwei, ausgerechnet die mit kleinen Kindern, in Frauengefängnissen Häftlingskleidung schneidern müssen. Im Westen floriert immerhin noch das Geschäft mit „Pussy Riot“-Hemden und -Accessoires. Hier scheinen die Anwälte hinter dem Rücken ihrer Mandantinnen versucht zu haben, sich den Markennamen „Pussy Riot“ zu sichern. Das schlug fehl, führte aber dazu, dass sie ihr eigentliches Geschäft, einen Freispruch zu erstreiten, vermasselten. Die oppositionellen Juristen stehen jetzt wie Zuhältertypen da und die Punkerinnen als dumme Gänse.

Der hiesige großartige Schriftsteller, mit dem ich mich schon vor langer Zeit anfreundete, als er in seiner Heimat noch unbekannt war, hat seit Kurzem einen Zweitwohnsitz in Berlin. Als er mir, mit der Bitte, es nicht weiterzusagen, davon erzählte und ich wohl ein erschüttertes Gesicht machte, gestand er mir, noch unlängst habe er sich ein Leben außerhalb Russlands nicht im Traum vorstellen können. Denn die brutalen sozialen und politischen Kräfte, die das „Menschenmaterial“, wie er sich ausdrückt, zu zermalmen versuchen, waren immer auch die Nahrungsquelle für sein Werk.

Doch Moskau werde immer unsympathischer, sagte er. Das von Provinzlern und Asiaten auf der Straße gesprochene Russisch sei unerträglich. Von seinen Freunden seien mittlerweile so viele nach Berlin gezogen, dass er sich dort mehr zu Hause und weniger isoliert fühle als hier. Und da ich anscheinend immer noch ungläubig dreinschaute, fügte er hinzu: „Außerdem bin ich nicht mehr jung. Ich weiß das gute Leben zu schätzen.“ Bei unserem nächsten Treffen war es an mir, ihm zu eröffnen, dass meine Kulturbeobachtertätigkeit hier nicht ewig währen würde. Da lachte er sein unnachahmliches Lachen eines amüsierten Buddhas. „Da gibt es auch nichts mehr zu beobachten“, tröstete er mich väterlich. „Unsere Kultur ist ausgewandert oder eingegangen; und was noch übrig ist, dem bleibt bald auch nur das eine oder das andere übrig.“

Wer hingegen bleibt, ist der zweite Schriftstellerfreund, ein Diplomatensohn, der in Paris aufwuchs und dessen viel internationaler wirkende und so erfolgreiche sybaritisch-apokalyptische Prosa und Publizistik eher hätten erwarten lassen, dass er im Westen Anker wirft. Das Paradox besteht darin, dass seine „europäische“ Weltläufigkeit ihn zugleich dazu befähigt, die Frontlinien elegant zu überspielen – im Gegensatz zu seinem intuitionsgeleiteten, politisch geradlinigeren, vielleicht auch naiveren Kollegen.

Die Abende bei ihm erinnern an einen Salon, wo die freigeistige Prominenz sich zwanglos austauscht. Doch er macht auch den Marionettenführern des Kremls galante Komplimente. Das adelt sie und verschafft ihm wiederum Protektion. Zu Hause parliert er mit seinem niedlichen Töchterlein Französisch, während ihn seine feenhaft schöne blonde Frau umhegt.

Es ist merkwürdig, in einer Kultur zu leben, von der man das Gefühl hat, die politische Klasse habe sie aufgegeben. Die Staatsführung scheint den durchweg gut ausgebildeten Emigranten, die ihr durch ihr Gehen auch das Misstrauen aussprechen, keine Träne nachzuweinen. Zugleich kündigte Präsident Putin in seiner jüngsten Ansprache an die Nation an, Russland stehe ein harter Konkurrenzkampf um die intellektuellen Ressourcen bevor. Dabei hob er hervor, die Stütze der Gesellschaft sei die Intelligenz, also Ärzte, Lehrer, Hochschuldozenten, Wissenschaftler, Mitarbeiter von Kultureinrichtungen, die aber viel zu wenig verdienten.

Putin hatte schon den Kulturminister angewiesen, die Gehälter für Angestellte kultureller Institutionen des Staates auf mehr als das Doppelte anzuheben. Das führte dazu, da größere Finanzmittel aus dem Haushalt nicht zur Verfügung stehen, dass Kulturminister Medinski erklärte, nur „effektiven“ Lehrern würde das Gehalt erhöht. Um Putins Befehl zu erfüllen, will er radikal Stellen abbauen. Hanebüchen war sein Versuch, das Institut für Kunstwissenschaft zu zerschlagen. Den Mitarbeitern des Instituts, die für Hungerlöhne fundamentale Monografien und akademische Nachschlagewerke zu allen kulturellen Sphären und Epochen produzieren, warf er vor, sie seien vor allem an Dienstreisen in „warme Länder“ interessiert – womit, da Russland ein kaltes Land ist, die meisten ausländischen Ziele gemeint sein müssen.

Moskau hat sich innerhalb weniger Wochen schon wieder merklich verändert. An Metro- und Supermarktkassen, als Reinigungs- oder Pflegepersonal scheinen die Asiaten schon in der Überzahl zu sein. Kaukasier, die längst die Märkte dominieren, tun das neuerdings auch in einigen teuren Lokalen. Durchgehend slawisch bleiben vorerst die Polizisten und die allgegenwärtigen Wachleute, ebenso wie Museumspersonal und Musiker sowie das Konzert- und das Museumspublikum. Doch Russlands Kultur ändere sich, aufgeklärte Europäer würden zusehends durch unterwürfige Orientalen ersetzt, beklagte neulich eine Bloggerin beim Radiosender Echo Moskwy die Migrationspolitik des Kremls.

Die orthodoxe Patriarchatskirche, die die Position des Ideologiewächters übernommen hat, welche einst die KPdSU innehatte, scheint damit keine Probleme zu haben. In den Augen des hohen Klerus war das dunkle Mittelalter ohnehin das wahre goldene Zeitalter. In Moralfragen stimme man mit dem Islam de facto überein, wurde mir im Außenamt der Kirche verraten. Mit den Westkirchen, so sagte mir ein polyglotter, hochgebildeter Mann, habe man nur den Glauben an Jesus Christus gemein. Wenn Putin also jetzt sein Land als Insel der Stabilität empfiehlt, so übersetze ich mir das mit Stillstand – und also Rückschritt – in einer Welt, die sich rasant entwickelt.

Grüße aus dem Land des dichten Nebels, wo nur die Probleme wirklich ehrlich sind.

Kerstin Holm ist Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Moskau. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Moskaus Macht und Musen. Hinter russischen Fassaden“, Berlin (Die Andere Bibliothek) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.01.2013, von Kerstin Holm