11.12.2009

Ketchupsteuern

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Ketchupsteuern

von Serge Halimi

Hoch dosierte Finanzspritzen des Staats haben den Banken wieder auf die Beine geholfen. Die gehen damit gestärkt aus der Finanzkrise hervor und haben zudem für den Fall künftiger Turbulenzen gelernt, wie man den Staat in Geiselhaft nimmt. Und ausgerechnet jetzt warnen die westlichen Regierungen und ihre Zentralbanken vor einer Überschuldung.

Als die Regierungen unvorstellbare Summen zur Rettung von Goldman Sachs, Hypo Real Estate oder BNP Paribas aufbrachten, wurde das Schreckgespenst des Staatsbankrotts nicht beschworen. Jetzt aber kommt es zum Einsatz, um marktwirtschaftliche Prinzipien in Bereichen durchzusetzen, wo sie bislang noch nicht galten. Die durch verminderte Steuereinnahmen erhöhte Staatsverschuldung wird zum Vorwand für den Abbau von Sozialversicherung und öffentlichen Leistungen.

Vor einem Jahr hat man die Wirtschaftsliberalen schon fast für tot erklärt. Jetzt sind sie zu dem Weckruf „Die Kassen sind leer!“ wiederauferstanden. Und gehen fix zur Sache: Die neue Regierung in Berlin verspricht Steuererleichterungen in Höhe von 24 Milliarden Euro, obwohl für 2010 ein Haushaltsdefizit von 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwartet wird. Die britischen Konservativen wollen nach ihrem Wahlsieg die Unternehmensteuern senken. In Frankreich plant die Regierung die Abschaffung der Gewerbesteuer, die bisher den Gemeinden zukommt.

Einst pflegten die Konservativen für einen ausgeglichenen Haushalt einzutreten, selbst wenn das Steuererhöhungen bedeutete. Aber seit nunmehr dreißig Jahren lassen sie Staatsdefizite ganz bewusst zu. Als der US-Finanzminister 2002 Bedenken gegen die Pläne einer erneuten Senkung der direkten Steuern äußerte, erhielt er von Vizepräsident Richard Cheney die Antwort: „Reagan hat bewiesen, dass Haushaltsdefizite keine Rolle spielen.“

Cheney wollte offensichtlich daran erinnern, dass Reagan 1984 trotz einer Verdreifachung des Haushaltsdefizits in seiner ersten Amtsperiode mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde. Präsident Clinton konnte das Problem nicht so auf die leichte Schulter nehmen, zumal man Demokraten unterstellte, sie neigten schon deshalb zur Verschwendung von Staatsgeldern, weil sie keine Rechten seien. Heute muss Obama, um seine Gesundheitsreform zu retten, dem Kongress zusagen, dass diese die Staatsverschuldung um keinen einzigen Cent erhöht. Hat man so etwas schon einmal im Hinblick auf die militärischen Abenteuer der USA gefordert?

Unlängst verzichtete die französische Regierung auf 2,4 Milliarden Euro, als sie den Mehrwertsteuersatz für die Gastronomie um zwei Drittel senkte. Kurz darauf erhöhte der Staat – unter dem Vorwand der Steuergerechtigkeit – seine Einnahmen um 150 Millionen durch die Besteuerung von Tagegeldern für die Opfer von Arbeitsunfällen. An Reagan kommt Sarkozy dennoch heran: Der hatte zunächst die Steuern für die Reichen gesenkt, um später das Loch in der Staatskasse unter anderem mit einer höheren Steuer auf Ketchup in Schulkantinen zu stopfen.

Reagan begann seine politische Karriere als Gouverneur von Kalifornien. Von dort ging 1978 die weltweite fiskalische Gegenrevolution aus. Heute ist die kalifornische Staatskasse leer, das Haushaltsdefizit beträgt 26 Milliarden Dollar. Mitte November setzte die University of California die Studiengebühren um ein Drittel herauf. Zuvor hatte sie bereits 2 000 Angestellte entlassen.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2009, von Serge Halimi