08.03.2013

Vier Briefe aus Barcelona

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Vier Briefe aus Barcelona

von Javier Cercas

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28. Oktober 2012

Die seit der Großdemonstration am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, heftig aufgeflammten Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens machen mich fassungslos und besorgt.

Dass es in Katalonien Leute gibt, die wegen der Krise wütend und verzweifelt sind, kann ich sehr gut verstehen. Dass ihre Wut und Verzweiflung sie auf den Gedanken bringen, schlimmer als jetzt könne es nicht mehr werden, weshalb man lieber etwas riskieren solle, als weiterhin ohne jede Perspektive in dieser Sackgasse festzustecken, kann ich auch verstehen. Als Antwort darauf habe ich jedoch bloß eine Gewissheit und ein Geständnis anzubieten. Die Gewissheit lautet: Selbstverständlich kann es nicht nur schlimmer, sondern noch viel schlimmer werden (und in unserer Geschichte ist es fast immer schlimmer geworden). Und das Geständnis: Ich liebe riskante Abenteuer, aber nur in Romanen und Filmen, nicht in der Politik. In der Politik bin ich ein glühender Verfechter tödlichster Langeweile und schrecklichster Ödnis, nach Schweizer oder mindestens nach skandinavischem Vorbild (und innerhalb eines Systems, das an Langeweile alle anderen übertrifft, nämlich der Demokratie).

Deshalb bekomme ich Gänsehaut, wenn Artur Mas, der Anführer der nationalistischen Rechten und derzeitige Präsident der katalanischen Regierung, erklärt, auf dem Weg zur Unabhängigkeit müsse man sich „auf unbekanntes Terrain vorwagen“. Für Schriftsteller ist das in der Tat eine Pflicht – „zu neuem Funde wollen wir ins Reich / des Unbekannten tauchen bis zum Ende“, wie es bei Baudelaire heißt. Für demokratische Politiker dagegen sollte sich derlei verbieten. Wenn der Schriftsteller auf Abenteuerreise in den Abgrund stürzt, stürzt er allein. Wenn der Politiker abstürzt, reißt er uns alle mit. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, dass ich weder Nationalist noch Befürworter einer Unabhängigkeit Kataloniens bin.

Ich wundere mich, dass es in Katalonien immer noch Leute gibt, die nicht begreifen, dass links sein und Nationalist sein heute nicht mehr zusammenpassen. Und ich wundere mich über das Genie eines Herrn Mas, der es geschafft hat, die Katalanen dazu zu bringen, nicht mehr ihm die Schuld für ihre schlechte Lage zu geben, sondern Spanien. Wie ich mich über einen ehemaligen Präsidenten der autonomen Region Extremadura wundere, der erklärt hat, alle Leute, die einst als Binnenmigranten aus dieser armen Gegend nach Katalonien gezogen seien, sollten der Extremadura „zurückerstattet“ werden – als wäre unsereins ein Stück Vieh. Ebenso wundere ich mich, dass der katalanische Präsident, zu dessen Aufgaben es gehört, Gesetze zu machen und für ihre Einhaltung zu sorgen, verkündet, er werde sich über das Gesetz hinwegsetzen. Angesichts dessen wundert es mich umso weniger, dass ein nationalistisch-katalanischer Schriftsteller kaum verhohlen zum bewaffneten Aufstand aufruft oder dass ein nationalistisch-spanischer Politiker ein Eingreifen der Guardia Civil in Katalonien fordert.

Was mich aber am meisten wundert, ist die Behauptung scheinbar vernünftiger Persönlichkeiten, eine Abspaltung Kataloniens könne friedlich und ohne traumatische Folgen vonstatten gehen, wie überhaupt fast alle der Meinung zu sein scheinen, gewalttätige Übergriffe seien dabei ausgeschlossen. Herr im Himmel, haben wir aus der Geschichte nicht gelernt, dass nichts unmöglich ist und große Veränderungen sich fast immer unter blutigen Begleiterscheinungen vollziehen? Sind wir tatsächlich schon wieder so unvernünftig und mutlos geworden, dass wir keine zivilisierte Lösung für dieses Durcheinander finden können?

11. November

Diesen Brief schreibe ich zwei Wochen vor den Wahlen in Katalonien, die Artur Mas für den 25. November in der Hoffnung angesetzt hat, die absolute Mehrheit zu erreichen und auf dieser Grundlage die Unabhängigkeit in Angriff zu nehmen. Eines scheint schon jetzt sicher: Dies sind die wichtigsten Wahlen der spanischen Demokratie nach Franco, und das nicht nur für Katalonien. Abzustimmen ist diesmal über die Frage, ob das größte Problem Kataloniens die Unabhängigkeit ist, die all unsere Probleme lösen wird, oder bloß ein Nebelschleier, der unsere Probleme – die riesig sind – verdecken soll. Zur Bekämpfung unserer Ängste scheint es zurzeit kein besseres Mittel zu geben als die Einbildung, wir seien nicht selbst für unser Unglück verantwortlich. Und wir haben uns zu entscheiden: Ob wir uns unseren Problemen stellen oder ob wir ihnen ausweichen, indem wir sie Spanien in die Schuhe schieben und einem sich als Messias gebärdenden Technokraten hinterherlaufen.

Deshalb sind diese Wahlen nicht nur für Katalonien, sondern für ganz Spanien, vielleicht sogar für Europa von lebenswichtiger Bedeutung. Schließlich könnte Spanien zerfallen, sollte Katalonien den Weg der Abspaltung gehen. Und zerfällt Spanien, gerät auch das vereinte Europa – die einzig vernünftige politische Utopie, die wir Europäer in den vergangenen Jahrhunderten erdacht haben – ernsthaft in Gefahr.

6. Dezember

Seit Artur Mas’ Scheitern bei den katalanischen Wahlen – seine Partei verfehlte nicht nur die absolute Mehrheit, sondern verlor zwölf Sitze – fragen wir uns alle, was der Grund für diese krachende Niederlage gewesen sein mag.

Alle Umfragen sagten Mas einen Stimmenzuwachs voraus, manche verhießen ihm die absolute Mehrheit, und die Tageszeitung El Periódico de Catalunya veröffentlichte gar ein Umfrageergebnis, demzufolge auch 10 Prozent der Anhänger der PP die Unabhängigkeit befürworteten. Herr im Himmel, 10 Prozent der Anhänger der Partido Popular – wenn es eine Partei gibt, die man getrost als gesamtspanisch-nationalistisch bezeichnen darf, dann diese! Trotzdem schien sich niemand darüber zu wundern, bis auf die üblichen zwei, drei Idioten wie unsereins, die den strategischen Schachzug hinter dieser Behauptung zu erkennen glaubten.

Worin bestand dann aber Artur Mas’ Irrtum? Er hielt die scheinbare Einmütigkeit für echt. Anders gesagt, ihm fehlte die wichtigste Tugend eines Politikers, nämlich der Wirklichkeitssinn, so wie ihn Isaiah Berlin versteht: begreifen „was zueinanderpasst, was unter den gegebenen Umständen getan werden könnte und was nicht, welche Mittel in welcher Situation und in welchem Umfang anzuwenden sind“. Genauer: Artur Mas – jemand, der wenig Erfahrung mit der Realität der Straße hat und weder dieses Land noch seine Bewohner kennt, weil er sich kaum je außerhalb der Salons und Büros seiner Machtzentrale aufgehalten hat – nahm an, die Leute machten nicht mehr ihn, sondern Spanien für ihre schlechte Lage verantwortlich, und alle Welt glaube das Ammenmärchen, durch die Unabhängigkeit würden wir reich und glücklich.

Offen gesagt: Nachdem er bewiesen hat, dass ihm die wichtigste Tugend des Politikers abgeht, wäre er am besten zurückgetreten. Ist er aber nicht, und jetzt versucht er sich durch wilde Flucht nach vorn zu retten, wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschnitten hat. Zu seinem Glück begehen seine Gegner weiterhin Fehler um Fehler, so dass er es womöglich schafft, sich zu retten. Mal sehen.

3. Februar 2013

Die angeblichen Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens sind eine verwirrte Angelegenheit, wie sich in dem Durcheinander bei der hiesigen Linken zeigt, vor allem bei der PSC, also den katalanischen Sozialisten, die ein ziemlich deprimierendes Schauspiel bieten. Wir kennen das allerdings schon seit Beginn der Demokratie: Gefangen in den falschen Alternativen eines entweder katalanischen oder spanischen Nationalismus und unfähig zu einem Diskurs, der beide gleichermaßen zurückweist, war die Linke seit jeher in den katalanischen Nationalismus verstrickt und ist deshalb von Niederlage zu Niederlage getaumelt. Die Verwirrung liegt diesmal im „Recht, zu entscheiden“. Diesen Slogan haben die Nationalisten geprägt und ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gehievt.

Und genau da liegt das Problem: Dieser Slogan ist ein Euphemismus und ein Betrug. Ein Euphemismus, weil er die mehr oder weniger neue Berufung zur Sezession verbergen oder vernebeln soll; und ein Betrug, weil er Unabhängigkeit und das Recht, zu entscheiden, einfach gleichsetzt und so zum Besitz der Nationalisten macht. Wer jedoch, wie der Staatsrechtler Javier Pérez Royo schreibt, „das Recht, zu entscheiden zu seinem Besitz erklärt, erklärt die Demokratie zu seinem Besitz und schließt diejenigen, die diesen Anspruch infrage stellen, aus der Demokratie aus“. So hat die Linke aus Angst, aus der Demokratie ausgeschlossen zu werden, das Recht der Nationalisten, zu entscheiden, akzeptiert und deren Erpressung nachgegeben. Ein Riesenirrtum!

Denn auch wenn die Demokratie darin besteht, dass man das Recht hat, zu entscheiden, heißt das noch lange nicht, dass man über alles entscheiden darf, wozu man Lust hat. Ich habe zum Beispiel kein Recht, zu entscheiden, ob ich Steuern zahle oder nicht. Mit anderen Worten: Demokratie besteht darin, dass man das Recht hat, innerhalb des vom Gesetz vorgegebenen Rahmens zu entscheiden. Selbstverständlich kann ich das Gesetz verändern, doch das muss ich auf gesetzlichem Wege tun; schließlich ist einzig durch das Gesetz Freiheit und Gerechtigkeit garantiert, und die Möglichkeit der Schwachen, sich gegen die Mächtigen zur Wehr zu setzen.

Doch so, wie die Nationalisten und deren Komplizen den Weg zur Unabhängigkeit beschreiten wollen, haben sie vor, nicht nur das Recht, sondern das Recht aller Rechte, also die Verfassung, ohne jede Legitimation auszuhebeln. Allmählich scheint die PSC den Betrug zu wittern und sich ihm entgegenzustellen. Halleluja!

Soll das heißen, dass es in Katalonien keinesfalls ein Referendum über die Unabhängigkeit geben darf? Meines Erachtens nicht. In einer Demokratie ist alles, was nicht Gesetz ist, Gewalt. Für den Fall, dass eine eindeutige Mehrheit der Katalanen eindeutig die Unabhängigkeit wünscht, muss ein legaler Weg gefunden werden, um ein entsprechendes Referendum abzuhalten. Das heißt nicht, dass das kein riskantes Unterfangen wäre; viel riskanter aber wäre es, eine Mehrheit der Katalanen zu etwas zu zwingen, was sie nicht möchten.

Gibt es bereits eine solche Mehrheit? Bei den letzten Wahlen haben die Parteien, die eindeutig für die Unabhängigkeit sind – ERC und CUP –, 24 von 135 Sitzen errungen, also rund 17 Prozent. Addiert man die Hälfte der Abgeordneten von Artur Mas’ konservativer Partei CIU dazu (eine großzügige Rechnung, denn CIU hat sich nie offen für die Unabhängigkeit ausgesprochen), dann wären das zusammen 49 Abgeordnete, also rund 36 Prozent. Eine beachtliche Minderheit, aber eben eine Minderheit. Wenn aus dieser Minderheit eine Mehrheit wird – falls es tatsächlich so weit kommen sollte –, dann wird man darüber sprechen müssen. Einstweilen jedoch ist jeder, der an die Demokratie glaubt, verpflichtet, zu verhindern, dass in dieser Demokratie jemand wider das Gesetz die Macht an sich reißt.

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen Javier Cercas ist Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Auf Deutsch ist zuletzt von ihm erschienen: „Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde“, Frankfurt am Main (Fischer) 2011. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.03.2013, von Javier Cercas