13.08.2010

Anstelle der Ehre

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Anstelle der Ehre

von Katharina Döbler

Wer erinnert sich noch an „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“? Ein Buch, das 1974 erschienen ist. Heinrich Böll, das literarische Gewissen der frühen Bundesrepublik, erzählte darin die Geschichte einer jungen Frau, die im Zuge der damaligen Terrorismushysterie öffentlich verdächtigt und von den einschlägigen Medien gehetzt wird. Es ist ein Roman, alles rein fiktiv also, aber: „Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“

Der Roman endet damit, dass Katharina Blum, die eigentlich Unschuldige und bislang Unbescholtene, den Reporter, der sie verfolgt hat, der ihren Ruf ruiniert und ihre kranke Mutter auf dem Gewissen hat, schließlich umbringt. Der Untertitel des Buchs heißt dann auch noch: „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann.“

Das klingt für uns heutige Zeitgenossen alles sehr didaktisch, moralistisch, naiv und sehr, sehr lange her. Aber nimmt man die Stichworte auf und schüttelt sie im Kaleidoskop der Geschichte ein bisschen durch, ergibt sich am Ende durchaus ein stimmiges Bild für die Gegenwart: Medien. Gewalt. Ehre.

Die Macht der Medien gibt es weiterhin, aber vor der Gewalt der Bild-Zeitung hat inzwischen niemand mehr Angst: Sie hat ihr Gewicht als Leitmedium für die Massen verloren. Das ist vielleicht eine gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass mediale Gewalt nicht weniger, sondern mehr geworden ist. Die Boulevardzeitung von einst erscheint im Vergleich zu dem, was wir heute auf der Skandalskala haben, etwa so eindrucksvoll wie ein Säbel gegenüber einer Maschinenpistole. Zwischen Katharina Blum und Britney Spears liegen mehr als drei Jahrzehnte.

Wir leben mit der Allgegenwart eigentlich skandalöser Bilder, einer Welt, die sich spiegelt in den hämischen Bildern ganz normaler Zeitgenossen im Fernsehen, pornografischen Bildern zu Werbezwecken in jedem Bushäuschen, virtuellen Bildern von Massenmorden auf dem Computer im Kinderzimmer.

Außerdem leben wir recht selbstverständlich damit, dass alle möglichen höchst uninteressanten Leute die Peinlichkeiten, Freuden und Verirrungen ihres Lebens mehr oder weniger genüsslich im Internet und in Fernsehshows ausbreiten und sich dabei keinerlei Gedanken um ihren Ruf oder gar den Verlust ihrer Ehre machen.

Ja, Ehre. Denn abgesehen von der Veränderung der Medienlandschaft seit den 1970er Jahren: Bölls Geschichte wirkt auch deswegen so naiv auf uns, weil er mit diesem Begriff operiert, ein Begriff, den heutzutage kein Mensch mehr benutzt – es sei denn in Festtagsreden und Höflichkeitsfloskeln.

Es ist mir eine Ehre, sagt man, heute den Herrn Soundso hier bei uns begrüßen zu dürfen. Man sagt es, wenn Herr Soundso ein gewisses soziales Prestige besitzt und nicht gerade dafür bekannt ist, dass er Handtaschen klaut. Wenn er größere Vermögenswerte auf die Cayman Islands transferiert, macht das allerdings nichts. In diesem Sinn – als Höflichkeitsfloskel, als Redewendung, als sprachliche Reverenz an die Verdienste oder Stellung des Herrn Soundso – kommt dieses Wort noch vor. Aber nicht mehr als moralischer Standard, als einen Wert, den jeder und jede besitzt und zu verteidigen hat und durch falsches – eben unehrenhaftes – Verhalten verlieren kann.

Bei meiner Ehre! Das hört sich für uns heutige Zeitgenossen eher verdächtig an als besonders vertrauenswürdig. Der hohe Wert eines Ehrenworts ist sowieso spätestens seit Uwe Barschels berüchtigter Rede vom September 1987 nahe null gesunken. Auch dass jemand ein Ehrenmann sei, wird kaum noch gesagt – es sei denn, es ist von einem Mafioso die Rede.

Es wäre interessant, herauszufinden, ob dergleichen überhaupt noch gedacht wird – wenn auch vielleicht in anderen Worten. Und was heutzutage einen Ehrenmann ausmacht.

Eine Ehrenfrau dagegen im analogen Wortsinn gab es nie. Es gab allenfalls ehrbare Frauen, und das waren solche, die außerhalb der Ehe nicht sexuell aktiv waren. Weibliche Ehre war von jeher sexuell definiert: über Jungfräulichkeit und eheliche Treue.

„Die Unschuld des Mannes heißt Ehre. Die Ehre der Frau heißt Unschuld“, schrieb Marie von Ebner-Eschenbach im 19. Jahrhundert in einem ihrer spitzen Aphorismen. Dieser Ehrbegriff für Frauen ist in unserem Kulturkreis fast ganz verschwunden. Wahrscheinlich würden sich die meisten Frauen hier und heute mehr „in ihrer Ehre gekränkt“ fühlen, wenn man sie als unsexy bezeichnete, als wenn man ihnen den Verlust ihrer Jungfräulichkeit vorhielte.

Im Übrigen besteht ein wesentlicher Teil der weiblichen Emanzipation darin, dass sexuelle Selbstbestimmung eben keinen Verlust der Ehre bedeutet. Aber wo ist sie dann, die Ehre der Frauen? Worin besteht sie? Und worin liegt die Ehre der Männer, wenn sie nicht im Einhalten mafioser Kodizes besteht?

Als Heinrich Böll vor fast vierzig Jahren seiner Katharina Blum, einer einfachen Hausangestellten, den hohen Begriff der Ehre zur Seite stellte, tat er das auch, um sie von der Niedrigkeit einer bestimmten Art von Öffentlichkeit abzuheben.

„Was ist Ehre?“, schrieb Albert Camus. „Das, was mich aufrecht erhält.“ Das klingt in seiner heldenhaften Lakonie ziemlich cool, auf altmodische Weise, wie die Zigarette im Mundwinkel, mit der er sich fotografieren zu lassen pflegte. Aber „aufrecht“: das ist auch so eine Vokabel, die außer Gebrauch geraten ist, zumindest als ernstgemeintes Attribut. Ironisch benutzt man es noch, mit diesem herablassenden Augenzwinkern, das die Gegenwart für das Gestrige, das längst Überholte hat: Ein aufrechter Mensch, das heißt, er ist ein bisschen dumm, und das womöglich auch noch aus Prinzip. Und Prinzipien benutzt man privat ebenfalls nur noch selten, es sei denn, um sie zu reiten.

Ehre und das, was damit zusammenhängt, scheint ein Komplex zu sein, den eine fortschrittliche Gesellschaft aufatmend hinter sich lässt. Wir können froh sein, wir sollten es sein, dass wir Sinnsprüche wie „Meine Ehre heißt Treue“ auf den Koppelschlössern der SS tatsächlich hinter uns gelassen haben und dass es keine Gesetze „zum Schutz der deutschen Ehre“ mehr gibt. Wir können auch froh sein, dass man einander nicht mehr wegen einer Beleidigung bei Morgengrauen feierlich über den Haufen schießt oder durchbohrt. „Und [er] stieß ihm, nachdem er ihn aufgefordert hatte, seine Ehre ihm wieder zu geben, den Degen durch den Leib“, berichtet Schiller. Wir können auch froh sein, dass der Verlust weiblicher Unschuld keinen Mord mehr rechtfertigt.

Solche Verbrechen, die im Namen der Ehre begangen wurden – und in vielen Gesellschaften oder Gruppen noch immer begangen werden –, sind ein starkes Argument gegen jeden Ehrbegriff. Wahrscheinlich sind sehr viele unserer hiesigen Zeitgenossen der Ansicht, es ginge auch ohne.

Robert Musil hat in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ behauptet, die entscheidenden Vorgänge des Lebens – zu denen er neben Politik, Krieg und Kunst die Ehre zählte – vollzögen sich jenseits des Verstands. „Die Größe des Menschen wurzelt im Irrationalen“, schreibt er.

Und die Größe des Menschen einfach als historischen Ballast über Bord zu werfen und damit die hohe Meinung des Menschen von sich selbst, wie sie in einem Wort wie Humanität zusammengefasst ist: das ist kaum möglich, ohne in einer traurigen – hier hilft wieder nur das sehr alte Wort – Niedrigkeit zu landen.

Für Migranten, die aus einer von klaren Wertordnungen bestimmten Umgebung kommen, muss diese seltsame Leerstelle in unserer psychosozialen Verfassung erschreckend sein. Wir haben Gesetze, aber keinen Ehrenkodex. Einen Rechtsstaat, der gewisse Sicherheiten, aber keine Orientierung bietet. Wir hatten einst die christlich-katholische Definition der sieben Laster, die als Wurzeln der Sünde gelten, als da sind: Hochmut, Habgier, Wollust, Völlerei, Trägheit des Herzens und Geistes, Neid, Zorn. Mit den meisten dieser Vokabeln wären die psychologischen Bedingungen, auf denen der Turbokapitalismus beruht, ziemlich treffend benannt.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.08.2010, von Katharina Döbler