08.10.2010

Der Glaube an den unendlichen russischen Wald

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Der Glaube an den unendlichen russischen Wald

Anfang August wandte sich ein Blogger aus Twer an Putin. Sein Dorf stand in Flammen, und er sehnte sich zurück in die „guten alten Zeiten“ der Brandbekämpfung nach sowjetischem Vorbild. Damals gab es eine Glocke, einen Teich und einen Förster, ausgestattet mit einer Schaufel und dem staatlichen Wappen zum Schutz der Wälder auf der Mütze.

Der Bericht des Bloggers war nicht übertrieben. Die Lage in Zentralrussland war in der Tat dramatisch. Einen Monat später bekannte Präsident Medwedjew, dass der Staat massiv versagt hat, und kündigte Verbesserungen an.

Umweltkatastrophen fallen in der Regel nicht vom Himmel. Es gibt immer Experten, die frühzeitig warnen, was alles passieren könnte, und entsprechende Vorschläge machen. So war es auch bei den Bränden vom Sommer 2010, deren Ausmaße heute noch immer nicht feststehen, weder was die Anzahl der Opfer noch was die Größe der verbrannten Flächen betrifft.

Einige direkte Ursachen sind leicht auszumachen. So erprobte die Regierung ausgerechnet in diesem Sommer, als Zentralrussland von einer außergewöhnlichen Hitzewelle heimgesucht wurde, ein neues Verfahren des Krisenmanagements, das sich offensichtlich als untauglich erwies. Die mittelbaren Ursachen reichen hingegen bis in die beiden postsowjetischen Jahrzehnte und in die Sowjetära zurück.

Der Zerfall der UdSSR 1991 und die anschließende Wirtschaftskrise hatten unter anderem zur Folge, dass die Zentralregierung sich ihrer staatlichen Aufgaben praktisch ganz entledigt hat. In der staatlichen Forstverwaltung arbeiteten damals über 150 000 Förster. 1993 wurde ein Gesetz erlassen, das ihnen unter bestimmten Bedingungen erlaubte, auf eigene Rechnung Holz zu fällen und zu verkaufen – als Kompensation für nicht gezahlte Löhne und zeitweilig ausbleibende staatliche Zuwendungen. Es ist also kaum verwunderlich, wenn diese Leute in den Jahren nach 1993 mehr Arbeitszeit und Mühe für die kommerzielle Rodung als für den Forstschutz aufbrachten.

Nachdem das erst 1988 unter Michail Gorbatschow gegründete Umweltministerium im Jahr 2000 aufgelöst worden war, wurde die Forstaufsicht, die ohnehin nur noch wenig zu sagen hatte, dem Minister für natürliche Ressourcen unterstellt. Gorbatschow wollte mit seinem neuen Ministerium die Zuständigkeiten für die Ausbeutung von Bodenschätzen und den Umweltschutz voneinander trennen. Genau dieser sinnvolle Schritt wurde wieder rückgängig gemacht, als die Forstaufsicht und das frühere Umweltministerium an das für die Ausbeutung von Bodenschätzen zuständige Ministerium angegliedert wurden. Putin wollte die Erdölindustrie wieder in Schwung bringen, die Auflagen eines Umweltministeriums wurden da nur als störend empfunden.

Noch ein Zeichen für den infrastrukturellen Niedergang war die heillose Überforderung des Personals der Überwachungs- und Löschflugzeuge. Die Awialesochrana, die Luftüberwachung der Wälder, umfasste 1995 noch 7 000 Einsatzkräfte. 2006 wurden sie auf 3 000 reduziert. Im Ministerium für Katastrophenschutz wird außerdem beklagt, dass das Geld nur für drei der sieben Löschflugzeuge reichte, die vor der Sommersaison 2010 bestellt worden waren.

Die Einführung eines neuen Forstrechts im Jahr 2007 war der letzte Schritt, mit dem sich der Staat aus der Prävention und dem Kampf gegen Waldbrände zurückzog. Nach dem neuen Forstrecht sollte die zentralstaatliche Verantwortung auf die Regionen und Gebiete der Russischen Föderation übergehen. Zudem wurde die Zuständigkeit auf sechs Ministerien aufgeteilt, zu denen das Katastrophen-, das Innen- und das Verteidigungsministerium gehörte. Doch um die wichtigsten Aufgaben, den langfristigen Schutz der Wälder, die Instandhaltung der Infrastruktur, die ganze Ausrüstung, die Notfallpläne und die Bereitstellung der notwendigen Mittel (bis hin zu Treibstoffreserven) sollten sich die Regionalbehörden fortan selbst kümmern. Im Ernstfall sollten sie die Landwirte und Anwohner mobilisieren, um die Brände überhaupt löschen zu können.

Kaum war das Gesetz erlassen, kamen von den Regionalgouverneuren zwei gewichtige Einwände. Sie gingen erstens davon aus, dass ihre Behörden nicht imstande wären, eine solche Verantwortung zu übernehmen. Vor allem aber fürchteten sie, dass man ihnen nicht die nötigen Gelder zur Verfügung stellen würde. Auch Forstwirtschaftler und Umweltorganisationen leuchtete das neue System der dezentralen Zuständigkeiten nicht ein. Ein Flächenbrand kümmert sich schließlich nicht um Verwaltungsgrenzen.

Es gab weitere offene Fragen: Können Informationen, Know-how und Erfahrungen zwischen den Regionen intensiv genug ausgetauscht werden? Und sind im Zeitalter der Satellitenüberwachungssysteme – einer Technologie, die hohe Kompetenz und eine einheitliche Organisation auf nationaler Ebene verlangt, um sich in das weltweite Netz einzufügen – die einzelnen Regionen überhaupt mit den geeigneten Hilfsmitteln auszustatten?

Zudem liegt die Pflege der russischen Wälder seit langem im Argen. Die holzverarbeitende Industrie bietet das paradoxe Bild, dass sie, obwohl Russland über 23 Prozent der globalen Waldreserven verfügt, nur 2 Prozent des verarbeiteten Holzes produziert. Die wenigen holzverarbeitenden Unternehmen sind auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig, weil sie kaum investieren und mit ihren veralteten Geräten zu ineffektiv arbeiten.

Das liegt zum großen Teil am sowjetischen Erbe und am Glauben an die „unendlichen“ russischen Wälder. Die staatliche Holzindustrie war seit den 1930er Jahren eine der wenigen produktiven Branchen des Gulagsystems, weil sie in den Lagern über ein kostenloses Arbeitskräftereservoir verfügte. Da es keinen Anreiz zur Modernisierung gab, blieb dieses System bis zum Ende der UdSSR fast unverändert erhalten: Der Haushalt des Ministeriums wie auch die Einkommen der Förster hingen allein von der Menge des geschlagenen und nicht etwa des verkauften Holzes ab. Ein großer Teil wurde also oft einfach liegen gelassen.

Schließlich stellen die Waldbrände auch ein großes Gesundheitsproblem dar, das von den hohen Konzentrationen an Kohlendioxid und Kohlenmonoxid herrührt. Im Sommer 2010 mussten die Bewohner der Region Moskau wochenlang den giftigen Rauch der Torfbrände einatmen.

Auch hier rächen sich die Fehler der Vergangenheit. Bis in die 1980er Jahre hinein hatte das Ministerium für Bodenverbesserung und Wasser große Teile der riesigen Torfmoore trockenlegen lassen, um sie für die Landwirtschaft zu erschließen. Aber statt den Torf abzuräumen, wurde er einfach liegen gelassen. Daran hat sich seither nichts geändert, so dass jeden Sommer das Gleiche passiert: Der leicht brennbare Torf entzündet sich und sondert giftige, für Mensch und Umwelt schädliche Dämpfe ab.

Schon lange empfehlen Wissenschaftler, diese Torfmoore wieder zu bewässern. Als Erstes müsste dabei eine detaillierte Liste der Gefahrenzonen erstellt werden. Für die Region Moskau, die in diesem Sommer besonders betroffen war, existiert eine solche Liste bis heute nicht.

Marie-Hélène Mandrillon

Marie-Hélène Mandrillon ist Historikerin und beschäftigt sich mit der Umweltpolitik in Russland. Sie arbeitet beim Centre d’Études des Mondes Soviétique, Caucasien et Centre-Européen (Cercec), CNRS/EHESS, Paris.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2010, von Marie-Hélène Mandrillon