13.10.2006

Tauben auf dem Sims

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Tauben auf dem Sims

Ein Teegespräch im Vatikan von Mathias Greffrath

Der Vikar klopfte, zum dritten Mal. Wieder nichts. Er holte tief Luft und öffnete vorsichtig die Tür. Der Papst stand am Fenster, blickte in den grauen Himmel über Rom und fütterte die Tauben auf dem Sims seines Arbeitszimmers.

„Heiliger Vater?“ Benedikt drehte sich um, die Tauben flogen auf. „Stellen Sie es auf die Erde“, sagte er und schloss das Fenster.

Das Beistelltischchen war mit Zeitungen vollgepackt, nicht alle vom Tage, wie der Vikar bemerkte. Er bückte sich, balancierte dabei mit der Linken das Tablett mit dem Eisenkrauttee und den Butterbroten und schob mit der Rechten einen Bücherberg zur Seite. Dostojewski, Heidegger, Jaspers, Steinbüchels „Umbruch des Denkens“, unten die Dialoge des byzantinischen Kaisers Manuel II., ganz oben der „Steppenwolf“. Der Stapel kippte fast, trockenes Lachen kam vom Fenster: „Prekäre Position, nicht wahr?“

Der Vikar entschloss sich zu einem vagen „Ja, Heiliger Vater“.

„Ich meine nicht Sie, ich meine Regensburg. Jetzt sind alle gegen mich, nicht nur die Islamischen, die wüten, ich hätte ihren Gott vernunftunfähig genannt. Nun wildern auch noch die atheistischen Intellektuellen in der Theologie und empören sich, ich wolle die Vernunft unter Kuratel der Kirche stellen, deren Geschichte ich schönredete. Und ein Professor aus Bochum haut mir falsche Kant-Zitate um die Ohren. Man hätte das ja auch anders verstehen können: als Aufruf an die Universität, wieder zu einem Kosmos der Vernunft zu werden. Na ja, immerhin lesen sie jetzt die Heilige Schrift …“ Benedikt lachte bitter. Der Vikar reichte ihm die Tasse und ging rückwärts zur Tür. Dann kam, was er befürchtet hatte: „Und was meint die Jugend, mein lieber Tomaso?“

„Die Jugend ist fröhlich, und wir werden immer kultiger“, antwortete der Vikar, „denken Sie an Köln, Heiliger Vater …“

„Ach Köln“, unterbrach ihn der Papst, „Sie wissen doch, ich mag diesen Liebesevent-Katholizismus nicht, diese seichte Gitarrenseligkeit, diese flüchtigen Räusche. Sie enttäuschen mich.“

Er blickte den Vikar an, mit diesen blauen Augen, die immer zwischen gütig und sehr hart changierten. „Sagen Sie mir, was die wirklich denken. Die da draußen. Die Jungen. Sagen Sie es mir.“ Tomaso wollte beiseite blicken, aber die Augen hielten ihn fest. „Ihre Geschwister etwa, was denken die?“

Ein geschickter Zug, dachte der Vikar und überlegte einen Augenblick.

„Nun?“, kam es vom Beistelltisch, sanft und sehr bestimmt.

„Nicht viel anderes als die in Köln, Heiliger Vater. Sie spüren Kraft in sich, aber sie blicken durch und sehen deshalb keine gute Zukunft. Die Wirtschaft, das Klima, das Elend im Süden, die Dekadenz, die Ohnmacht der Mächtigen, all das. Mein Bruder hilft den Anti-Globos mit Software, meine Schwester kämpft gegen die Krankenhausbürokratie. Sie tun, was sie können … Sie glauben, es muss einen großen Aufbruch geben. Vielleicht erhoffen sie den ja von uns.“

Er wollte schon aufhören, aber dann brach sich etwas Bahn, ohne dass er es wollte: „Vielleicht haben das auch die Studenten in Regensburg erwartet, und die Öffentlichkeit, und nicht …“

„Und nicht was, Tomaso?“ Die Stimme war nicht mehr sanft.

„Nicht theologische Subtilitäten über die Logosverehrung der alten Griechen als Teil des wahren kirchlichen Glaubens, über den Voluntarismus des Duns Scotus als ein Schritt zur Reformation, zur Verkürzung der Vernunft, zum Subjektivismus der Mystik, zur modernen Vermenschlichung Jesu.“

Der Papst stellte die Tasse vorsichtig auf den Zeitungsstapel und ging eine Weile auf und ab. „Das war jetzt Ihre Meinung, Tomaso, und nicht die Ihrer Geschwister?“

Der Vikar horchte auf. Das klang wie eine Frage und zugleich wie eine Feststellung. In dem Ton, schoss es ihm durch den Kopf, hat er mit Leonardo Boff geredet, als er noch Großinquisitor war und die Brasilianer fertigmachte. Dann dachte er an seinen Bruder, der nächtelang am Computer saß und alles über die Machenschaften von Monsanto in Indien wusste, an seine Schwester, die fast jedes Wochenende eine Wohngemeinschaft von Dementen betreute. Und dann nahm er allen Mut zusammen: „Heiliger Vater, ich glaube, viele, die den Glauben leben, können mit Ihrem Begriff ‚Relativismus‘ wenig anfangen. Nicht jeder Mensch, der nicht an unseren Gott glaubt, ist ‚verkürzt‘, wie Sie in Regensburg sagten. Nicht jeder ohne Kirche verfällt der ‚Pathologie der Vernunft‘. Es gibt gemeinschaftsbildende Kräfte und Ethos …“

„Außerhalb des Glaubens an Gott?“

Das kam wie ein harter Aufschlag, und ohne nachzudenken – denn für Hinhaltetaktik, so glaubte er, war es ohnehin zu spät –, schlug der Vikar den Return: „Ich kenne hochmoralische Menschen, die keine Ahnung von der Trinität haben, oder sie in irgendeiner Hindi-Variante stammeln, aber eine Einheit von Geist und Körper und Seele leben, vor der ich erblasse. Und ich kenne Biologen, die in der Millionen Jahre alten Geschichte irgendeiner Zelle die Evolution verehren, so fromm, dass ich neidisch werden könnte …“

„Die Evolution verehren, Tomaso?“

„Warum nicht. Wäre das nicht besser, als die Evolution zu verdammen und zu glauben, dass Gott die Menschen vor 6 000 Jahren aus Lehm geknetet hat, damit sie jetzt mit Geländewagen in die Shopping Mall fahren?“

„Sie reden von Amerika, und von Protestanten, Tomaso, von genau der unheilvollen Spaltung in Glauben und Vernunft, die unser katholisches Bekenntnis vereint. Es stimmt: Dieser Zustand ist für die Menschheit gefährlich, in welcher Form auch immer Fundamentalismus oder Hedonismus daherkommen. Wir müssen die Einheit wieder herstellen.“ Der Papst blickte an die Decke und fügte leise hinzu: „Das jedenfalls meinte ich in Regensburg.“

„Es gibt aber kein „wieder“, versetzte der Vikar und erschrak über den Klang seiner Worte. Es war dunkel geworden. Eine Weile hörte man nur das Gurren der beiden Tauben.

Der Papst setzte sich auf den Diwan am Fenster. „Die Kategorie des Novum also“, sagte er, mehr zu sich selbst. „Setzen Sie sich zu mir, Tomaso. Bringen Sie die Butterbrote mit. Und dann erzählen Sie mir, wie Sie das Neue sehen.“

Der junge Theologe durchquerte das Zimmer, bedacht, den Bücherstapel nicht umzustoßen, und goss Tee nach. In Benedikts Augen sah er den Anfang einer Frage. Und leise sagte er: „Wir sind eine Milliarde. Noch. Aber als Kirche verlieren wir, in Deutschland kommen nur noch auf halb so viel wie vor fünfzehn Jahren, in Lateinamerika, wo wir so stolz waren, haben wir zehn Prozent an die Evangelikalen verloren.“

Er dachte bei sich: Ihnen, Kardinal Ratzinger, muss ich nicht erzählen, warum. Stattdessen sagte er: „Die Menschheit ist in höchster Gefahr, sagen Sie selbst. Klima, Kapitalismus, Krieg, Konsumismus – wer nur ein bisschen nachdenkt, weiß das. Und verzagt, weil nur noch große, globale Lösungen helfen. Die Menschheit könnte einen neuen Glauben gebrauchen. Einen gemeinsamen, damit sich die Großgruppen nicht gegenseitig bedrohen. Vielleicht haben Sie ja an diese Bedrohung gedacht, Heiliger Vater, als Sie ausgerechnet einen von Muslimen belagerten Christen für Gewaltlosigkeit plädieren ließen, im Zitat dieses Kaisers aus Byzanz, das den ganzen Ärger …“

Der Papst winkte ab.

„Ich glaube also“, fuhr Tomaso fort, „dass wir, die wir uns Einheitskirche nennen, uns übernehmen, wenn wir meinen, das Heil führe über nur eine Kirche. Wir hatten das ja schon mal, mit Reformation, Galileo und der Entdeckung Amerikas, auch der Islam war schon da. Aber damals gab es Leute im Vatikan, die all diese Erweiterungen unserer Welt jubelnd begrüßt, sich der neuen Lage gestellt, an einem neuen Glauben gearbeitet haben. Einem Glauben über allen Religionen, in dem jeder seinen Gott behalten konnte, in vielen Formen, und der doch mehr war als ein blasser Humanismus, der nichts zum Verehren hergibt. Aber die Päpste, ins Weltliche verstrickt, haben es nicht gewagt. Und die Folgen tragen wir seit vierhundert Jahren, diese blöden Kämpfe gegen die Wissenschaft, all die halben Sachen. Aber das muss ich Ihnen nicht erzählen …“

„Die drei Primalitates des Campanella, ich weiß es, Tomaso. In allem ist Macht, oder Selbstbehauptung, in allem ist Weisheit, oder eine Erkenntniskraft, in allem ist Liebe, oder ein Streben zueinander. Diese Dreieinigkeit ist in allen Menschen, allen Wesen. Und über allem ist das Gottesgestirn, die Sonne, und unter ihr, sie verehrend neben Gott, die friedliche Vielfalt der Religionen …“

„Was nicht gleichbedeutend mit Relativismus ist …“

„Nein, so etwas hätte uns die Spaltungen der Moderne erspart, aber es ist nicht mehr als ein schönes Gedicht, ein Traum. Wer hätte die Autorität gehabt, diese Ordnung einzusetzen, um 1600? Eine so spirituelle wie machtvolle UNO? Nein, selbst wenn wir es gewollt hätten … Jesus hat die Macht verschmäht …“

„Das stimmt für damals, Heiliger Vater, aber heute müssen wir es denken und wollen, sonst explodiert der Planet, und wir haben bessere Ausgangsbedingungen. Und theologisch sehe ich keine Probleme, dass wir es nicht wenigstens … befördern könnten. Der Sonnengesang des Franziskus und die Solartechnik zusammenbringen, das liegt doch auf Ihrer Linie, oder? Neuzeitliche Vernunft, verankert in der Verehrung Gottes. Sagten Sie in Regensburg nicht etwas dieser Art?“

Der Papst lachte. Und schwieg.

„Punkt für Sie, Tomaso“, sagte er schließlich und wischte sich die Augen, „danke für das Colloquium. Und nun: Was schlagen Sie vor, junger Mann? Ein Konzil zur Rettung der Welt? Einberufen von Benedikt XIV., mit Einladung an alle anderen Päpste?“

Der Vikar ging zum Fenster. Auf dem Sims kopulierten die Tauben. Er wandte sich wieder zum Papst und sah in die blauen Augen: „Nein. Wir wissen doch, Küng hin oder her, das bringt nichts. Aber ein Konzil wäre schon gut, würde uns nach vorn bringen. Und die neue Neuzeit – das ist das Solare Zeitalter. Oder die Verdüsterung der Sonne, nicht nur metaphorisch. Ein Konzil all derer, die irgendwo auf der Erde für deren Fortbestand kämpfen, aber deren Machtquanten zu klein sind. Welche Herausforderung für eine mächtige, reiche, alt gewordene Kirche? Ein Jungbrunnen, oder?“

„Der Papst als Oberhaupt der NGOs? Als Anführer des Exodus?“ Benedikt schüttelte, wenn auch milde, den Kopf.

„Na ja“, entgegnete Tomaso, „nicht als Oberhaupt. Eher als eine Art Moderator. Und unser Sozialberater Camdessus könnte ja welche von der anderen Seite einladen, alte Kumpel vom Währungsfonds. Und als Papst“, – der Vikar zögerte – „als Papst könnten Sie natürlich Campanella heiligsprechen. Als ein deutliches Signal an die Wissenden.“

„Jetzt aber raus, mein Lieber. Der Vatikan als Verwirklichung des Sonnenstaats, jetzt reicht’s. Ich habe noch zu tun. Und Sie gehen an Ihre Dissertation, sonst wird nie etwas aus Ihnen.“

Der Papst erhob sich vom Diwan. Es war jetzt ganz dunkel, und seine Augen waren nicht zu sehen. Als der Vikar die Tür geschlossen hatte, ging er zum Schreibtisch. Dabei stolperte er über den Bücherstapel. Er knipste die Lampe an und bückte sich. Das erste Buch, das er griff, waren „Die Brüder Karamasow“. Es hatte sich geöffnet, wo das Kapitel mit der „Legende vom Großinquisitor“ beginnt.

Benedikt lächelte. Er glaubte nicht an Zeichen, eher schon an Zufälle.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von Mathias Greffrath