15.12.1995

Toropez oder Eine Stadt entdeckt die neue Zeit

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Toropez oder Eine Stadt entdeckt die neue Zeit

AM 17. Dezember wählen die Russen ein neues Parlament. Ihre Stimmabgabe ist zugleich Urteil über den Prozeß der Umgestaltung. Wie nimmt die russische Provinz die Reformen auf, die das Land erschüttern? Fern von Moskau und den dort gärenden Unruhen findet Toropez, eine kleine Stadt ohne Turbulenzen, zu ihrem vergessenen Glanz als regionales Handwerks- und Handelszentrum zurück, auch wenn nicht alles zum besten steht.

Von unserem Sonderkorrespondenten JEAN RADVANYI *

Er steht oben auf dem mittelalterlichen Rasenhügel, der Toropez überragt, und ist sichtlich stolz, der stellvertretende Direktor der Bezirksverwaltung. Stolz auf das Panorama von Seen und Wäldern, die seine 420 Kilometer westlich von Moskau gelegene Stadt umgeben. Stolz auf die Ruhe, die sie ausstrahlt, fernab der hauptstädtischen Spannungen, mit ihren mehr als zehn Kirchen, die Jahrzehnte des Verfalls – wenn nicht der absichtlichen Zerstörung – überstanden haben, mit ihren kleinen Straßen voller herausgeputzter Isbas und ihrem Zentrum, das von einstöckigen Kaufmannshäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert bestimmt wird. „Toropez wurde 1074 gegründet“, fügt er an, „lange vor Moskau ... Alexander Newski wurde hier getraut, und Peter der Große hat unserer Stadt Handelsprivilegien gewährt, denn sie lag an der Handelsstraße der Waräger ...“

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, die Stadt bleibe von den Veränderungen verschont. Die Mehrzahl ihrer 15000 Einwohner lebt in gut instand gehaltenen Holzhäusern, von denen derzeit viele ausgebaut werden. Der Garten ringsherum, mit Gewächshaus und Hühnerstall, wird sorgfältig bestellt. Wie diese Privathäuser, so haben auch die zweistöckigen, direkt nach dem Krieg errichteten Sozialbau-Wohnblocks kein fließendes Wasser – man schöpft es aus Brunnen. Die öffentlichen Einrichtungen arbeiten normal: Es gibt Schulen und Kindertagesstätten, außerdem das Kulturhaus, welches als einziges modernes Bauwerk (aus den achtziger Jahren) das Stadtzentrum entstellt. Auch die Busse, klapperige Vehikel, verkehren – sowohl in der Stadt als auch zu den umliegenden Dörfern. Eingestellt wurden hauptsächlich Linien, die verschiedene Regionen miteinander verbanden.

Dies verdankt sich einer Verwaltung, die es sich zur Hauptaufgabe gemacht hat, die vorhandene Infrastruktur aufrechtzuerhalten, auch wenn dies nur unter großen finanziellen Anstrengungen gelingt. Der Bürgermeister wettert über die ungleiche Behandlung, als deren Opfer er sich sieht: „Nehmen Sie als Beispiel nur den fünfzigsten Jahrestag des Sieges; alle Kriegsveteranen in der Hauptstadt haben von Juri Lujkow [dem Moskauer Bürgermeister] 250000 Rubel geschenkt bekommen; wir hier haben ihnen mit Ach und Krach 20000 geben können. Moskau heimst 70 Prozent der Gelder des Zentralen Wirtschaftsgebietes ein und verlangt zusätzlich noch weitere Zuwendungen!“

Dennoch ist auch hier wie überall das Zeitalter der Reformen auf dem Vormarsch. Am frappierendsten ist der wirtschaftliche Umbruch, der hier vonstatten geht. Toropez liegt in einer armen Agrarregion und war abhängig von einigen Fabriken mittlerer Größenordnung, vor allem solchen der Nahrungsmittelindustrie, aber es gab auch eine kleine Möbel- und eine Textilfabrik ... Die Lage dieser Firmen ist alles andere als beneidenswert: Es fehlt an Absatzmärkten für russische Waren, und man bleibt sogar auf den Produkten sitzen, die früher noch Abnehmer im Ausland fanden, etwa Möbel aus weichen Hölzern, Pantoffeln, Wursterzeugnisse und – Wodka. Zwar versuchen die Behörden des Bezirks die Schließung der Betriebe zu verhindern, doch ein Produktionsabbau ist nicht vermeidbar, so daß die Zahl der Arbeitsplätze seit 1992 um ein Drittel gesunken ist und es im Jahr 1995 146 Arbeitslose gibt – für die Stadt eine erhebliche Belastung.

Zugleich aber läßt sich ein spektakulärer Anstieg im kommerziellen und im Dienstleistungsbereich verzeichnen. Es scheint, als erlange Toropez einen Teil seines Glanzes zurück, den es einst als Handels- und Handwerkszentrum für eine ganze Agrarregion besaß. Die Verwaltung hat die Karte der Reformen energisch ausgespielt und seit 1992 so gut wie alle Geschäfte, die es gab, privatisiert, ausgenommen jene, von denen man – wie etwa von der Apotheke – befürchten mußte, daß sie verschwänden. Da die meisten Gebäude unter Denkmalschutz stehen, können sie von Gesetzes wegen derzeit noch nicht verkauft werden; so wurden die Pachtverträge zu günstigen Konditionen in private Hände übergeben, teilweise per Versteigerung und häufig direkt an die dort arbeitenden Belegschaften. Die Entwicklung des Geschäftslebens und Bankbetriebs springt ins Auge. In drei Jahren sind aus dreißig fünfzig Geschäfte geworden; entsprechend steigt die Zahl der Arbeitsplätze (man rechnet zwischen drei und fünf pro Laden).

Lernen, sich durchzuwursteln

SPRICHT man mit den Geschäftsleuten, so entsprechen sie schwerlich jenem Bild des russischen „Neureichen“, wie es von Moskau her durch die Medien geistert. Es handelt sich meist um Leute aus der Region, ehemalige mittlere Angestellte aus Verwaltung und Industrie, aber auch um Menschen, die nach Jahren der Arbeit in einer anderen Gegend nach Hause zurückgekehrt sind. In der Anfangsphase haben sie zweifellos einiges riskiert und häufig mittels Kreditaufnahme ihr Glück versucht, irgendein marodes Geschäft übernommen und in einem Dickicht widersprüchlicher Vorschriften ihren Betrieb von Grund auf hochgezogen.

Erfolg hatten vor allem diejenigen, die es geschafft haben, ein eigenes Handelsnetz zu organisieren, und die so eine Vielfalt von Waren anbieten können, um deren Beschaffung in Twer, Moskau oder Sankt Petersburg sie sich persönlich kümmern. Übrigens werden sie dort mit der Mafia konfrontiert, einem Phänomen, das man in Toropez nicht kennt. Neben dem Verkauf vor Ort betätigen sich die Rührigsten auch als Grossisten für die angrenzenden Bezirke, und es gibt mindestens drei Ladeninhaber, die bereits mehrere Geschäfte ihr eigen nennen. Solch frohes Gelingen läßt sich teilweise mit der Trägheit des Fiskus erklären: Mehr als die Hälfte der Händler hat laut Steuererklärung keinerlei Gewinn zu verzeichnen.

Die schelmische Alte, die beschreibt, wie das ganze funktioniert, leitet ein Unternehmen, das wie ein kleiner Familienbetrieb aufgebaut ist. In einer Art Souterrain-Büro führt sie eine endlose Zahl von Telefongesprächen, um einen Waggon belorussischen Zucker oder Hi-Fi-Geräte aus Moskau zu organisieren oder der Stadtverwaltung ein zweites Geschäft abzuschwatzen. Hier wie anderswo – das Rezept lautet immer gleich: Fingierte Rechnungen und Lohnzahlungen, zu niedrig veranschlagte Gewinne ...

Die Verwaltung schließt die Augen, und zugleich begünstigt sie Zusammenschlüsse zu Ungunsten derer, die nicht rasch genug die Entwicklung der Nachfrage vorwegnehmen. „Nachdem anfangs alles sich auf importierte Lebensmittel stürzte“, kann man hören, „verzeichnen wir jetzt wieder ein steigendes Interesse für Russisches mit vertrauterem Geschmack. Aber wo diese Lebensmittel hernehmen? Niemand kümmert sich mehr darum.“ Wie die Geschäfte und Banken floriert auch der sonntägliche Markt, zu dem Dutzende von Händlern aus den Nachbarregionen und – seit Aufhebung der Zollkontrollen – auch aus Weißrußland anreisen.

Dieser wirtschaftliche Aufschwung verändert erheblich das Gesicht des Stadtzentrums: Nach und nach werden die an den Hauptadern gelegenen Häuser von den Geschäftsleuten renoviert und schmücken sich mit Schaufenstern und Aushängeschildern. Die Gehsteige beleben sich. „Nicht jeder hat etwas davon“, sagt ein Rentner. „Haben Sie die Preise gesehen? Aber immerhin muß man zum Einkaufen nicht mehr nach Moskau fahren. Früher, da haben wir in der Woche Würstchen produziert, und am Samstag sind wir nach Moskau gefahren, um sie zu kaufen!“ Tatsächlich gehen viele Leute äußerst sparsam mit dem Geld um, und bei einigen kommt Fleisch oder Wurst nicht oft auf den Tisch.

Wie in zahlreichen anderen russischen Städten leben auch hier mehrere Bevölkerungsschichten unter sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen zusammen. Eine kleine Minderheit hat von den Veränderungen bereits profitiert: Das mag ein Fabrikdirektor sein oder ein Geschäftsmann, man fährt Mercedes und läßt sich auf einem der neuen Grundstücke am See aus Beton ein imposantes und geschmackloses Fertighaus bauen. Die Mehrheit der Bevölkerung reagiert auf die Schwierigkeiten der Zeit mit schrittweiser Anpassung. Von Wohlstand kann noch nicht die Rede sein, aber in den Häusern tauchen neue Gegenstände auf, und die Kleidung ist nicht mehr so freudlos wie zuvor.

Ein anderer Teil der Bevölkerung – zwar eine Minderheit, aber eine nicht unbedeutende – gerät merklich ins Abseits; vielfach handelt es sich um Alkoholikerfamilien, deren Wohnung, Kleidung und physisches Erscheinungsbild sich zusehends verschlechtern. Schließlich gibt es noch die Rentner; sie machen – was für diese Gegend, die nicht zum wohlhabenderen Schwarzerdegebiet gehört, typisch ist – fast 50 Prozent der Bevölkerung aus und bilden eine eigene soziale Schicht. Sie trifft die ökonomische Krise am härtesten. Ihre Renten werden regelmäßig mit ein bis zwei Monaten Verspätung ausgezahlt, und sie überleben mehr recht als schlecht, weil sie ein Stückchen Land haben oder – was glücklicherweise noch gut funktioniert – von der Familie unterstützt werden.

Die Behörden vor neuen Herausforderungen

DIE Stadtverwaltung ist sich der sozialen Spannungen durchaus bewußt und versucht, mit ihren begrenzten Mitteln etwas dagegen zu unternehmen. Der Bezirksdirektor, der vom Regionalgouverneur ernannt wird, schimpft auf die Föderalverwaltung: „Sie gestehen uns 35 Prozent der Steuereinnahmen zu, obwohl die Ausgaben ständig steigen; was soll ich mit dem bißchen Geld anfangen? Wir bräuchten mindestens 50 Prozent! Schließlich wird hier in den Provinzen über Rußlands Zukunft entschieden.“ Er stammt aus der Gegend, hatte eine Zeitlang in der Metallindustrie am Ural einen höheren Posten inne, ehe er die Leitung des örtlichen Sowjets übernahm. Er äußert sich unmißverständlich: „Immer noch wenden sich alle Leute mit ihren Sorgen an mich. Sie haben nichts begriffen! Wir müssen uns so schnell wie möglich in die Marktmechanismen einklinken. Die Zeit ist vorbei, wo die Verwaltung unmittelbar in die Leitung von Betrieben eingegriffen hat. Es ist jetzt an ihnen [den Unternehmern und Geschäftsführern], die Initiative zu ergreifen.“ Doch dann fügt er hinzu: „Andererseits kann man die Betriebe nicht ins Wasser werfen und ihnen sagen: Nun schwimmt mal schön!“

Er räumt ein, daß ihm jegliche Erfahrung fehlt, wie er die Ansiedlung neuer zukunftsträchtiger Wirtschaftszweige (Tourismus, holzverarbeitende Industrie) fördern und auswärtige Geschäftspartner gewinnen kann. Hinzu kommt, daß er vor einem echten Legitimationsproblem steht. Von einer übergeordneten Stelle benannt, um die Reformen durchzusetzen, muß er eine konservativ denkende Bevölkerung überzeugen: Bei den Wahlen im Dezember 1993 konnte Wladimir Schirinowskis Formation die meisten Stimmen auf sich vereinigen (27,6 Prozent), an zweiter und dritter Stelle folgten die Kommunisten (mit 16,3 Prozent) und die Agrarpartei (die 15,6 Prozent erhielt).

Hier zeigt sich einer der typischen Widersprüche dieser Umbruchszeit: Es gibt keine politische Kraft, die wirklich organisiert wäre. Der Bezirkssowjet ist aufgelöst und durch eine Duma mit zwanzig ernannten Abgeordneten ersetzt worden. Die einzige merklich präsente Partei ist die Kommunistische, deren hundert Mitglieder (laut Verwaltung sind es vierzig) alle fortgeschrittenen Alters sind.1 Ihr rückwärtsgewandter und nationalistischer Diskurs besteht hauptsächlich darin, den „Ausverkauf Rußlands ans Ausland“ anzuprangern. Die jüngeren Generationen engagieren sich in keiner Organisation, und die örtlichen Behörden wissen nicht, wie sie öffentlich zur Geltung bringen können, was sie an Positivem leisten. Unter solchen Umständen ist die Gefahr der Protestwahl sehr groß: Die Lebensbedingungen eines Großteils der Wähler sind nach wie vor sehr schwierig. Trotzdem gibt es kaum eine Möglichkeit, die derzeitige Verwaltung abzulösen. Der Bezirksdirektor ist sich dieses Widerspruchs bewußt und meint deshalb, daß so bald wie möglich Ratswahlen stattfinden sollten, auch wenn die Entscheidung, die Abgeordneten zu ernennen, seiner Auffassung nach während der Umgestaltungsphase der einzig gangbare Weg ist.

Zwar fehlt es der Stadt an einem Großunternehmen, das ihr Wohlstand bringen könnte (was aber zweifellos die vollständige Zerstörung des Stadtbilds verhindert hat); doch sie genießt den Status einer historischen Stadt, und darauf baut der Bürgermeister, um Unterstützungsleistungen und Investitionen für den Ort zu sichern. Mit fünf anderen Stadtvätern kleiner historischer Städte der Zentralen Gebiete, die untereinander durch eine militärisch- industrielle Lobby verbunden sind, hat er einen Entwicklungsverein der kleinen Städte gegründet, dem es gelungen ist, einen staatlichen Hilfsfonds aus der Taufe zu heben. Der Bezirksdirektor hofft, auf diese Weise Fördermittel und zusätzliche steuerliche Erleichterungen bewilligt zu bekommen.

Er ist auch auf der Suche nach ausländischen Partnern, aber da seine Stadt abseits der großen touristischen Routen liegt und nicht über einen Altstadtkern von hohem Attraktionsgrad verfügt, weiß er nicht, wie deren Aufmerksamkeit geweckt werden könnte; die ersten Erfahrungen waren enttäuschend: „Es sind eine ganze Reihe Besucher gekommen. Sie lassen sich herumführen, äußern sich begeistert über die Schönheit unserer Natur, aber wenn es zum Konkreten kommt ... Rückzieher.“ Zugleich gibt der Bezirksdirektor zu, daß die Infrastruktur höchst kärglich ist: Die Hotels sind mehr als dürftig, die Telefonverbindungen instabil.

In Ermangelung finanzieller Mittel tut die Verwaltung unaufgeregt das Nötigste. Sie unterhält, was existiert, und hilft den Einwohnern, die schwierige Talsohle der Übergangszeit durchzustehen. Auch ergreifen die städtischen Behörden allerlei Initiativen; so haben sie zum Beispiel in diesem Sommer billige Holzreserven für den Winter anlegen lassen, und in den Schulen gibt es kostenlosen Mittagstisch für die Kinder. Jede Initiative aus der Bevölkerung, die etwas in Bewegung bringt, wird von ihr unterstützt, sei es die Eröffnung eines neuen Restaurants oder die Gründung eines halbprivaten städtischen Gymnasiums.

Die Grenzen, die hier der Politik vor Ort gesetzt sind, werden bestimmt von Faktoren jenseits jeder Bezirkskompetenz. Die lokalen Behörden stecken in der Zwickmühle zwischen einer Bevölkerung, die von den Reformen erschöpft ist, und föderalen Strukturen, die hinsichtlich Geschwindigkeit und Breite der vorzunehmenden Veränderungen eine gewisse Unentschiedenheit an den Tag legen; so setzt man auf gegenseitige Hilfe in der Region, die gegründet sein könnte auf deren tatsächliche Besonderheit, auf ein geschichtliches und Naturerbe, dessen Wert noch zu erkennen ist. Aber das eigentliche Dilemma besteht darin, daß die Menschen sofortige Verbesserungen wollen, die kein Politiker, sofern er nicht Demagoge ist, für die nächste Zukunft versprechen kann.

dt. Eveline Passet

1 Siehe Bernard Frédérick, „Au-delà de la nostalgie, la percée communiste“, Le Monde diplomatique (franz. Ausgabe), November 1995.

* Professor am Institut national des langues et civilisations orientales, Verfasser von „La Nouvelle Russie“, Paris (Armand Colin-Masson), Dezember 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Jean Radvanyi