15.12.1995

Vorsicht, Ghetto!

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Vorsicht, Ghetto!

EIN Jude hat einen Juden getötet!“ Leitmotivisch hat dieser befremdliche Satz am Abend des Mordes an Premierminister Jitzhak Rabin alle Kommentare beherrscht – und zwar auf allen Kanälen. War den Journalisten, die sich diesen Satz zu eigen machten – und es waren nicht eben wenige, wie Daniel Schneidermann in seiner Sendung „Arrêt sur images“1 gezeigt hat – die furchtbare Zweideutigkeit dieser Worte bewußt?

Die Formulierung spiegelt noch einmal, dies ist gewiß, das Bild, das sich die jüdischen Bürger Israels von sich selbst gemacht hatten und das nun der Mörder Jigal Amir zerstört hat. 1973, im Jom-Kippur-Krieg, hatten die Israelis entdeckt, daß sie nicht unbesiegbar waren; 1982, anläßlich der Belagerung von Beirut, war ihnen bewußt geworden, daß auch ihr eigenes Land der Aggressor sein konnte; 1988 mußten sie zusehen, wie im Zuge der Intifada der Status quo der Besetzung ins Wanken geriet. Und dann, eines Abends im Jahr 1995, genügt die winzige Spanne von drei Schüssen, und sie fühlen sich nicht mehr als das „auserwählte Volk“.

Aber was sollte das Fernsehpublikum in Frankreich von dieser überraschenden Umdeutung des fünften Gebotes halten? Daß Juden gegen den Tötungstrieb immun seien? Als gäbe es nicht in israelischen und anderen Gefängnissen Juden, die Juden ermordet haben ... Daß die Israelis auf wunderbare Weise gegen den Faschismus gefeit seien? Dabei hat es innerhalb der zionistischen Bewegung immer eine gefährliche extreme Rechte gegeben – von Vladimir Jabotinsky über Irgun und Lechi bis hin zu den fanatischen Siedlern ... Wörtlich genommen könnte der Ausdruck sogar unterstellen, ein Jude werde zwar nie einen anderen Juden, wohl aber einen „Goi“ töten können ... Welch absurde und gefährliche These!

GLEICHES gilt für den übermäßigen Gebrauch des Begriffs „Jüdische Gemeinschaft“. Wen meint dieser Begriff? Die Anhänger des mosaischen Glaubens? Die Mitglieder jüdischer Institutionen? Die große Mehrheit der Franzosen jüdischer Herkunft finden sich darin nicht wieder. Sie übertragen niemandem die Sorge um ihre Vertretung und schätzen es kaum, „ghettoisiert“ zu werden, selbst wenn dabei philosemitische Motive den Ausschlag geben. Liefert es nicht den Extremisten, die Israelfeindschaft mit Antisemitismus verwechseln, gefährlich Argumente, wenn man, wie es die großen Medien gemacht haben, alle Mitglieder der „jüdischen Gemeinschaft“ in Frankreich sozusagen als israelische Bürger auffordert, zum Mord an Jitzhak Rabin Stellung zu nehmen?

Warum hat sich der französische Premierminister Alain Juppé zum Kondolenzbesuch nicht in die israelische Botschaft, sondern zur Großen Synagoge in der Rue de la Victoire begeben? Hat etwa nach dem Mord an Anwar al- Sadat der damalige Regierungschef die Moschee in Paris aufgesucht?

Diese Entgleisungen, ebenso wie die leider noch viel schlimmeren, zu denen die kürzliche Terrorwelle Anlaß gegeben hat, veranlassen uns dazu, noch einmal zu wiederholen: Die Republik ist kein Zusammenschluß verschiedener religiöser – geschweige denn: ethnischer – „Gemeinschaften“. Seit 1789 gibt es in Frankreich nur eine Nation, und die ist laizistisch.

Dominique Vidal

1 La Cinq, 11. November 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Dominique Vidal