15.12.1995

Wenn Armut wieder zur Krankheit wird

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Wenn Armut wieder zur Krankheit wird

Von

MICHEL

PARAZELLI *

UM den Auswirkungen der tiefgreifenden Umstrukturierungen zu begegnen, die aus der Globalisierung der Märkte folgen, hat die kanadische Regierung einen „Feldzug gegen die Armut“ begonnen. Unter den Etikettierungen „Partnerschaft“, „Vorbeugung“, „gemeinschaftliches Handeln“ und „Gesundheitsförderung“ zeichnet sich eine radikale Umorientierung in den für die Ärmsten zuständigen Sozialeinrichtungen ab.1 Anstatt sozialen Risiken vorzubeugen, indem man den Zugang zu sozialen Dienstleistungen erleichtert und deren Angebot vergrößert, müssen die staatlichen Organe und die Gemeinschaftsverbände im medizinischen und epidemiologischen Bereich vor allem „Resultate“ vorweisen. Hierbei geht es darum, das „Vorherrschen“ bestimmter nicht erwünschter Verhaltensweisen zu reduzieren und auf „Umwelteinflüsse“ einzuwirken. In einigen Fällen werden Ergebnisse nach den bei der Problemreduzierung erreichten Prozentzahlen eingeschätzt („Der Anteil neugeborener Kinder mit einem Gewicht unter 2500 Gramm soll in allen Regionen Quebecs auf unter 4 Prozent gesenkt werden“2). Der Bundesstaat Ontario hat ein Forschungsprojekt finanziert, das die Auswirkungen frühzeitiger Vorbeugemaßnahmen auf Kinder unter acht Jahren und ihre Familien („Ein großer Schritt in eine bessere Zukunft“) in elf „Risiko“-Gebieten untersuchen soll. Diese neue Linie ist sehr stark von den amerikanischen Erfahrungen und von der Theorie der sogenannten Entwicklungsökologie beeinflußt.

Faktisch bedeutet dieses Vorgehen, daß man soziale Probleme so analysiert und behandelt, wie man es von der biologischen Pathologie bei Virusepidemien oder bei Umweltkatastrophen gewohnt ist. Neben Erleichterungen im Verwaltungsablauf kann man auf diese Weise eine unerwünschte gesellschaftliche Realität eingrenzen, indem man sie (wie einen Virus oder einen umweltschädlichen Stoff) isoliert. Problemtypen werden standardisierbar, ohne daß man sich um ihren soziokulturellen Zusammenhang kümmern müßte; mittels Erhebung von Daten („Monitoring“) läßt sich dann ihre „Reduktionsrate“ berechnen. Die Programme zur Vorbeugung von Verhaltensstörungen, zur Verbesserung der elterlichen Kompetenz oder zur richtigen Ernährung sind auf jeden Fall mit der Hoffnung verknüpft, Gelder einzusparen, weil die entsprechenden Dienstleistungen zukünftig seltener in Anspruch genommen werden.

Hinter den edlen Motiven, auf die sich die Apostel der Vorbeugungsstrategie berufen, zeichnet sich eine neue Form technokratischer Gewalt ab. Der Staat benutzt die biomedizinische Metapher der „sozialen Epidemiologie“ zur Ausrichtung seiner Gesellschaftsanalyse. Dabei beruft er sich auf Techniken, wie sie zur Behandlung von Krankheiten verwendet werden, und wirft Gewalt und Masern in einen Topf. Der Analogieschluß ist fragwürdig, denn gesellschaftliche Beziehungen funktionieren nicht wie ein lebendiger Organismus, der sich infizieren oder Krankheiten ausbilden kann. Die medizinische Standardisierung gesellschaftlicher Probleme führt also dazu, daß man den Menschen die Verantwortung für ihre „Krankheiten“ zuweist: Anstatt ihnen zu helfen, ihre soziale Existenz zu meistern, fordert man sie auf, eine Therapie zu machen, die ihr Problemverhalten verändern soll. An dieser Stelle geschieht das Unsinnige: Man verschleiert die gesellschaftlichen Ursachen und betont das individuelle Verschulden.

Das kanadische Kinderprogramm „Zusammen groß werden“3 verdeutlicht diese Tendenz, die man in unterschiedlicher Ausprägung in allen Provinzen beobachten kann. Das Hauptziel dabei ist es, „gesunde“ Entwicklungsbedingungen für „Risikokinder“ zu schaffen und „gefährdeten“ Eltern zu helfen. Wenn es jedoch darum geht, Maßnahmen ins Auge zu fassen, um die Gesamtsituation von Problemfamilien zu verbessern, dann stellt das Dokument fest: „Das Parlament hat 1989 beschlossen, die Kinderarmut in Kanada bis zum Jahre 2000 zu beseitigen. (...) Selbst wenn es langfristig die beste Lösung wäre, das Familieneinkommen zu erhöhen und der Plage auf diese Art vorzubeugen, so scheint dies in absehbarer Zeit kaum möglich zu sein. In der Zwischenzeit haben wir die Pflicht, die schädlichen Auswirkungen der Kinderarmut zu verringern und den Kindern eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen.“ Derart wird die Armut aus dem politischen Zusammenhang gerissen und in eine „Plage“ umgedeutet, gegen die man die Kinder immunisieren muß, indem man ihre „gesunde Entwicklung“ fördert. Mit naturalistischen und moralischen Ideen des ausgehenden 19. Jahrhunderts soll ein imaginäres „soziales Gesundheitswesen“ untermauert werden.

Zu seinen zwar lobenswerten, aber beschränkten Prioritäten zählt das kanadische Ministerium für Gesundheit und soziale Wohlfahrt die Absicht, die Zahl der Frühgeburten und der untergewichtigen Babys4, der geschlagenen und mißbrauchten Kinder und die Häufigkeit der aus Minderwertigkeitskomplexen resultierenden Verhaltensstörungen zu verringern. Das Programm räumt der „Früherkennung“ und den „Fördermaßnahmen im natürlichen Umfeld des Kindes“ einen ausdrücklichen Vorrang ein.

Die Bundesstaaten Quebec, New Brunswick und Ontario (in denen mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes leben) stehen bei diesen Vorbeugemaßnahmen an der Spitze. Mit dem Quebecer Programm OLO (frz. Abkürzung für „ein Ei, ein Liter Milch und eine Orange pro Tag“) wird versucht, die Zahl von 21000 untergewichtigen Neugeborenen pro Jahr zu verringern. Dank eines Diätprogramms soll sich die Ernährung der „Risikomütter“ so weit verbessern, daß deren Babys bei der Geburt ein normales Gewicht erreichen. Derlei Maßnahmen lassen die wirtschaftliche Situation der Mütter völlig unberührt, aber wenn ihre Babys zur Welt kommen, tun sie zumindest einen gewichtigen Schritt ...

Auf der Grundlage seiner „Initiativen für das Kleinkind“ (1993) will New Brunswick sechs Programme zur Früherkennung von Kindern aus Risikofamilien starten. Es handelt sich um Programme zur Verbesserung der Ernährungssituation und um Ernährungsbeihilfen für die Zeit zwischen Schwangerschaft und Kindergarten. In Quebec und Ontario gibt es ebenfalls Maßnahmen, um schon im Kindergarten dem unsozialen Verhalten von Kleinkindern vorzubeugen.5 Dazu gehören Besuche von Sozialarbeitern in den Familien und die Verteilung von Frühstück in den Schulen.

In Quebec wurde gegenüber werdenden und jungen Risikomüttern interveniert, die aus benachteiligten Schichten stammen und durch häufiges aggressives Verhalten gegenüber ihren Kindern aufgefallen waren.6 Mitarbeiter der örtlichen Gemeinschaftsdienste empfahlen ihnen motorische Übungen (Gesang, Wiegenlieder, Massage und so weiter), um die Beziehung zu ihrem Kind zu verbessern. In speziellen „Schulungen“ versucht man die „Häufigkeitsrate von zwanghaftem Verhalten“ zu vermindern.

Die epidemiologische Herangehensweise umfaßt drei Ebenen: Erkennung, Behandlung und Wiedereingliederung. Das Konzept der Vorbeugung in eine kontinuierliche Folge fürsorglicher Maßnahmen umzuwandeln, entspricht eher den Wünschen eines Staates, der die Kosten der öffentlichen Dienstleistungen begrenzen will, als den Bedürfnissen der Bürger, die am Rand oder außerhalb der Gesellschaft leben. Um Hilfen in Anspruch nehmen zu können, sind die Individuen gezwungen, ihren Wunsch nach Eingliederung in die Gesellschaft zu einer Krankheit oder zu einem Risikofaktor zu machen. Die unabhängigen Gemeinschaftsverbände haben im übrigen größere Schwierigkeiten, öffentliche Mittel für ihre Projekte zu bekommen, sobald sie gesellschaftliche Probleme behandeln, die nicht die offizielle Priorität genießen.

Vorbeugung als Verschleierung

Auf die gleiche Ideologie der Vorbeugung stößt man im kanadischen Justizministerium. Um die Jugendkriminalität einzudämmen, schlägt man hier Kurse in „Selbstbeherrschung und gewaltfreier Konfliktbewältigung“ vor. Es reicht offenbar, daß man „mit Drogen und Alkohol in Berührung kommt“, um Verhaltensstörungen zu zeigen oder in Kriminalität abzugleiten.7 Trotzdem hat die psychosanitäre Ausrichtung der Vorbeugungsprogramme in Kanada noch keine so beunruhigenden Dimensionen angenommen wie in den USA, wo das National Institute for Mental Health eine Behandlung auf Psychopharmakabasis entwickelt und bei 100000 Kindern im Grundschulalter zwischen 5 und 9 Jahren durchgeführt hat, bei denen „eine genetische Neigung zu Gewalt oder Drogenkonsum nachgewiesen werden konnte“8.

So lassen sich die wirtschaftlichen Zwänge und der Abbau von Sozialleistungen natürlich leichter verschleiern. In Quebec wurden Strafmaßnahmen beschlossen, mit denen man durch die Aufdeckung betrügerischer Machenschaften etwa 60 Millionen Dollar einzusparen hofft. In Ontario gibt es eine Werbekampagne, in der die Bürger aufgefordert werden, Betrugsfälle über eine gebührenfreie Telefonverbindung zu melden, um so die Arbeit der Untersuchungsbeamten zu erleichtern. Nach Angaben des Ministers für Soziale und Gemeinschaftsdienste werden die möglichen Einsparungen auf 25 Millionen Dollar geschätzt. George Kennedy, der Präsident der Daily Bread Food Bank (der größten Nahrungsmittelkreditanstalt des Landes) befürchtet, daß in absehbarer Zeit die meisten Sozialhilfeempfänger „ihren Bedarf an Ernährung, Wohnung und Kleidung nicht mehr werden befriedigen können“10.

Diese staatlichen Maßnahmen gehen Hand in Hand mit dem Abbau der medizinischen Versorgung und der Privatisierung sozialer Einrichtungen. Die Ideologie der Vorbeugung ermöglicht es dem Staat, den falschen Eindruck zu erwecken, er kümmere sich tatsächlich um die dringenden Probleme, die doch zum Teil das Ergebnis seiner Sparmaßnahmen sind.

Da Kanada nicht allen Bürgern einen Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen kann, zieht man es vor, eine „Sanierung“ des gesellschaftlichen Umfelds der heranwachsenden Generationen durchzuführen. Es handelt sich dabei um eine politische Entscheidung: Der Kampf gegen die Armut steht nicht mehr an erster Stelle (dort steht das Haushaltsdefizit), es geht nurmehr darum, ihre schädlichen Auswirkungen zu verwalten, sich mit ihr zu arrangieren und die Ursachen für die mit der sozialen Ausgrenzung zusammenhängenden Probleme in den Bereich des Privaten abzudrängen.

dt. Christian Voigt

1 Für Gesundheitswesen und Sozialleistungen sind die Provinzen (zehn Provinzen und zwei Territorien) zuständig. Die Bundesregierung unterstützt diese Einrichtungen aber durch Bereitstellung finanzieller Mittel. Auf diese Weise kann sie die einzelnen Provinzen dazu anhalten, ihre jeweilige Sozialpolitik aufeinander abzustimmen.

2 Regierung der Provinz Quebec, Ministerium für Gesundheits- und Sozialwesen, „Politique de Périnatalité“, Québec 1993, S. 47.

3 Regierung von Kanada, „Grandir ensemble, Plan d'action canadien pour les enfants“, Ottawa, Ontario 1992.

4 Ottawa hat am 26. Juli dieses Jahres die Durchführung eines Spezialprogramms zur pränatalen Ernährung angekündigt, für das in den nächsten vier Jahren acht Millionen Dollar bereitgestellt werden.

5 Für Quebec vgl. „Un Québec fou de ses enfants“ (1991) und „La politique québécoise de périnatalité“ (1993); für Ontario vgl. „Better Beginning, Better Future Project“, hrsg. vom Sozialministerium, Ottawa 1994.

6 Hélène Cloutier und Jacques Moreau, „L'intervention précoce auprès des clientèles à risques: un investissement qui a ses exigences. Résultats préliminaires d'une recherche auprès de dyades mère-nourrisson vulnérables“, Apprentissage et Socialisation, Band 3, Nr. 3, Montreal 1990.

7 Justizministerium der kanadischen Regierung: „Objectif: sécurité communautaire. Lutte contre la violence et la récidive des jeunes“, Ottawa 1993, S. 7-9.

8 Pierre Hamel, „Dr. Breggin, psychiatre: psychiatrie et contrôle social“, Vie ouvrière, Montréal, Januar/Februar 1993, S. 38; vgl. auch: W. Wayt Gibbs, „Seeking the Criminal Element“, Scientific American, März 1995.

9 Vgl. „Aide sociale: des ,boubou macoutes‘ contre la fraude en Ontario“, La Presse, 24. August 1995.

10 Vgl. Suzanne Dansereau, „Les organismes de lutte contre la pauvreté en Ontario sont outrés“, La Presse, 8. Oktober 1995.

* Forscher an der Universität von Quebec in Montreal.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Michel Parazelli