12.01.1996

Anarchie, Revolution ...

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Anarchie, Revolution ...

DESTRUCTION, von Ba Jin, aus dem Chinesischen

von Angel Pino und Isabelle Rabut, Paris

(Editions Bleu de Chine), 1995.

PARIS 1927. In Frankreich schreibt ein junger, dem anarchistischen Ideal verpflichteter Chinese, der dreiundzwanzigjährige Ba Jin, fieberhaft an seinem ersten Roman. Den Hintergrund für die „Zerstörung“, wie der Titel des Buches lauten wird, bildet die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti am 22. August 1927. Vanzetti, mit dem Ba während der letzten Monate von dessen Gefängnisleben in Briefwechsel stand, ist sein Vorbild, er hat ihn „die Liebe und das Vergeben“ gelehrt. Diese Gefühle stehen im Zentrum des Buches, dessen Handlung im Shanghai der zwanziger Jahre spielt.

Die Hauptfigur, Du Daxin, ist ein gemarterter Mensch, hin und her gerissen zwischen der Liebe und revolutionärem Pflichtgefühl. Aufgebracht über die gesellschaftlicher Konvention geschuldete Verheiratung seiner Kusine, mit der ihn eine zarte Liebe verbindet, mit einem Greis, und verzweifelt über den plötzlichen Tod seiner Mutter, wird Du Daxin „von einem Klassenkameraden in eine revolutionäre sozialistische Gruppe“ eingeführt. Er gibt sein Studium auf und widmet sich der Revolution.

Der Liebe allerdings wird er wieder begegnen, mit Li Jingshu, einer modernen jungen Frau, Schwester seines Freundes Li Leng, die beide soziale Gerechtigkeit und Frieden über alles stellen. Doch für den, der sich „geschworen hat, sein Glück dem Heil der Menschheit zu opfern“, hat der Kampf Vorrang. „Wann kommt die Revolution?“ fragt ihn der junge Arbeiter Zhang Weiqun. Er wird es nicht erfahren. Weil sich aufrührerische Flugschriften bei ihm finden, wird er von der Polizei verhaftet, gefoltert und zur Enthauptung verurteilt. Die Hinrichtung, der Du Daxin beiwohnt, ist eine der erschütterndsten Stellen des Romans, und ihre ergreifende Beschreibung durch Ba Jin trifft den Nerv durch ihren ungeschminkten Realismus. Du Daxin, der sich dafür verantwortlich fühlt, beschließt, seinen Kampfgenossen „um den Preis seines eigenen Lebens“ zu rächen.

Nachdem er sich entschieden hat, kann er beim Abschiednehmen Li Jingshu seine Gefühle offenbaren: Er weiß, daß er sterben wird. In einem leidenschaftlichen Plädoyer tolstoischer Prägung will sie ihn überzeugen, der Rache die Liebe vorzuziehen. Aber sein Pflichtgefühl ist stärker. Nach letztem Zögern versucht er, den für die Anwendung des Standrechtes verantwortlichen Befehlshaber umzubringen. Dieser überlebt seine Verletzung; Du Daxin bringt sich um. Doch sein Tod ist nicht vergeblich: „Einige Jahre später fand ein Generalstreik statt. (...) Die Streikenden besetzten die Betriebe und zwangen die Unternehmer in die Knie. An der Spitze der großen Protestbewegung stand eine junge Frau. (...) Den Berichten nach handelte es sich um Li Jingshu.“

In dem großangelegten Roman kehrt die „Zerstörung“ stets leitmotivisch wieder. Sie ist nicht negativ konnotiert, sondern steht im Dienst der Hoffnung. Li Jingshu folgt Du Daxin nach und geht selbst den Weg der Revolution.

DAS erste Werk von Ba Jin zeitigte besonders unter der chinesischen Jugend große Wirkung, die sich umstandslos mit den Protagonisten identifizierte. Der Erfolg entschied über Bas ursprünglich nicht geplante Karriere als Schriftsteller. Die Übersetzer haben zum Verständnis des Romans viel beigetragen, indem sie Texte von Ba angefügt haben, die das Werk mittelbar oder unmittelbar betreffen und seine Entstehung sowie den Weg des Autors dokumentieren.

Seine Veröffentlichungen machten Ba in den folgenden zwanzig Jahren zu einem der bedeutendsten Schriftsteller des zeitgenössischen China. Später erlahmte seine Produktion: Nach der kommunistischen Machtübernahme 1949 werden nur noch bedeutungslose Gelegenheitswerke veröffentlicht. Der Autor selbst zeichnet diese Entwicklung in einem wunderbaren kurzen Text nach, den er 1989 zum Gedenken an seinen ein Jahr zuvor gestorbenen Freund, den Schriftsteller Shen Congwen, verfaßt hat.1 Dieser verfiel der gesellschaftlichen Ächtung unter einem Regime, das nie etwas anderes im Sinn hatte als die Ankurbelung der Wirtschaft. Wen kümmert es schon, ob ein Schriftsteller lebt oder gestorben ist? Die Arbeit am Schreibtisch steigert nicht die Produktion ...

JEAN-JACQUES GANDINI

dt. Eva Groepler

1 „A la mémoire d'un ami“. Aus dem Chinesischen von Isabelle Rabut und Angel Pino, Paris (Editions Mille et une Nuit), 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Jean-Jacques Gandini