12.01.1996

Ein Planet auf der Suche nach Menschlichkeit

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Ein Planet auf der Suche nach Menschlichkeit

Von

JACQUES

DECORNOY

NIEMAND wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten um Vergebung bitten und dem unübersehbaren Verschleiß ein „Wir haben es nicht gewußt“ entgegenschreien können. Es hilft nichts: Menschen, die man immer wieder einer Gehirnwäsche unterzogen, Gehirne, die man vollgehämmert, und Köpfe, die man bis zum Erbrechen mit Konsumbrei gestopft hat, denken sich immer noch ungezogene Umfragen und böswillige Fragen aus. Schlimmer noch: Einige, denen man immer wieder sagte, Malthus habe Unsinn erzählt und Marx gesponnen, bewaffnen sich mit Anmaßung und weigern sich, eine Uniform zu tragen.

Nach einer ganzen Reihe von Warnungen erscheinen nun, begleitet von Aktionsprogrammen1, zwei Bücher, die zwar sehr unterschiedlich sind, aber aus den Federn zweier gleichermaßen unverbesserlicher Autoren, Pierre Thuillier und Richard Falk, stammen.2 Beide verfassen eine Bilanz, wovon jedoch eine fiktiv ist: Pierre Thuillier analysiert, aus der Perspektive des Jahres 2081, die Katastrophe, die zwischen den Jahren 1999 und 2002 die westliche Kultur hinweggerissen hat. Die andere Untersuchung, die der Professor für Internationales Recht an der Universität Princeton in der ganzen Welt durchgeführt hat, kommt zu einem unnachsichtigen Ergebnis und dem Plädoyer für einen radikalen Kurswechsel.

Schon in seiner Einleitung kommt Pierre Thuillier zum Thema. Er beschreibt die Leiden der „Normalbürger“ am Ende dieses Jahrhunderts und fragt sich: „Sie murrten oft und stellten Forderungen, wenn sie ihre materiellen Interessen bedroht sahen, aber zu guter Letzt fanden sie sich doch immer mit dieser Form der ,spirituellen Misere‘ ab, die typisch für die ,Moderne‘ war. Wie aber läßt sich erklären, daß die allgemeine Unzufriedenheit und auch die vielen Frustrationen nicht stärker zum Ausdruck gekommen sind? Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten verhielten sich so, als ob sie den Ernst der Lage überhaupt nicht erfaßt hätten. Sie versuchten verbissen, die vielen für dringend erachteten Probleme eins nach dem anderenr zu lösen, ohne dabei jemals die großen Prinzipien in Frage zu stellen, auf denen ihr Vorgehen basierte.“

Der Verfasser, lange Zeit einer der wichtigsten Mitarbeiter der Zeitschrift La Recherche, lehnt sich gegen den Anspruch der Epoche auf, eine Gesellschaft „nach wissenschaftlichen Prinzipien“ zu verwalten. Er sträubt sich gegen eine Strategie, die Dichtung, Mythen und Kultur aus der Gesellschaft verdrängen will, eine „Säuberung“ im Namen eines bestimmten Verständnisses von Vernunft, im Namen einer uneingestandenen „schrecklichen Form der Gewalt“. Die Wurzeln dieser Gewalt und ihre Auswirkungen entdeckt er in den fünf Facetten des abendländischen Menschen, dem Homo urbanus, dem Homo oeconomicus, dem Homo corruptus, dem Homo technicus und dem Homo scientificus. Unablässig blickt er in das 12. Jahrhundert zurück, als sich in den Städten die „Machtergreifung“ durch den „mittelalterlichen Händler“ vollzog. Diese Spielart der Macht wird im 18. Jahrhundert zur alles beherrschenden und führt zu einer Welt, deren Antrieb der „wissenschaftliche Aberglaube“ ist, wie Gramsci es nannte.

Der Verfasser kennt sich auf mehreren Gebieten aus: Er zitiert Novalis, wenn er sich mit der Verwaltung der Eisenbahn beschäftigt, und bezieht sich auf Bernardin de Saint-Pierre, um von den Entlassungen bei der Banque de France zu sprechen. Er untersucht die „kulturellen Fundamente des Abendlandes insgesamt“, diese „Mechaniker-Kultur“, die die gemeinsame Grundlage des (nur scheinbar siegreichen) Kapitalismus und des Kommunismus darstellt. Ein solches Urteil wird Zähneknirschen hervorrufen, aber wie soll man den Fragen ausweichen, die Pierre Thuillier stellt? Hinzu kommt, daß seine Schlußfolgerungen sicherlich noch weitaus pessimistischer, das heißt realistischer wären, wenn die Reise des Autors auf unseren Planeten sich nicht auf dessen westliche Seite beschränkt hätte.3

GANZ anders die Herangehensweise von Richard Falk, der sich im Rahmen eines multinationalen Programms, an dem unter dem Titel „The Global Civilization“ Institute und Persönlichkeiten aus der ganzen Welt mitarbeiten, auf die Suche nach Möglichkeiten begibt, die Menschen menschlich zu regieren. Er stellt fest, daß wir in einer „besonders grausamen“ Phase des Kapitalismus leben, die auf nicht weniger als auf die Errichtung einer „weltweiten Apartheid“ und auf die Entfesselung der sozialen Gewalt in den Ländern des Nordens hinausläuft. Je weniger die gegenwärtige Form der internationalen Beziehungen aufrechterhalten werden könne, desto größer sei die Gefahr einer Häufung der „militärischen Interventionen“ in den Ländern des Südens. Die Demokratie wird dabei wohl endgültig untergehen, denn „die Logik kehrt sich um, und der Staat wird zum Agenten eines allmächtigen Marktes werden“. Das bestehende System ist „von seiner Struktur her hegemonial, in den Konsequenzen für die Menschen ausbeuterisch und verschwenderisch mit den Ressourcen“.

Als Fürsprecher einer den Planeten umfassenden zivilen Gesellschaft plädiert Richard Falk für eine Demokratisierung und für eine Grundsicherheit, die „von unten“ kommt. Trotzdem wird er nicht zum blinden Bewunderer irgendwelcher Werte, so diese nur aus dem Süden kommen, und auch nicht zum dogmatischen Gegner von Gedanken, die aus dem Norden stammen (seine beiläufige Erwähnung der Franziskaner steht im Zusammenhang seiner Anprangerung von Konsumideologie und Ausbeutung, die jedem Gedanken an Mäßigung und Teilen abhold sind). Er beklagt die vielen Formen der Zersetzung der staatlichen Macht, die oft tragische Auswirkungen nach sich ziehen, und plädiert für eine tiefgreifende Entmilitarisierung – nicht nur der Armeen, sondern auch des Denkens. Schließlich hält er einige Fortschritte auf der Ebene des täglichen Umgangs fest, macht Vorschläge für eine Reform der UNO und besteht mit viel Sachkenntnis auf der Bedeutung des internationalen Rechts und des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag. Dieses Buch ist den Opfern und all denen gewidmet, die sich jetzt und in Zukunft kein Gehör verschaffen können. Es enthält vor allem eine Aufforderung zum Handeln. Daß es immer mehr solcher Analysen und Appelle gibt, verweist auf die wachsende Unruhe und die immer radikalere Ablehnung jener dürftigen Heilmittel, die dem Ausmaß des Übels nicht mehr angemessen scheinen. Ist es nicht an der Zeit, daß die Überbringer solcher Botschaften zusammen versuchen, ihre Vorschläge in eine konkretere Form zu bringen? Wäre es nicht denkbar – um nur die beiden oben erwähnten Beispiele zu nennen –, die sicherlich vergleichbaren Zielsetzungen der Lissabon- Gruppe und des Projekts der Global Civilization unter einen Hut zu bringen?

dt. Christian Voigt

1 Siehe vor allem die (in neun Sprachen veröffentlichte) Untersuchung der Lissabon-Gruppe „Limites à la compétitivité. Pour un nouveau contrat mondial“, Paris (La Découverte), 1995. (Vgl. Le Monde diplomatique, Mai 1995.) Die Tatsache, daß die vorgeschlagenen Aktionsmöglichkeiten von den politischen Kreisen nicht einmal diskutiert wurden, zeigt, wie schwierig es ist, die harte Schale des Konformismus zu durchdringen.

2 Pierre Thuillier, „La grande Implosion. Rapport sur l'effondrement de l'Occident, 1999-2002“, Paris (Fayard), 1995; Richard Falk, „On Human Governance. Toward a New Global Politics“, Oxford/GB (Polity Press), 1995.

3 Es ist natürlich richtig, daß es sich um die Epoche der „Verwestlichung der Welt“ handelt, um den Titel eines Buches von Serge Latouche (Frankfurt 1993) zu zitieren, das in Pierre Thuilliers Literaturverzeichnis seltsamerweise nicht auftaucht. Von Serge Latouche siehe ebenfalls: „La Mégamachine. Raison techno- scientifique, raison économique et mythe du progrès“, Paris (La Découverte), 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Jacques Decornoy