12.01.1996

In Poona schlafen die Götter nicht

zurück

In Poona schlafen die Götter nicht

■ Es gibt Orte, an denen die allgemeine Tendenz zur Angleichung der Kulturen und der Nivellierung des Denkens auf starken Widerstand stößt, wo die

Es gibt Orte, an denen die allgemeine Tendenz zur Angleichung der Kulturen und der Nivellierung des Denkens auf starken Widerstand stößt, wo die Tradition altehrwürdiger Werte lebendig geblieben ist. Poona, die marathische Großstadt nahe Bombay, ist ein solcher Ort. Natürlich ist sie von den unerwünschten Folgen der Moderne nicht verschont geblieben; Umweltzerstörung und Fehler der Stadtplanung machen vor allem den Industriearbeitern den Alltag nicht leicht. Aber das alte Poona, traditionelles Zentrum der Kunst und Wissenschaft im Staat Maharashtra, gewinnt wieder an Selbstbewußtsein, es sieht sich sogar als das Herz Indiens. Und vielleicht gar nicht zu Unrecht ...

Von MARIE-CAROLINE SAGLIO *

WIE heißt die kulturelle Hauptstadt Indiens? Kalkutta? Nein, Poona. Aber Kalkutta ist natürlich hundert Mal bekannter – von Poona weiß im Westen im Grunde kaum jemand etwas. Auch das benachbarte Bombay, zweihundert Kilometer nördlich im selben Staat Maharashtra gelegen, verstellt ein wenig den Blick auf die brahmanische Zweieinhalb-Millionen-Stadt, die stolz darauf ist, in Indien als das Zentrum des Sanskrit und der marathischen Sprache und Kultur zu gelten. Ähnlich wie in Bengalen ist die regionale Kultur vielfältig, auch wenn die Umwälzungen seit der Unabhängigkeit ihre Spuren hinterlassen haben: Industrialisierung und Urbanisierung, westliche Werte, Geld und sozialer Aufstieg haben die jüngeren Generationen in der traditionsreichsten Stadt der Indischen Union geprägt.

Den ersten Preis im Fotowettbewerb des örtlichen französischen Kulturinstituts hat in diesem Jahr eine Aufnahme gewonnen, in der die Widersprüchlichkeit der Situation festgehalten ist: eine Brahmanin im neun Meter langen Sari, die voller Stolz auf dem neuesten Honda-Motorroller sitzt... Poona ist das Indien der Handwerkskunst und der Computer zugleich. Hierher kommt man nicht als Tourist, es gibt nichts Besonderes zu sehen, und darin liegt sicher ein Vorteil gegenüber anderen indischen Städten: Hier ist man nicht auf Besuch, hier lebt man. Die Stadt hat ihre begeisterten Anhänger, manche möchten nirgendwo sonst leben.

Ob man aus Bombay im Norden, Bangalore im Süden oder Goa im Westen anreist, stets macht der Bus in Shivaji Nagar Station. Nach einer halben Stunde hat man sich an die Allgegenwart von Shivaji gewöhnt, dessen Gipsbüste hier in verschiedenen Varianten an jeder Straßenecke zu sehen ist, mal in hinduistischem Safrangelb, mal in glorreichem Goldglanz. Auf den großen Straßenkreuzungen sind Standbilder des Helden hoch zu Roß zu bewundern, sogar auf den Türrahmen erscheint sein Bild in girlandenverzierten Medaillons. Alle Türen standen früher stets halb offen, ließen das Leben der Straße herein; inzwischen bleiben sie immer häufiger geschlossen, Poona wird zur Großstadt.

Traditionelles Leben

ALLE sind stolz auf den Nationalhelden Shivaji, der am Ende des 17. Jahrhunderts die Invasion der Mogulherrscher zurückschlug und ein marathisches Königreich begründete. Poona wurde Hauptstadt der Peshwa, einer marathischen Herrscherdynastie, und die Stadt am Zusammenfluß von Mula und Mutha – in der fruchtbaren Maharashtra- Ebene gelegen, von schützenden Hügeln, den ghats, umgeben – nahm einen glanzvollen Aufschwung. Später war sie ein Zentrum des Widerstands gegen die britische Kolonialherrschaft – hier fand der berühmte Nationalist Bal Gandhahar Tilak Zuflucht, der den Briten im 19. Jahrhundert die Stirn bot.

Nach dem Sieg der Kolonialmacht 1817 verlor Poona seine zentrale Stellung, aber die neuen Herren, die in der Handelsstadt Bombay saßen, entdeckten die Stadt schon bald als Sommerresidenz, die man während des Monsunwechsels aufsuchte. Sie wurde zur zweitwichtigsten Stadt in Maharashtra und behielt auch ihre militärische Bedeutung bei: Die Briten legten zwei große Waffenarsenale an, die Hauptgarnison im Westen und Kirkee im Osten, und richteten ihr militärisches Oberkommando für Südindien hier ein. Das martialische Gepräge der Stadt rührt aus dieser Zeit. Ihre Einheit jedoch verdankt sich dem Stolz ihrer Einwohner, hier zu leben.

Das wird vor allem in Sadashiv Peth, dem alten brahmanischen Viertel im Herzen Poonas deutlich, dessen kleine Häuser mit ihren gefährlich morschen Holzbalkonen sich um die Festung Shanwarwada drängen. Die 1736 erbaute Residenz der Peshwa-Dynastie besitzt zwar nicht die Schönheit der Mogul-Festungen des Nordens, etwa in Agra oder Delhi, aber einige Details – etwa die in die gewaltigen Türen getriebenen Dorne – erinnern an die indische Tradition der Prachtentfaltung.

Die Festung liegt tief in der Altstadt verborgen. Die Kasbah und der Markt, mundai, bildeten im 17. Jahrhundert das Stadtzentrum, im folgenden Jahrhundert entstanden dann die neueren Viertel (peths): Vital Peth, Ganesh Peth, Shukrawar Peth – der einst von den Peshwa-Herrschern eingerichtete „Rotlichtbezirk“ von Poona. Das Milieu floriert nach wie vor, obwohl hier Aids wütet. Für die konservative Gesellschaft war die Krankheit tabu, daher hat es lange gedauert, bis man sich mit dem Problem befaßte.

Hier in den alten Vierteln im Herzen der Stadt lebt das traditionelle Indien, vielfarbig und dichtgedrängt. Tausende kleiner Handwerksläden säumen die Straßen, die Familien sind weitverzweigt, und die Häuser werden unter den Nachkommen einer Sippe aufgeteilt, oft leben bis zu vier Generationen im selben Haushalt. Schwestern und Brüder plaudern von Tür zu Tür, sofern sie nicht in einer der Gemeinschaftsunterkünfte (chawls) leben, die in Poona allerdings seltener sind als in Bombay. Die Gastfreundschaft, deren sich die Marathen rühmen, zelebriert man, mit allen Ritualen und Gebräuchen, in den Räumen um den Innenhof: hier bedient die Herrin des Hauses die Männer und ihre Gäste, die zwischen den rangolis Platz genommen haben, kunstvollen Gebilden aus Bändern und Blumen, mit regenbogenfarbigem Puder bestäubt, die als Willkommensgruß auf dem Boden ausgebreitet werden.

Zunächst servieren die Frauen Basmati-Reis, der mit dais (Linsen), ghee (zerlassener Butter) und Gewürzen verfeinert ist, danach Gemüsegerichte und wieder Reis, der traditionell die vegetarische Mahlzeit eröffnet und beschließt. In den niederen Kasten wird vorzugsweise Curry mit Hammel oder Huhn gereicht – sofern man sich das leisten kann. Die Tischsitten sind das äußere Zeichen der Kastenzugehörigkeit, strenggenommen darf man niemals eine Mahlzeit mit Angehörigen einer niedriger gestellten Kaste teilen. Das Leben der Frauen bleibt im wesentlichen an das Haus gebunden, außer wenn sie durch eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz die Freiheit gewinnen, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Dann sieht man sie in den Geschäftstraßen der City, wo vieles von ihrem Aufbegehren gegen die Gebräuche der Gesellschaft kündet. Ihr Weg führt in die Viertel, wo hergestellt und verkauft wird, was sie suchen: Saris aus Seide gibt es in der Lakshmi Road, Geschirr und Tonschalen bei den khumbars (Töpfern) am Fluß und in Sukrawar Ganj, Stoffe in Somwar Ganj und Körbe in Raviwar, Schmuck bei den sunars (Goldschmieden) in der Tilak Road... Die Männer sind eher bei Masseuren und Barbierläden anzutreffen und bei den pan-(Betel-)Verkäufern; oder sie sitzen einfach bei Tee und Zigaretten in den hostels zusammen.

In der buntgemischten Menge sind die Gestalten oft nicht, was sie scheinen. Was man für einen Scharlatan, einen billigen Wahrsager halten mag, erweist sich als ein Mitglied der joshi, der ehrwürdigen Kaste der Astrologen – hier werden vor jeder Geburt die Sterne befragt. Und die armen Teufel mit den geschwärzten Gesichtern und den zerzausten Haaren, die in den Mülltonnen wühlen – nein, es sind keine Bettler, sondern sie arbeiten für die Müllverwertungsunternehmen. An ihren schillernden, glitzernden Gewändern, die mit spiegelnden Pailletten übersät sind, erkennt man die Mitglieder der Kaste der Bauleute aus Radjastan, die zur Zeit des Holi, des hinduistischen Neujahrstages im März, plötzlich vermehrt auftreten. Während dieses Festes bespritzt man sich mit farbigen Wässerchen und bestäubt die Vorübergehenden mit bunten Pulvern. Frauen tanzen und singen, begleitet von Sängern, die bajans (Gedichte) vortragen, und von den als Opferbringende verkleideten Mitgliedern der Kaste der Durga – eine Rupie gibt es für solch eine kleine Aufführung. Die Geschäftsleute zahlen, sie kennen die Gebräuche von Poona. Seit fünfzig Jahren sind sie hier, marwarische und gujaratische Händler, Parsen aus Bombay, niemand findet etwas Besonderes daran. Daß die äußeren Kennzeichen der Gruppenzugehörigkeit so deutlich sind, macht es den Indern leicht: Mit einem Blick erfassen sie Herkunft und Kaste.

So deutlich sind die Zeichen, daß sie keine Gefahr mehr bedeuten: Alle dürfen sich mischen, Segregation ist nicht zu befürchten, auch keine Ausgrenzung.

Von März bis Mai herrscht Sommer, mit Spitzentemperaturen um 45 Grad, und die Stadt verfällt in Reglosigkeit. Das Zirpen der Grillen wird übertönt vom Schnarchen und erleichterten Ächzen der Stadtbewohner, die sich seit der Mittagsstunde auf ihren Bänken in den Straßen ausgestreckt haben. Nur die Kokosnußverkäufer sind noch unterwegs, sie schlagen die frischen grünen Nüsse auf und bieten sie mit einem Strohhalm zum Trinken an.

Auch die Götter schlafen nicht: Sie sind überall, sogar in den grellrosa bemalten Ästen der Bäume, die als Altar für Ganesh dienen, und noch im Mauerstein eines Hauses, der das Pferd Vishnus oder den Stier Shivas darstellt. Alles ist Geste, alles ist Gestalt. Zwischen den Obst- und Blumenständen haben auch die Verkaufsbuden der pujas einen Platz gefunden. Nach der Sitte tritt man vor dem Tempel von Ganesh, Durga oder Sahi Baba im Gänsemarsch an, damit einer nach dem anderen artig seine Opfergabe abliefern kann: die geweihte Kokosnuß, die Lotusblüte, die Girlande aus weißen und orangeroten Blumen, die Blütenkette. Der pujari, der für das Zeremoniell verantwortliche Priester, zerschlägt mit raschen, methodischen Handgriffen eine Nuß und drückt jedem der nachrückenden Gläubigen ein Stück in die Hand. Jeder verneigt sich, geht durch den Tempel, läßt die Glocke erklingen, macht eine letzte respektvolle Verbeugung vor den Abbildern der Gottheiten. Man betet nicht, man meditiert, die Augen erst halb, dann ganz geschlossen..., es ist doch so heiß.

Westliche Religionen

AM anderen Ende der Stadt, im Osten, nahe dem Camp, floriert eine andere Religion, die sich westliche Menschen aus dem zusammengestrickt haben, was sie an östlicher Weisheit verstanden haben. Im Ashram des Guru Bhagwan Rajneesh, nach seinem Tode nun Osho genannt, wird eine merkwürdige Mischung aus buddhistischer Meditation und Philosophie der Befreiung – und der Freizügigkeit – geboten. Der Meister war umstritten, aber sein Geschäft floriert. Jeden Morgen erscheinen glückliche große Menschen in dunkelroter Kleidung und zahlen den Eintritt ins Reich der Erlösung – ein üppig ausgestattetes Pensionat mit rund dreitausend Aids-freien Zöglingen. Hin und wieder wagen sie sich in das 500 Meter entfernte Camp, das ehemalige britische Waffenlager.

Dort sind auf engem Raum die Wahrzeichen der britischen Kolonialherrschaft versammelt: die Hauptpost – General Post Office (GPO) genannt –, das Central Building und das Police Commissioner Office. Längst ist die Verwaltung unter dem Staub und der Trägheit Indiens versunken. Um einen Brief zu verschicken, muß man in der Hauptpost an fünf verschiedenen Schaltern anstehen: An Schalter eins wird die Sendung gewogen, am zweiten Schalter wird das Porto bestimmt, am dritten bekommt man die Briefmarken, am vierten wird der Vorgang registriert, und am letzten gibt es dann den Stempel... Im nahegelegenen Polizeipräsidium, einem weitläufigen, imposanten Bau, riecht es förmlich nach eifriger Aktenarbeit, was die Abwesenheit überarbeiteter Angestellter entschuldigt.

Importierte Moderne

ZUR Rechten beginnt hier eine weitere wichtige Verkehrsader Poonas, die Mahatma Gandhi Road, an der das Grandhotel Aurora liegt und das „Coffee House“, ein Restaurant, das – wie die umliegenden Geschäfte auch – gerade schwer in Mode ist. Hier finden sich sämtliche Attribute des modernen Indien, auch die nachteiligen: Verkehrsstaus, Lärm und Luftverschmutzung. Um ein Geschäft zu erreichen, muß man sich einen Weg bahnen zwischen Scharen von Rikschas, den schwarzgelben „Käfern“, wie die dicken Ambassador-Taxis heißen, Motorrollern, auf denen ganze Familien hocken, und den zahlreichen schwarzen Fahrrädern, die elegant und zerbrechlich wirken. Die Inder fahren gut in dieser Stadt, aber von geregeltem Verkehr kann keine Rede sein. Hier in den modernen Vierteln gibt es natürlich ein paar Ampeln, sie sind am Abend allerdings nicht mehr in Betrieb. Für wen auch? Überdies ist der Strom so knapp, daß man sich überlegen muß, wofür man ihn einsetzt. Die Stadt versinkt in der feuchten und heißen Nacht, die unter den ersten Regenschauern erzittert, die sofort Stromausfälle nach sich ziehen.

Abends ist kaum jemand auf der Straße, nur einige hilflose Gestalten, die unter Einwirkung von Palmenschnaps, dem Alkohol der Armen, zwischen den wenigen Ehepaaren hin und her torkeln, die noch durch Poonas Straßen schlendern. Sie werden dabei nicht nur von diesen armen Teufeln angerempelt, sondern auch von den „coolen“ Jugendlichen, die aus den Kinos strömen. Drei Arten von Einwohnern gibt es: die Elenden, die feierlich schreitenden Brahmanen im dhoti mit ihren Gattinnen und die Jugendlichen in Jeans auf ihren knatternden Vehikeln. An der Art, wie die Jugend im Camp redet, zeigt sich der Verlust der marathischen Tradition: es ist die Sprache des hinduistischen masala-Kinos und der amerikanischen Filme. Im vergangenen Sommer liefen zwei amerikanische Filme – „Leon der Profi“ und „Der König der Löwen“ – mit beispiellosem Erfolg, während „Schindlers Liste“ schon nach einer Woche wieder abgesetzt wurde. Marathische Filme fehlen, dabei hatten vor zwanzig Jahren Programmkinos in Kolhapur und Poona großen Erfolg. Aber es gibt genug Regisseure, die gute Filme für das breite Publikum machen: Mira Nair, mit „Saalam Bombay“, oder Mani Ratnam, dessen Film „Bombay“ im vergangenen Jahr angelaufen ist.

Ein Häuflein Unbeugsamer verteidigt noch immer die regionale Kultur – und es ist ein schöpferischer Widerstand: Schon in den sechziger und siebziger Jahren versuchte man, die jüngere Generation durch freche Theaterproduktionen zu gewinnen, die sowohl gegen die Intoleranz der alten konservativen Oberschicht von Poona wie gegen die neue Konsumwelle gerichtet waren. Die Autoren von damals – Satish Alekar, Maheh Elkunchwar, Vijai Tendullkar, G. P. Deshpande – schreiben noch, aber für ein immer kleineres Publikum. Ein großer Teil der Jugend in Poona kehrt Indien, wie es heute ist, den Rücken, um sich lieber einer frisch importierten Moderne zuzuwenden. Sobald man sein Diplom in der Tasche hat, versucht man eine Anstellung in den Golfstaaten zu finden und dort sein Glück zu machen.

Die Gärten von Deccan

AUSSER dem Camp sind auch die Eisenbahnen eine Hinterlassenschaft der Engländer. Die großen Strecken, nach Bombay im Norden und nach Satara-Kolhapur im Süden, stammen vom Ende des letzten Jahrhunderts. Auch wenn die Züge heute schmutzig und überfüllt sind – die Eisenbahn ist eines der wenigen angenehmen Andenken an die Kolonialherrschaft. Im vergangenen Juni feierte man nicht ohne Rührung das sechzigjährige Jubiläum der „Deccan Queen“, eines Zuges, der drei Stunden für die Strecke zwischen Poona und Bombay braucht. In den Bahnhöfen drängen sich Männer, Frauen und Kinder, warten zwischen Jutesäcken und Segeltuchkoffern. Während sie sich eine Mahlzeit teilen, versuchen sie, so laut zu reden, daß sie die rauhen Schreie der Hausierer und Verkäufer von chai übertönen, jenes gesüßten, mit Kardamom gewürzten Siruptees, der einem die Kehle verbrennt.

Die reichen Brahmanen, die ihre Ruhe liebten, hatten früh erkannt, daß diese ständig wachsende Menge nicht einzudämmen war. Anfang des Jahrhunderts bauten sie ihre Bungalows auf der anderen Seite der Mula, in Deccan Gymkhana im Hinterland der Stadt. Dort gibt es sie noch, die Gärten mit den gewaltigen Mango- und Jammus-Bäumen, die Häuser, in denen die Dienerschaft auf Mungos Jagd macht. Im Sommer sind diese Häuser große Inseln der Kühle, dann kommt die Zeit des Monsuns, von Juni bis Oktober. Die Natur gerät in Wallung, überall sprießt und grünt es. Dann die kalte Jahreszeit, bis zum Februar. Das Indien Renoirs. Das Indien der Gärten, die Landschaft, in der Inder und Engländer zusammenkamen. Das Indien des Cricketspiels, weiße Uniformen auf makellosem Rasen. Es gibt viele dieser Gärten in Poona, die Empress Botanical Gardens, den Bund Garden und dann die vielen Hektar tropischer Pflanzen und Blumen, die den Kasturba Samadhi umgeben, einen 1860 entstandenen Palast – heute eine Gedächtnisstätte für Gandhi. Der Mahatma wurde hier 1942 interniert, auch starb hier seine Frau.

In Deccan spürt man das Indien der großen Dynastien, das Indien der Dichtkunst Tagores, das traditionelle Indien des Sanskrit, um dessen Pflege sich das Bhandarkar-Institut kümmert. Irgendwo hier unter den Mangobäumen liegt das Atelier von Rohini Bathe, dem Guru des katak, der Tanzkunst des Nordens, und der Schlupfwinkel des weltberühmten Yoga-Meisters Ayangar.

Kultur ist allgegenwärtig in Poona. Das Universitätsgelände im Norden liegt wie eine Oase in der Wüste; das Deccan College im Süden ist auch im wörtlichen Sinne die Hochburg des Sanskrit und residiert in einem neogotischen Kastell. Forscher aus aller Welt kommen hierher, um mit den Meistern des Fachs zusammenzuarbeiten. Poona ist nach wie vor die klassische Universitätsstadt der Indischen Union. Der Elite der Gebildeten bieten sich hier unzählige Spielstätten, an denen unter Anleitung der Gurus Theater, Musik und Tanz in unverfälschter traditioneller Form geboten werden. Aber Erschütterungen, die aus ganz anderen Welten herrühren, bringen diese Kultur ins Wanken.

Die Politik erreicht die Kasten

IN Deccan ist Indien sanfter; hier lebt noch eine Generation, die sich an das alte Poona erinnert – und um es trauert, als sei die Stadt bereits untergegangen. „Natürlich, es gab Reiche und Arme. Aber die Einkommensunterschiede waren nicht so wichtig. Man kam zusammen, man redete miteinander. Der berühmte Professor Khane drehte hier mit dem Fahrrad seine Runden. Heute haben wir eine Schicht von Superreichen, die sich von den anderen fernhält und nur noch ihre dicken Autos und Bungalows im Kopf hat. Und auf der anderen Seite gibt es immer mehr Elendsquartiere.“ Diese vage Kritik der Kultur des Geldes und des Materialismus kommt von einem alten Brahmanen, der seit 65 Jahren in Deccan im gleichen Bungalow wohnt. Ein gewisses Kastendenken ist auch dabei: In einer Stadt, die bedroht ist von fremden Wertvorstellungen, von Industrialisierung, Arbeitslosigkeit und Armut, sind die Kasten der einzige Garant für Identität.

So wird denn auch verstärkt nach traditioneller Manier innerhalb der Kaste geheiratet. Ein Paar, das in der Bandharkar Institute Road wohnt, trennt sich täglich um 20 Uhr, beide gehen zu ihren Familien – er ist Brahmane, sie gehört zu den chambhar, den Unberührbaren, und beide fürchten, aus ihrer Kaste ausgestoßen zu werden.

Der Rückzug auf die Kastengrenzen ist überall spürbar, er führt nicht nur zu solchen Vergewaltigungen der Gefühle, sondern etwa auch zu überzogenen Forderungen in der Quotenpolitik („protective discrimination“). Als es im Juni Zeugnisse gab, hatten Schüler aus den besonders benachteiligten Kasten (scheduled castes) des Maharashtra (den mahar, chamar, mang, dhor) mit schlechteren Noten bestanden als ihre brahmanischen Mitschüler, die durchgefallen waren. Proteste wurden laut gegen die Quote: „Die Mediokratie hat die Meritokratie ersetzt...“

Auch mehren sich Anzeichen von Rassismus – eine gewisse Verachtung gegenüber den Äthiopiern und Kenianern, die hier studieren, weil die Ausbildung gut und nicht zu teuer ist; und dann ist da noch die alte Frontlinie zwischen Hindus und Muslimen, die in Zeiten zunehmender sozialer Spannungen immer wieder aufbricht. Das konservative Poona war eine Hochburg der Kongreßpartei, von hier kam Sharad Pawar, der langjährige Regierungschef (chief minister) von Maharashtra. Als Ende der achtziger Jahre in Bombay die extrem nationalistische Hindu-Bewegung Shiv Sena aufkam, war von diesem neuerlichen Kreuzzug in Poona nichts zu spüren. Shiv Sena („Armee Shivajis“) war sehr darum bemüht, die Figur des großen marathischen Kriegers vor ihren Karren zu spannen – in der Hoffnung, nationalistische Emotionen zu schüren. Aber Poona blieb gelassen, auch als im März 1993 in Bombay der Irrsinn regierte und Hindus und Muslime aufeinander losgingen. Noch heute staunt man, daß es damals möglich war, sich aus diesen Konflikten herauszuhalten.1 Aber das Geschwür wuchert fort: bei den Parlamentswahlen von Anfang 1995 schwenkte die Region Poona zwar nicht völlig nach rechts, aber die Kongreßpartei verlor 17 Sitze, während die Allianz von hinduistischer BJP und Shiv Sena neun Mandate hinzugewann. Zum ersten Mal haben damit die Extremisten in der traditionell ruhigen Stadt Fuß gefaßt. Aber auch in Poona gibt es sie, die Probleme eines allzu raschen großstädtischen Wachstums.

Poona boomt

POONAS Phase wirtschaftlicher Prosperität fiel in die Zeit nach der Unabhängigkeit, in die fünfziger und sechziger Jahre, obwohl es industrielle Produktion für den lokalen Bedarf natürlich auch vorher gegeben hatte. Um die Jahrhundertwende entstanden die ersten großen Fabriken: Deccan Paper Mill, Gujrat Metal Factory... Die Dezentralisierung Bombays brachte einige der großen nationalen Unternehmen nach Poona: Kirloskar (1946), Hindustan Antibiotics (1955), Greaves (1957) – damit war der Prozeß in Gang gesetzt.

Als nächste kamen Unternehmen von internationalem Rang. Die multinationale Unternehmensgruppe Bajaj, die in ganz Indien in der Stahl- und Pharmabranche sowie im Zuckergeschäft tätig ist, baute in Poona eine Fabrik für Motorroller und Rikschas, außerdem kamen Philips, Sandwijk und SKF. Letzten Juni hat die Banque Nationale de Paris (BNP) hier eine Filiale eröffnet – ihre fünfte in ganz Indien. Poona wird immer interessanter, weil es nahe bei Bombay liegt und über eine gut ausgebaute Wasser- und Stromversorgung verfügt. 40 Prozent der Arbeitsplätze und des Kapitals entfallen auf Maschinenbau und Metallverarbeitung, danach folgen Elektroindustrie, Nahrungsmittel, chemische Industrie, Textil- und Druckgewerbe.

Das Wachstum hat die Gründung neuer Städte nach sich gezogen, etwa Pimpri-Chinchwad, an der Bahnlinie Bombay-Poona, wo heute 40 Prozent der Beschäftigten der Municipal Corporation leben. Im Osten erstreckt sich das Industriegebiet Hadapsar, ein drittes liegt im Süden, an der Straße nach Satara. Die Aussicht auf Beschäftigung zieht viele Arbeitskräfte an.

Zwei bis vier Stunden Fahrt ertragen sie jeden Tag, Entfremdung und Erschöpfung. Sie fahren aus Bombay oder aus ihrem Dorf zur Arbeit und abends wieder zurück. Jeden Morgen sieht man sie auf den Seitenstreifen der Ausfallstraßen von Poona stehen, die nackten Füße im Dreck, Staub um die Nase – Männer und Frauen, die in aller Frühe aus den Ortschaften der Umgebung gekommen sind, die allzeit verfügbare Reservearmee. Sie werden tageweise als Gärtner oder Kulis beschäftigt. Viele sind schon nirgendwo mehr zu Hause, eine Generation von Migranten entsteht. Innerhalb von kaum einem Jahrzehnt sind viele, die in traditionellen Handwerksberufen beschäftigt waren, zur Industriearbeit umgeschult worden, so gehörten die Frauen, die heute bidis (Eukalyptuszigaretten) rollen, zur jati2 der padamshali, einer alten Unter-Kaste der Stickerinnen im Süden, die von der Textilindustrie in den Ruin getrieben wurde. Mit der Bevölkerung von Poona haben sie sich nicht vermischt, ihre Sprache ist Telugu, nicht das Marathische.

Hütten und Paläste

STADTENTWICKLUNG und Lebensbedingungen mußten bei diesem raschen Industrialisierungsprozeß auf der Strecke bleiben, die zuständige Verwaltung, die Maharashtra Industrial Development Corporation, steht vor erheblichen Schwierigkeiten. In Hadapsar sind zwischen den Bretter- und Wellblechhütten – die der Sommer in Backöfen verwandelt und die Regenzeit davonspült – zunächst eingeschossige Läden entstanden, boten fliegende Händler Weihrauch und Blumen an, schossen Teestuben und Fahrradläden aus dem Boden. Dann kamen die Architektenbüros und die Rechtsanwälte, die Privatkliniken. Und inzwischen kann man zwischen blühenden Bougainvilleen edle Pferde laufen sehen, das schönste Gestüt Indiens ist hier entstanden. Aber eines Morgens bildet sich hier, an dem hübschen ausgetrockneten Brunnen in Form einer Lotusblüte, eine morcha, ein von Frauen und Kindern organisierter Protestzug, der den Zugang zu einer der Hauptverkehrsstraßen blockiert. Die Bewohner empören sich, weil sie kein fließendes Wasser haben: für die ganze Siedlung gibt es tatsächlich nur einen Wasserspeicher. Und der Monsun ist seit einem Monat überfällig.

Solche Probleme sind nicht selten. Außer der Municipal Corporation verfügt die Stadt noch über ein Netz von Organisationen, die in der Tradition marathischer Reformatoren stehen. Auch der Mahatma Phule Trust (benannt nach einem legendären Wohltäter) und Rotary International sind in der Stadt vielfach tätig. Es gibt zahlreiche Verbände, die Wohnungsbeihilfen, Darlehen für Angehörige niederer Kasten, Unterstützung und Wohnheime für Studenten, Frauenhilfsorganisationen und Bildungseinrichtungen bereitstellen.

Dennoch heißt es „Poona sehen und sterben“, so sehr ist die Stadt in der Vorstellung der Inder mit Wohlleben und kulturellem Raffinement verknüpft: eine Stadt, in der man des Abends gemessenen Schrittes und fernab der Hektik Bombays durch die Straßen schlendert. Eine Stadt, in der sich die Moderne allmählich ihren Weg durch das traditionelle Leben bahnt, eine Stadt, flankiert von ihren modernen Erweiterungen Pimpri und Haradsvar, umgeben von Hügelketten, die den Göttern geweiht sind. Der Hügel mit dem Tempel von Chatushringi ist Durga geweiht, dann kommt der Hügel des Hanuman Tekdi, dann der Hügel Rams... Auf der höchsten Erhebung im Süden wacht der Tempel Parvatis. Hierher kommen die Einwohner, um ihre morgendlichen Freiübungen zu machen. Unten begegnet man auf Schritt und Tritt den tausendundeins Shivaji- Standbildern. Werden sie das stolze Wahrzeichen marathischer Tradition bleiben, oder verkümmern sie zum Symbol eines neuen Hindu-Nationalismus?

dt. Edgar Peinelt

1 Vgl. Rolf Gauffin, „New Delhi face à la marée hindouiste“, Le Monde diplomatique, April 1993, und Praful Bidwal, „Les déshérités font reculer la marée hindouiste“, Le Monde diplomatique, Februar 1994.

2 Mit dem Begriff der Kasten sind die jatis, die endogamen Gruppen, gemeint. Die traditionelle Aufteilung, nach den Prinzipien der Reinheit, in vier große Kasten (varna) unterscheidet Brahmanen, Kahatrya (Krieger), Vaishya (Händler) und Chudra (dienende Kasten und Handwerker) von den Nichtkastenzugehörigen. Der heutigen sozio-ökonomischen Wirklichkeit Indiens wird diese vereinfachende Gliederung allerdings kaum gerecht.

* Die Autorin forscht an der Ecole pratique des hautes études (Paris); Thema ihrer Promotion ist der Begriff der Arbeit im Maharashtra.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Marie-Caroline Saglio