16.02.1996

Solidarität mit den Entwurzelten

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Solidarität mit den Entwurzelten

Auf allen Kontinenten werden Menschen durch Gewalt und Verzweiflung gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Kriege ziehen sich hin, und infolgedessen verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage und die ökologischen Bedingungen in vielen Ländern – für entwurzelte Menschen wird es immer schwieriger, eine Lösung zu finden. (...) Hinter dem massiven, weltumspannenden Problem der Entwurzelung in der heutigen Welt verbergen sich Geschichten persönlichen Leids, auseinandergerissener Familien und Schmerzen. Fast jeder fünfzigste Mensch ist heute Flüchtling oder internationaler Migrant. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder.

Wir sind empört über die Gewalt und Ungerechtigkeit, die Menschen entwurzelt, und über das dadurch verursachte Leiden.

In der Vergangenheit unterdrückte ethnische und Nationalitätenkonflikte sind im letzten Jahrzehnt explosionsartig in offene Kriege umgeschlagen. Religion und ethnische Zugehörigkeit werden für engstirnige nationalistische Ziele eingesetzt und spalten pluralistische Gesellschaften. Immer mehr Zivilpersonen werden Opfer von Gewalt – zum Teil aufgrund der verbreiteten Verfügbarkeit von Waffen und Landminen. Millionen sind durch Gewalt entwurzelt worden: 30 Millionen sind Flüchtlinge innerhalb der eigenen Landesgrenzen, und weitere 17 Millionen flohen in andere Länder.

Gewalt gegen Personen, Gemeinschaften und ganze Völker führt in vielen Ländern zur Zerstörung des sozialen Gefüges, der wirtschaftlichen Infrastruktur und der Umwelt. Die Zerstörung von Gemeinschaft ist die Hauptursache von Zwangsmigration.

Die Dauerarbeitslosigkeit nimmt in allen Regionen zu und führt zu vermehrter Marginalisierung, Ausgrenzung und Abwanderung. Die vorwiegend kapitalintensiven Investitionen schaffen nicht genügend Arbeitsplätze für die wachsende Anzahl von Menschen im arbeitsfähigen Alter.

Zunehmende Verschuldung zusammen mit von außen aufgezwungenen Maßnahmen zur strukturellen Anpassung und eine restriktive Steuerpolitik machen den Menschen das Überleben schwer. Gleichzeitig ziehen sich viele Regierungen aus der Zuständigkeit für Sozialprogramme zurück. Ihre Entscheidung, die Ausgaben für soziale Belange wie Gesundheit und Erziehung zu kürzen und gleichzeitig ihre Militärausgaben zu erhöhen, trägt zur Verarmung und letztlich zur Destabilisierung bei.

Rund 10 Millionen Menschen werden jedes Jahr in der Folge von gezielten „Entwicklungs“-Programmen umgesiedelt. Dazu zählt die Überflutung großer Gebiete durch Staudämme oder die Einführung vollmechanisierter Landwirtschaftsbetriebe anstelle des Anbaus für den Eigenbedarf.

Die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt – einschließlich Entwaldung, Schwinden der Erdkrume, Versteppung – und die nicht rückgängig zu machende Erosion von Ackerland führen dazu, daß traditionelle Kulturlandschaften unbewohnbar werden. Schätzungen gehen davon aus, daß heute 10 bis 25 Millionen Menschen aus Umweltgründen vertrieben wurden.

Mit der weltweit zunehmenden Anzahl entwurzelter Menschen nimmt auch die Bereitschaft, ihnen Schutz zu gewähren, rapide ab. Regierungen in allen Regionen, an der Spitze diejenigen des industriellen Nordens, führen restriktive Einwanderungsbestimmungen und drakonische „Abschreckungsmaßnahmen“ ein, um die Einreise von Asylsuchenden und Migranten zu verhindern. Dies führt dazu, daß Menschen, deren Leben und Menschenrechte geschützt werden müßten, regierungsamtlich ausgeschlossen und gebrandmarkt werden.

(Auszüge aus der „Erklärung zu entwurzelten Menschen“ des Ökumenischen Rats der Kirchen, Genf, 22. September 1995)

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996