16.02.1996

Die Geschichte bleibt eine offene Wunde

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Die Geschichte bleibt eine offene Wunde

VON DEN SCHWIERIGKEITEN DER DEUTSCH-TSCHECHISCHEN BEZIEHUNG

Die Geschichte bleibt eine offene Wunde

FÜNFZIG Jahre nach der Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland vergiftet dieses Kapitel der Nachkriegsgeschichte noch immer die deutsch- tschechischen Beziehungen. Da unklar ist, welche Ansprüche Bonn stellen wird – offizielle Verurteilung der Verbrechen, Entschädigung der Opfer oder sogar Erstattung ihres einstigen Vermögens –, hat Prag seine Position verhärtet. Die laufenden Verhandlungen wurden unterbrochen, und auf beiden Seiten wütet die nationalistische Selbstüberhebung. Sogar Präsident Václav Havel, dessen 1990 ohne Gegenleistung vorgebrachte Entschuldigung bei seinen Landsleuten auf Kritik stieß, mußte einen Schritt hinter das Erreichte zurück tun.

Von ANTONIN LIEHM *

Eine der größten „ethnischen Säuberungen“ in Europa fand in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Sudetenland statt: Als Folge des Potsdamer Abkommens wurden drei Millionen Einwohner deutscher Nationalität aus der Tschechoslowakei nach Deutschland vertrieben. Die Gründe für diese Zwangsumsiedlung sind bekannt und wurden oft debattiert.1

Für das Schicksal Europas ist es ein glücklicher Umstand, daß diese Menschen weder, wie die Palästinenser, eine eigene Siedlungsgemeinschaft bildeten, noch in Lagern leben mußten oder durch Diskriminierung ausgegrenzt wurden. Vielmehr haben sie sich in die deutsche Nachkriegsgesellschaft integriert, sich an deren Wiederaufbau beteiligt und schrittweise einen besseren Lebensstandard, größere Freiheit und mehr Demokratie erlangt als ihre in der Tschechoslowakei verbliebenen einstigen Landsleute.

Gleichwohl haben die verschiedenen sudetendeutschen Verbände und Organisationen nie aufgehört, die Vertreibung als unrechtmäßig zu betrachten. Entsprechend erkennen sie auch die Folgen nicht als rechtmäßig an. In unterschiedlichem Grade klagen sie das Recht auf Rückkehr und Entschädigung oder gar auf Rückerstattung ihres Vermögens ein. Da die Wählerstimmen der Sudetendeutschen zumal in Bayern einiges Gewicht besitzen, haben es alle bisherigen Bundesregierungen vermieden, die Beschlüsse von Potsdam klar und eindeutig anzuerkennen, und sich stets in ausweichende Stellungnahmen geflüchtet. Diese Haltung gab der tschechoslowakischen Propaganda über Jahrzehnte ein vorzügliches Argument an die Hand: Sie machte die Sudetenfrage zur raison d'être der bedingungslosen Allianz mit der UdSSR. Diese Situation hielt praktisch bis Ende 1989 an.

In der ČSSR war jedoch Mitte der achtziger Jahre unter den intellektuellen Dissidenten der Charta 77 eine Diskussion entbrannt, die auch die tschechische Verantwortung für die Vertreibung der Sudetendeutschen erörterte. Zum einen ging es darum, sich der moralischen Auseinandersetzung zu stellen: Wie immer man über die Vertreibung dachte, man gab erstmals offen zu, daß sie sich mit nicht zu rechtfertigender Gewalt vollzogen und mehrere zehntausend Opfer gefordert hatte – die Zahlen werden unterschiedlich geschätzt. Zum anderen führte die Anerkennung der tschechischen Verantwortung zu der Frage, ob die Ausbürgerung tatsächlich berechtigt gewesen war – und das kratzte zumindest punktuell an der vom kommunistischen Regime beanspruchten Rolle eines Vollstreckers historischer Gerechtigkeit und damit an der moralischen Rechtfertigung dieses Regimes.

Leider lief die Diskussion, unter den kommunistischen Bedingungen, hinter verschlossenen Türen und praktisch nur unter einer Handvoll Dissidenten – ja nur unter jenen Regimegegnern, die an die im Untergrund kursierenden Dokumente herankamen. So konnte diese Debatte trotz ihrer triftigen Argumente und richtigen Schlüsse nur das Terrain für eine öffentliche Auseinandersetzung bereiten, die erst nach dem Sturz des Regimes richtig möglich wurde.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und der Wahl Václav Havels, der Symbolfigur der Opposition, zum Präsidenten vergaß man leider, wie beschränkt und unzureichend der Dialog zwischen den Dissidenten und der überwiegenden Mehrheit der Nation gewesen war. Die im Untergrund entwickelten und diskutierten Ideen waren bis 1989 nur über wenige ausländische Radiosender an die Bevölkerung gelangt, und nun galt es, sie der breiten Mehrheit bekannt zu machen. Eine wohlwollende Aufnahme war dabei keineswegs sicher.

Ein ungenügend vorbereiteter Schritt

SO bestieg Präsident Havel gleich nach seiner Wahl das Flugzeug, nicht, um in die Hauptstadt der anderen Hälfte des tschechoslowakischen Staates, ins slowakische Bratislava, zu fliegen, sondern – nach München. Kaum angekommen, entschuldigte er sich am 2. Januar 1990 vor laufenden Kameras und Mikrofonen bei hohen Vertretern der Bundesrepublik im Namen der endlich wiedererlangten tschechischen Tugend für die Ungerechtigkeit und das Leid, das den Deutschen durch die Tschechen widerfahren war.

Es kam, wie es kommen mußte. Mangels Vorbereitung, deren eine solche politische Geste bedarf, mißverstand die Mehrheit der Tschechen den Schritt ihres Präsidenten, zumal für sie München das Symbol des von den Deutschen begangenen Unrechts war und ist. Die extreme Rechte und Linke schlugen aus diesem Unverständnis eilends Profit. Und so bleibt die deutsche Frage – auch und gerade als das Gespenst sudetendeutscher Ansprüche – eines der Hauptargumente der Opposition im Kampf gegen die Regierung, der man vorwirft, die nationalen Interessen preiszugeben und aus Schwäche die Sicherheit des Landes aufs Spiel zu setzen.

Ehrenwert, doch ungenügend vorbereitet, zeitigte Havels politische Geste auch auf deutscher Seite ihre Wirkungen. Die radikalsten unter den sudetendeutschen Verbänden sahen sich bestärkt und erhöhten den Druck auf die Regierung. Sie bestanden darauf, daß der deutsch-tschechische Vertrag, der nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten unterzeichnet wurde, keine Klausel enthalte, die den Verzicht auf territoriale Forderungen oder Restitutionsansprüche festschreibt – wie der deutsch-polnische Vertrag es tut. Sie konnten sich durchsetzen: Eine Formulierung wie „Es bleibt den Regierungen vorbehalten, spätere Streitfragen zu klären“ hat es in der Tat wesentlich erschwert, endlich mit der Geschichte ins reine zu kommen.

Dies wiederum beeinflußte auch die politische Entwicklung der Tschechoslowakei bzw. später Tschechiens. Während für die Deutschen das tschechische Problem nur am Rande eine Rolle spielt, ist die deutsche Frage für die Tschechen von zentraler Bedeutung. Die Ungeklärtheit dieser Frage eröffnet all jenen einen enormen Handlungsspielraum, die gewisse tief eingegrabene Züge der kollektiven Psychologie ausbeuten oder direkt mißbrauchen.

Kurz, das sudetendeutsche Problem hat das politische Klima vergiftet. Die Ambivalenz der tschechischen Haltung schwächte die Position der Regierung in den bilateralen Kontakten und Verhandlungen so sehr, daß sich Präsident Havel am Ende gezwungen sah, sich an die Nation zu wenden. So äußerte er am 18. Februar 1995 in der großen Aula des Karolinums in Prag – anläßlich der Eröffnung der von der Karls-Universität zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung organisierten „Gespräche mit unseren Nachbarn“ – die Haltung, es könne nicht länger zugelassen werden, daß die alte Schuld die aktuelle Politik überlagere (siehe Kasten). In ähnlichem Sinne wandte sich am 5. Oktober 1995 am selben Ort auch die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, an die Öffentlichkeit.

Gleichzeitig entspann sich in den Medien eine Debatte zwischen tschechischen Intellektuellen und Politikern, deren Auslöser ein Manifest mit dem Titel Die Aussöhnung gewesen war. Darin wurde Havels Thesen widersprochen, und sein erster Unterzeichner war kein anderer als der frühere Premierminister Petr Pithart.

Kein Land investiert in Tschechien so viel wie Deutschland, wodurch potentiell ziemlich viel neue Arbeitsplätze, insbesondere im früheren Sudetenland, geschaffen werden. Auch bilden die Deutschen unter den jährlich etwa hundert Millionen Touristen das stärkste Kontingent, und ihre wertvollen Devisen ergeben zu einem guten Teil den tschechischen Handelsbilanzüberschuß. Die Aussiedler möchten durchweg nur als Touristen oder Geschäftsleute in ihre ehemalige Heimat zurückkehren. Und die persönlichen Kontakte zwischen den Bürgern der beiden Staaten waren noch nie so zahlreich wie jetzt.

Dennoch sind zum aktuellen Zeitpunkt, auf der Schwelle zwischen zwei Epochen, die Dämonen der Vergangenheit noch längst nicht ausgetrieben. Dafür braucht es nicht nur Zeit, sondern ganz gewiß auch sehr viel politischen Mut auf beiden Seiten, der mit jedem Wahltermin, ob im Juni 1996 in Tschechien oder 1998 in Deutschland, auf eine neue Probe gestellt wird. Einen nicht geringeren Prüfstein für solchen Mut stellt die Ost-Erweiterung der EU dar: Schon vernimmt man in Deutschland wieder Stimmen, die die bundesdeutsche Haltung zu einem tschechischen Aufnahmeantrag von der Antwort abhängig machen wollen, die Prag auf die deutschen Forderungen hinsichtlich der Sudetendeutschen gibt.

dt. Eveline Passet

1 Im Münchner Abkommen vom 30. 9. 1938 wurde die Tschechoslowakei von Frankreich und Großbritannien im Stich gelassen; Nazitruppen besetzten zunächst das Sudetenland (im Oktober 1938), dann Böhmen, Mähren und Ost-Oberschlesien (im März 1939), während sich die Slowakei zum „unabhängigen“ Staat erklärte. In der Folge gab es 25000 Hinrichtungen; 200000 Menschen wurden deportiert – nahezu alle tschechoslowakischen Juden und die Mehrzahl der Zigeuner starben in den Vernichtungslagern. Nach der Ermordung des stellvertretenden „Reichsprotektors“ von Böhmen und Mähren, Heydrich, im Mai 1942 wurde das Dorf Lidice dem Erdboden gleichgemacht. An diesem Massaker war die Sudetendeutsche Partei maßgeblich beteiligt. Die 1933 von Konrad Henlein gegründete Gruppierung, die aus den Parlamentswahlen von 1935 und den Gemeindewahlen von 1938 als der große Sieger hervorging, konnte sich auf die überwältigende Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung stützen. Die Forderung der SdP nach einem Anschluß des Sudetenlandes an Deutschland diente Hitler als Argument, die Westmächte in München zum Nachgeben zu bewegen. Nach dem Einmarsch der Hitlertruppen begnügten sich die Anhänger Henleins nicht damit, diese als Befreier zu begrüßen, sondern wurden zu deren aktiven Komplizen in der Politik der Unterdrückung – nicht zuletzt bei der Vertreibung der tschechischen Bevölkerung aus dem Sudetenland. Nach dem Krieg wurden die meisten der drei Millionen Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei vertrieben (Anm. d. frzanzösischen Redaktion).

* Ehemaliges Mitglied des Redaktionskomitees von Literarni Noviny, Prag; Herausgeber von Lettre International; Professor an der Ecole des hautes études en sciences sociales, Paris.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Antonin Liehm