16.02.1996

Der militärische Sieg bleibt eine Illusion

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Der militärische Sieg bleibt eine Illusion

Von

BRUNO

CALLIES DE SALIES *

AUCH nach den kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen geht der Krieg in Algerien weiter. Mit unverminderter Heftigkeit dauern die Kämpfe an und fordern Tag für Tag mehr Opfer. Allerdings verfolgt die Armee eine neue Taktik, die wirksamer scheint als das frühere Vorgehen. Selbstverteidigungs-Milizen werden gebildet, und die Bürgerkriegsstimmung ist deutlicher denn je zu spüren. Ist ein militärischer Sieg denkbar, auch ohne daß eine politische Verständigung zustande kommt?

Der Beginn des Jahres 1995 war gekennzeichnet durch den Abbruch der Kontakte zwischen Präsident Liamine Zéroual und der politischen Opposition, die eigentlich als Vorstufe für zukünftige Friedensverhandlungen gedacht gewesen waren. Im Januar hatten die Unterzeichner der gemeinsamen Erklärung von Rom1 – darunter vor allem die Islamische Heilsfront (FIS), die Nationale Befreiungsfront (FLN) und die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) – gefordert, daß „die Gewalt unbedingt aufhören“ müsse. Sie hatten ein Ende „der Attentate gegen Zivilpersonen und Ausländer sowie ein Ende der Zerstörung öffentlicher Einrichtungen“ verlangt und „die sofortige, effektive und überprüfbare Einstellung der Folterungen (...), das Nichtvollstrecken von Todesurteilen und standrechtlichen Exekutionen sowie die Unterlassung von Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung“ gefordert.

In der Erklärung wurde außerdem betont, daß die Machthaber endlich deutliche Zeichen ihres guten Willens setzen müßten, und als solche Zeichen wurden explizit die „Schließung der Hochsicherheitslager und die Beendigung des Ausnahmezustands“ hervorgehoben. Zuvor hatte sich bekanntlich die GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen) aus Angst, ins politische Abseits zu geraten, zur Einstellung der Kampfhandlungen bereit erklärt, wobei sie allerdings Bedingungen stellte, die für das Regime unannehmbar waren. Sie verlangte – ebenso wie schon die FIS – die Haftentlassung zweier ihrer politischen Führer, Abdelhak Layada und Ahmed al-Wedd. Darüber hinaus erhob die GIA die Forderung, die führenden Militärs „nach dem Gesetz Gottes“ zu bestrafen, weil sich durch ihre Schuld die Einführung der islamischen Ordnung in Algerien verzögere. Und schließlich müsse man „alle kommunistischen und atheistischen Parteien“ verbieten.

Bildung von Milizen

UM nicht von der politischen Bühne verdrängt zu werden, erklärte die GIA, sie werde sich den Entscheidungen des FIS-Führers Ali Benhadsch fügen und, sobald dieser es wünsche, den bewaffneten Kampf aufgeben – sofern ihre Bedingungen erfüllt worden seien. In einer weiteren Erklärung, die am 21. Januar in der in London erscheinenden Tageszeitung al-Hayat veröffentlicht wurde, gab die Organisation bekannt, sie fühle sich der Initiative von Rom nicht verpflichtet. Zugleich erneuerte sie ihren Aufruf, den bewaffneten Kampf bis zur Machtübernahme einer islamischen Regierung zu führen.

Auch die Islamische Armee des Heils (AIS), der bewaffnete Arm der FIS, hatte das Abkommen von Rom abgelehnt. In ihrem Mitteilungsblatt al-Feth al-Moubine (Der strahlende Sieg), das Ende Januar 1995 in Frankreich zirkulierte, vertrat sie die Position, die Unterzeichner der Übereinkunft hätten durch ihre Verurteilung der Gewalt den „Mudschaheddin“ ins Unrecht gesetzt. Mitte März gab die AIS dann bekannt, daß Untergrundführer Madani Merzag zum „provisorischen nationalen Führer“ bestimmt und damit beauftragt worden sei, die Aufgaben der inhaftierten Führer der Bewegung zu übernehmen. Merzag wandte sich an Präsident Zéroual und verpflichtete sich, den Übergriffen einzelner bewaffneter Gruppen mit aller Härte entgegenzutreten.

Seit Juni 1995 war zunächst in der arabischen Tageszeitung al-Hayat und dann auch im algerischen Fernsehen die Rede von Kontakten zwischen dem algerischen Präsidenten und führenden Vertretern der Islamisten. Die Vorverhandlungen wurden offenbar von General Betchine, einem Berater des Präsidenten, geführt. Liamine Zéroual soll dann Ali Benhadsch und Abassi Madani in Algier aufgesucht haben, wo sich beide in Haft befinden, und ihnen ermöglicht haben, sich mit anderen führenden Islamisten in Verbindung zu setzen. Als Vorbedingung für ein etwaiges Abkommen verlangten die Machthaber von Madani einen Aufruf zur Beendigung der Gewalt und ein öffentliches Bekenntnis zur Verfassung. Im Gegenzug sollte der zerschlagenen Bewegung erlaubt werden, unter einem neuen Namen in die offizielle Politik zurückzukehren und gemeinsam mit den übrigen zugelassenen Organisationen an Wahlen teilzunehmen. Als der entscheidende Streitpunkt erwies sich die Zahl derjenigen, die aus der Haft entlassen werden sollten: Während die Machthaber lediglich bereit waren, als ersten Schritt Madani und einige andere Führer freizulassen, forderte die illegalisierte FIS eine baldige und umfassende Amnestie. So kam es, daß das Präsidialamt in einem Kommuniqué vom 11. Juli 1995 die Verhandlungen schließlich für gescheitert erklärte.

Das Regime verließ sich also weiterhin auf die bisherige militärische Sicherheitspolitik. 1994 hatte die Staatsmacht bereits über weite Teile des Landes die Kontrolle verloren: Nur die großen Städte und einzelne Orte von strategischer Bedeutung waren noch in ihrer Hand. Die Armee, in der zwischen 60000 und 80000 Mann ständig einsatzbereit sind, versuchte durch massive Einzelaktionen die Untergrundorganisationen zu zerschlagen. Aber von Anfang an gelang es den islamistischen Kommandos, sich nach jeder Niederlage neu zu formieren und den Kampf wieder aufzunehmen. Nach einigem Zögern entschloß sich das Regime daher zur Aufstellung von Miliztruppen.

In den besonders unruhigen Regionen wurden Milizverbände auf Gemeindeebene gebildet. Derzeit beträgt die Gesamtstärke dieser „Kommunalgarden“ 18000 Mann, sie dürfte aber bald auf 40000 bis 50000 anwachsen. Die einzelnen Einheiten unterstehen dem Bürgermeister, die jeweils etwa vierzig Mann starke Gruppe hat eine militärische Grundausbildung erhalten, ist mit Waffen und Material ausgestattet und trägt Uniform. Daneben haben sich vielfach von der Staatsmacht nur geduldete Bürgerwehren gebildet, die ähnliche Aufgaben erfüllen, aber in der Regel nicht so gut bewaffnet sind. Sie werden allerdings zunehmend in die regulären Operationen der Sicherheitskräfte eingebunden. Daß sich die Dörfer schützen konnten, als Ende 1994 bewaffnete Gruppen versuchten, Waffen, Jagdgewehre und Proviant zu erbeuten, war vor allem den Milizen zu verdanken.

In den Bergregionen kommen die Offensiven der Armee im Winter kaum voran, weil der dichte Nebel die militärische Unterstützung aus der Luft erschwert oder ganz unmöglich macht. Die Bodentruppen, die nunmehr zum Ausharren gezwungen sind, nutzen die Lage und sammeln in der Zwischenzeit praktische Erfahrungen im Infanterieeinsatz, die ihnen beim Kampf gegen die Guerilla zugute kommen sollen, wenn sich die Wetterlage gebessert hat.

Die nötige Ausrüstung für die Kommunalgarden – leichte Transportfahrzeuge, Fernmeldegerät und Waffen – haben die zuständigen Stellen in Algier wohl im Laufe des damaligen Winters beschafft. Zudem wurden die Milizen in die Struktur der militärischen Kommunikations- und Informationsnetze eingebunden. Diese Neuorganisation ermöglicht eine rasche Aktualisierung der Informationen und den optimierten Einsatz der geeigneten militärischen Instrumente (Kampfeinheiten, Hubschrauber, Bombenflugzeuge), sobald der Gegner ausgemacht ist. Am 20. März 1995 wurde in der Presse die Einrichtung einer Koordinationsstelle für die territoriale Sicherheit bekanntgegeben, deren Aufgabe – so kann man schließen – darin besteht, die Aktivitäten und Erkenntnisse der verschiedenen Antiterror-Abteilungen zusammenzufassen.

Durch diese weitgehende Neuordnung des Sicherheitsapparats ist es dem Militär seit dem Frühjahr 1995 gelungen, den „Terroristen“ schwere Verluste zuzufügen. Im ganzen Land wurden wiederholt Großoffensiven geführt, manchmal – wie in Ain Defla – begleitet von ausführlicher Berichterstattung in den Medien. Den islamistischen Banden, die teilweise aufgerieben oder zerstreut wurden, gelang es nicht mehr, sich neu zu formieren, auch dann nicht, wenn die Armeeverbände in andere Einsatzzonen verlegt wurden. Die überlebenden Kämpfer, die einzeln oder in kleinen Gruppen das Terrain wechselten, trafen dort auf Kommunalgarden und Bürgerwehren, die über ein beträchtliches militärisches Potential verfügen.

Die Milizionäre haben gelernt, auf verdächtige Bewegungen rasch zu reagieren, weil die meisten von ihnen seit langem in der Region leben und sich im Gelände sehr gut auskennen. Außerdem beteiligen sich an diesem Kampf auch Veteranen aus dem Unabhängigkeitskrieg, also die Mudschaheddin von einst: Sie können wertvolle Informationen liefern, weil sie Verstecke und Pfade kennen, die schon damals benutzt wurden.

Die Zahl der Überläufer wächst

SEIT sie sich nur noch in kleinen Gruppen bewegen können, wird es für die islamistischen Kommandos zunehmend schwieriger, die Sicherheitskräfte und ihre Konvois anzugreifen, und auch Waffen und Munition sind nicht mehr so leicht zu erobern. Die Kämpfer haben sich inzwischen darauf verlegt, zu zweit oder dritt gegen Einzelpersonen (Polizisten, Militärs, Journalisten) vorzugehen oder Autobomben zu zünden. Ihre Verluste sind schwer und werden durch Neuzugänge nicht ausgeglichen. Es sind junge, unerfahrene Leute, die jetzt in den Untergrund gehen, Arbeitslose aus den Städten und Vorortsiedlungen, für die der Staat an allen Mißständen im Land schuld ist.

Und schließlich gibt es auch islamistische Kämpfer, die der Gewalt abschwören und die Waffen niederlegen. Von einem Ausbluten der Bewegung kann bislang zwar nicht die Rede sein, aber die Zahl der Überläufer ist seit Anfang 1995 immer stärker gestiegen und hat nach den Präsidentschaftswahlen noch einmal deutlich zugenommen. Das Regime tut alles, um diese Entwicklung zu fördern, indem es die Reumütigen mit deutlicher Nachsicht behandelt.

Bei den Wahlen vom 16. November 1995 hatte man verstärkte Sicherheitsmaßnahmen gegen Attentate durch Autobomben getroffen, und die knapp 34000 Wahllokale wurden durch ein Aufgebot von 300000 Mann geschützt. So blieb es relativ ruhig, unmittelbar anschließend jedoch setzte die Gewalt wieder ein. Für Liamine Zéroual war diese Wahl ein Erfolg, er hat seinen Handlungsspielraum erweitern können. Aber solange es kein umfassendes politisches Abkommen gibt, muß man damit rechnen, daß die islamistischen Gruppierungen sich auf die neue Lage einstellen und neue Formen gewaltsamer Aktionen entwickeln.

dt. Edgar Peinelt

1 Der vollständige Text dieser „nationalen Übereinkunft“ ist in Le Monde diplomatique vom März 1995 dokumentiert.

* lehrt und forscht an der Hochschule von Saint-Cyr Coätquidan und bei der Fondation méditerranéenne d'études stratégiques.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Bruno Callies de Salies