16.02.1996

Terrorismus und Republik

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Terrorismus und Republik

Von

HENRI

LECLERC *

DASS der Terrorismus ein Todfeind der Demokratien ist, diesem Gemeinplatz möchte man von Herzen beipflichten. Insbesondere noch bevor man darangeht, die politischen und juristischen Folgen der Bluttaten zu analysieren, die im Sommer und Herbst letzten Jahres Leid und Angst über Frankreich gebracht haben. Denn so notwendig es ist, den Terrorismus zu bekämpfen, die entscheidende Frage lautet doch: mit welchen Methoden? Gewiß, die Demokratie darf keinen Dialog mit Leuten führen, die sie bekämpfen und ihre Prinzipien verhöhnen; das hieße, ihre Motive wenigstens teilweise anzuerkennen und sie so in ihrem Tun zu bestätigen. Aber sie darf sich dieser Anschläge auch nur mit Mitteln erwehren, die im Einklang mit den ihr eigenen Prinzipien stehen. Sonst könnte sie leicht inneren Schaden nehmen.

Erinnern wir uns, was geschah, als in den fünfziger Jahren die Aufständischen in Algerien die Unabhängigkeit forderten: „Die einzige Art von Verhandlung, die wir kennen, ist der Krieg“, lautete damals die Antwort der französischen Staatsmacht, „denn Algerien ist Frankreich.“ Und so stürzte sie sich in ein schreckliches Abenteuer, unbeeindruckt von den Bedenken und Protesten der „Menschenrechtler“ (die damals noch nicht so hießen). Im Kampf gegen jene Leute, die blind auf Zivilisten schossen oder in Sportstadien und Bars Bomben explodieren ließen, waren „alle Mittel recht“. Die Folgen sind bekannt. Nach dem Militärputsch in Algier 1958 flüchtete sich die Republik in die Arme eines strengen Vaters, der eine neue, auf seine Person zugeschnittene Verfassung erließ und sich dann entschloß, das Problem zu lösen: durch den Dialog und indem er die Forderungen der Terroristen von gestern als berechtigt anerkannte.

Damals, nach der Welle blinder Attentate, bei denen es zehn Tote und Hunderte von Verletzten gab, trat Jean-Louis Debré mit jener männlichen Entschlossenheit vors Publikum, wie man sie seit jeher von einem Innenminister erwartet. Der Staat, verkündete er, darf nicht nachlassen in seiner Wachsamkeit, auch wenn er Erfolge errungen hat. Er muß wirksam unerbittlich weiter Stärke demonstrieren. Heute nun erleben wir denselben Jean- Louis Debré auf Korsika. Seinem Besuch gingen Hunderte von Bombenattentaten voraus, die Schäden in Millionenhöhe verursachten, ferner Dutzende von Anschlägen, die von Polizei und Justiz (obwohl unter der Leitung der Antiterror-Abteilung der Pariser Staatsanwaltschaft) bislang nicht aufgeklärt werden konnten. Und doch vermeidet der Minister heute jede schroffe Verurteilung und spricht von Dialog. Damit scheint er im Namen der Republik jene Mittel zu rechtfertigen, die aus Gewalttätern Gesprächspartner machen. Die Staaträson steht eben immer über den Prinzipien.

Ja, man muß den Terrorismus bekämpfen, aber mit welchen Mitteln? Alle sind sich über die unantastbaren allgemeinen Prinzipien einig oder sollten es wenigstens sein: Folter, Massenhinrichtungen, Menschenraub oder Verbrechen gegen bestimmte Menschengruppen sollten auf immer geächtet sein. Die von den Gesetzen der Republik anerkannten und von der Verfassung garantierten Grundrechte sowie die Menschenrechte, zu deren Einhaltung man sich auch auf internationaler Ebene verpflichtet hat, müssen das Handeln der Justiz leiten. Um so mehr, als die Feinde der Demokratie, die zu Gewalt und Terror greifen, sie gern als bloßes Blendwerk hinstellen. Es wird den Terroristen wohl kaum gelingen, einen Umsturz herbeizuführen, aber sie können die Fundamente der Republik unterminieren, ihr Bild trüben oder sie dazu bewegen, von den Prinzipien abzurücken, denen sie ihre Legitimität verdankt. Aufgabe des Staates ist es daher, wirksame Maßnahmen gegen die Gewalt zu ergreifen, und Aufgabe der Bürger, wachsam zu sein: daß nicht übers Ziel hinausgeschossen wird und die Demokratie in Gefahr gerät.

Wie hat der Staat auf die Terrorwelle in Frankreich reagiert? Mit Effizienz und Schlagkraft: Hunderte von Personen wurden inhaftiert, ein Netz wurde zerstört, eine Organisation flog auf, Aktionsmethoden wurden analysiert. Schließlich hörten die Attentate auf: Ihre Urheber waren unschädlich gemacht worden, ihre möglichen Nachfolger wirksam eingeschüchtert. Doch sind dies die Resultate der Sondermaßnahmen und Ausnahmeregelungen?

Glaubt man der Presse, wurden die Terroristen besiegt, weil man Fingerabdrücke auf Sprengkörpern identifizierte, Personen auf richterlichen Beschluß hin beschattete und Telefongespräche abhörte, geduldig und systematisch Informationen auswertete, kurz, durch traditionelle Polizeiarbeit unter Einsatz moderner technischer Mittel. All diese Methoden stimmen mit der üblichen Strafprozeßordnung überein, die die Formen festlegt, denen gemäß man Personen festnehmen, anklagen oder inhaftieren darf.

Mußte man also dieses große Spektakel veranstalten und so ganze Bevölkerungsgruppen verunsichern, die mit einem Mal pauschal unter Verdacht standen; mußte man selbst noch in Schulen Plakate mit den Gesichtern der Staatsfeinde anbringen? Warum hat man Richter, die doch unparteiisch sein müssen, als „Antiterror-Richter“ bezeichnet, und warum ließ man auf den Straßen das Militär patrouillieren? Welche Notwendigkeit bestand, einen weiteren Notfallplan in Kraft zu setzen und so dem Gesetzgeber und der Öffentlichkeit zu suggerieren, daß die Ausländer eine Gefahr für den Frieden im Lande darstellen?

Wenn die Republik bedroht ist, sehen die Verfassung und die Gesetze verschiedene Formen des Ausnahmezustands vor. Neben dem Kriegszustand, in dem, was immer man sagen mag, die Gewalt über dem Recht steht, und neben dem Artikel 16, der im Gefahrenfall alle Macht auf den Präsidenten der Republik überträgt, gibt es den „Belagerungszustand“, in dem die bürgerlichen Gesetze durch Kriegsgesetze abgelöst werden, um die Ordnung aufrechtzuerhalten; den „Notstand“, der im Fall einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausgerufen wird und die Machtbefugnisse der Polizei stark erweitert; und schließlich sogar den „Alarmzustand“1.

Doch kein Gesetz und keine Verordnung gibt dem Antiterror-Plan „Vigipirate“ eine rechtliche Grundlage. Die Regierung hat sich auf vage Erlasse berufen, über die fast nichts bekannt ist, da sie dem Militärgeheimnis unterliegen, und anfangs dachte man, sie stammten aus dem Jahr 1978. Irrtum: Unlängst erfuhr man, daß sie auf unveröffentlichte Direktiven des Premierministers und des Staatssekretärs im Verteidigungsministerium aus dem Jahre 1995 zurückgehen. Wie auch immer, in ihrem Namen wurde ein gewaltiger Apparat aufgebaut, der sich unmittelbar auf das tägliche Leben der Bürger auswirkte. Den Zahlen zufolge, die das Innenministerium Mitte Dezember mitteilte, wurden 13800 Soldaten mobilisiert. In einem Land, in dem die individuelle Bewegungsfreiheit wesentlich auf der Freiheit des anonymen Passanten beruht, wurden 3 Millionen Menschen von der Polizei oder der Armee kontrolliert, 21450 Personen wurden festgenommen, 19972 hatten keine Aufenthaltsgenehmigung, 2324 wurden abgeschoben. Kurz, es handelte sich um eine allgemeine Überwachungsmaßnahme, die sich gegen angeblich gefährliche Bevölkerungsgruppen richtete, um eine „Säuberungs“-Aktion, die vor allem Menschen betraf, die als „Fremde“ per se verdächtig waren.

Gleichzeitig verwirklichte sich der Traum des ehemaligen „Antiterror-Richters“ und jetzigen Abgeordneten Alain Marsaud: eine „Task Force“ der Justiz. Das militärische Vokabular kommt nicht von ungefähr. In einem stark gesicherten, eigenen Trakt arbeiten Richter in einer fast soldatischen Rangordnung unter der Ägide eines Vorsitzenden Richters zusammen; es gibt eine von der traditionellen Hierarchie praktisch abgekoppelte Abteilung der Staatsanwaltschaft, die in direkter Verbindung mit dem Innenministerium steht; man verfügt über spezielle Befugnisse und besondere Verfahrensregeln, die ständig erweitert werden, und hat spezielle Schwurgerichte geschaffen, an denen normale Bürger nicht zugelassen sind, da sie sich angeblich zu leicht einschüchtern lassen; Verhaftungen häufen sich, und die Anwälte beklagen sich, daß ihnen keine Akteneinsicht gewährt wird.

Hier haben wir also ein Ausnahmesystem, das seit Beginn der Attentatswelle vom September 1986 klammheimlich eingerichtet wurde und auch auf die allgemeine Rechtsprechung zurückwirkt, etwa wenn seine Sonderregelungen auf Fälle von Kuppelei und Drogenhandel ausgedehnt werden. Ist all das wirklich nötig? Sind die an Wildwestfilme gemahnenden Fahndungsplakate nötig? Und die Bilder vom Leichnam Khaled Kelkals, durchbohrt von elf Kugeln, der pietätlos mit dem Fuß umgedreht wird? Wer dachte daran, welche Wirkungen dieser erschütternde Anblick auf die Jugendlichen der Vorstädte haben mußte, die sich plötzlich mit einem Attentäter solidarisierten, von dem man seit der Veröffentlichung des Interviews mit ihm in Le Monde2 weiß, daß er, bevor er zum Verbrecher wurde, einer der ihren war, wie sie fühlte und wie sie gegen die täglichen Demütigungen und Verdächtigungen aufbegehrte?

Statt der terroristischen Verschwörung einen Strich durch die Rechnung zu machen, hat diese Überreaktion die Mauer der Verständnislosigkeit nur verstärkt, die Risse in der Gesellschaft vertieft. Insbesondere hat sie jenen neue Sympathisanten verschafft, die ihren Protest nicht auf demokratischem Weg, sondern durch Haß und Gewalt bekunden wollen, nicht auf dem Weg der Integration, sondern auf dem der blutigen Subversion.

Da der Terrorismus mitten in unseren Alltag hineinbricht, ist es nur natürlich, daß er Angst hervorruft. Doch für den Bürger ist die Angst ein schlechter Ratgeber. Die überzogenen Maßnahmen haben kaum Reaktionen ausgelöst, da die öffentliche Meinung das Vorgehen des Staats weitgehend billigt. Trotzdem hatten die großen Gewerkschaften – mit Ausnahme der Force ouvrière (FO), was um so bemerkenswerter ist, als diese sich kurz darauf in der sozialen Bewegung vom Dezember 1995 so sehr hervortat – den Mut, bei aller klaren Ablehnung des Terrorismus gemeinsam auf die Gefahren der Fremdenfeindlichkeit und der polizeistaatlichen Methoden hinzuweisen. Die Macht findet Geschmack am Ausnahmezustand. Sie träumt davon, immer mehr Bürger zu überwachen. Auch nach den Erfolgen gegen den Terrorismus bleibt der Plan „Vigipirate“ in Kraft.

Man sei auf der Hut. Die Urheber von Attentaten begnügen sich nicht damit, zu töten, zu verletzen und einzuschüchtern. Sie setzen auch etwas in die Welt. Denn auch die verlorenen Schlachten geben Aufschluß über die Qualität und das Wesen der Demokratie. Stets entsteht der Terrorismus aus dem Protest und der Revolte, er ist das letzte Mittel derer, denen unsere Gesellschaft die Sprache raubt und nur die Verzweiflung läßt. Wenn die Demokratie ihnen unter Mißachtung der eigenen Grundprinzipien mit patrouillierenden Soldaten entgegentritt, ganze Bevölkerungsgruppen zu Verdächtigen abstempelt und die Physiognomie zum entscheidenden Kriterium macht, werden neue Krisen ausbrechen, noch mehr Männer und Frauen umkommen, und die Angst wird weiter zunehmen. Aus diesem Wechselspiel von blindem Terrorismus und flächendeckender Repression droht ein Teufelskreis zu werden, der die Republik gefährden könnte.

dt. Andreas Knop

1 Damit kommt ein flexibleres System zur Anwendung, das der Regierung im Fall der inneren oder äußeren Bedrohung besondere Vollmachten verleiht, ohne jedoch die Freiheitsrechte unmittelbar einzuschränken.

2 Le Monde, 7. Oktober 1995. Das Interview selbst stammt aus dem Jahr 1993.

* Präsident der Menschenrechtsliga

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Henri Leclerc