16.02.1996

Ende der Entschuldigungen

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Ende der Entschuldigungen

Unser Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen bedeutet für uns mehr als bloß eines der vielen Themen unserer Diplomatie. Es ist ein Teil unseres Schicksals, sogar ein Teil unserer Identität; (...) einige sehen Deutschland als unsere größte Hoffnung, andere als unsere größte Gefahr.

Für die Deutschen ist das Verhältnis zu den Tschechen verständlicherweise nicht von einer derartig fundamentalen Bedeutung, es ist für sie jedoch wichtiger, als manche von ihnen vermutlich zugeben würden: traditionell ist es einer der Tests, der auch den Deutschen ihr Selbstverständnis enthüllt. Mehrere Male ist ja Deutschlands Beziehung zu uns ein wahres Spiegelbild seiner Beziehungen zu Europa gewesen!

Wir mögen unterschiedliche Ansichten über die Nachkriegsaussiedlung haben – meine eigene kritische Haltung ist allgemein bekannt –, wir können sie jedoch nicht aus dem geschichtlichen Kontext lösen. Wir können sie nicht getrennt sehen von all den Schrecken, die sich davor abgespielt hatten und ihre Ursachen darstellten.

Und wenn wir – als Tschechen – unseren Teil der Verantwortung für das Ende des tschechisch-deutschen Zusammenlebens in den böhmischen Ländern anerkennen sollen, müssen wir der Wahrheit halber auch sagen, daß wir uns zwar von dem heimtückischen Virus der ethnischen Auffassung von Schuld und Bestrafung anstecken ließen, daß wir diesen Virus jedoch nicht – wenigstens nicht in dessen moderner verheerender Form – in unser Land gebracht haben.

Vor allem würde es bedeuten, daß die Zeit der Entschuldigungen zu Ende geht und eine Zeit der sachlichen Suche nach der Wahrheit kommt.

Wenn eine Schuld in Form von Entschädigung der verbleibenden Opfer der Nazi-Willkür zu begleichen bleibt, so soll sie bezahlt werden. Aber keine Geldsumme in keiner Währung wird je all das wiedergutmachen, was wir oder unsere Vorfahren durch das Verschulden des Nationalsozialismus durchmachen mußten.

Wir sind nicht so töricht, den heutigen Generationen des demokratischen Deutschlands Rechnungen für all das Unrecht zu senden, welches einige von deren Vätern, Großvätern, Urgroßvätern vor vielen Jahren begangen haben, ebenso wie wir den Völkern der ehemaligen Sowjetunion für die in den Jahrzehnten des Kommunismus an unserem Land sowie an unseren Seelen angerichteten Schäden keine Rechnung aufstellen. Und weil das so ist, halten wir all die Versuche, von uns entweder in materieller oder anderer Form Ersatz für die Nachkriegsaussiedlung zu verlangen, für um so absurder.

Diejenigen, die aus unserem Land einst vertrieben oder ausgesiedelt wurden, sowie deren Nachkommen sind bei uns willkommen, ebenso wie alle Deutschen hier willkommen sind. Sie sind willkommen als Gäste, die das Land, in dem Generationen ihrer Vorfahren gelebt haben, in Ehren halten, die Stätten betreuen, an die sie sich gebunden fühlen, und als Freunde mit unseren Bürgern zusammenarbeiten. Vielleicht trennt uns keine große Entfernung von den Tagen, wenn Tschechen und Deutsche – nachdem sie sich in dem nach innen offenen Raum der Europäischen Union zusammenfinden – in der Lage sein werden, sich ohne Hindernisse überall auf deren Gebiet niederzulassen und an dem Aufbau ihres auf diese Weise erwählten Heimatortes teilzunehmen.

q Bertelsmann Club, Rheda-Wiedenbrück

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Vaclav Havel