15.03.1996

Angeschlagenes Gesundheitswesen

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Angeschlagenes Gesundheitswesen

DER Gesundheitsstand der Bevölkerungen Ost- und Mitteleuropas hat sich spürbar verschlechtert. Die aktuellen Reformen orientieren sich am Maßnahmenkatalog der westlichen Länder, dessen negative Auswirkungen in den letzten Jahren längst deutlich geworden sind. In Mittel- und Osteuropa war die Privatisierung der ehedem staatseigenen Gesundheitsversorgung ein enormer gesellschaftlicher Einschnitt, und die aktuelle Austeritätspolitik stellt gar jenes Recht auf medizinische Grundversorgung in Frage, welches das Gesundheitswesen der alten Regime trotz aller Unzulänglichkeiten seinen Bürgern garantierte. So führt auch hier die Sparpolitik dazu, die sozial Schwächsten und die ärmsten Länder an den Rand zu drängen. Zudem werden in Ländern, in denen die Bevölkerung jahrzehntelang der staatlichen Propaganda ausgesetzt war, Vorschläge zur Gesundheitsvorsorge zunächst sicher noch zögerlicher aufgegriffen als im Westen.

Von MARC DANZON und PRISCILLE POITRINAL *

Das Gesundheitswesen der westlichen Länder kennt seit Jahrzehnten das Problem, daß sozial schwächeren Schichten oft nur unzureichende medizinische Versorgung zukommt. Das Auftreten von Aids, einer Krankheit, die man bisher nicht in den Griff bekommen konnte, hat es zusätzlich belastet. Inzwischen sehen sich die Staaten zu immer weiteren Sparmaßnahmen gezwungen. Unter ganz anderen Voraussetzungen leidet auch Osteuropa unter der Verknappung seiner Geldmittel. Bei der strengen Kostenlimitierung stellt die Finanzierbarkeit von Leistungen überall das Hauptproblem dar.

In den westlichen Ländern kann man zwei Grundtypen der medizinischen Versorgung unterscheiden. Zum einen gibt es das durch Steuergelder finanzierte staatliche Gesundheitswesen, wie es in Nordeuropa (Dänemark, Finnland, Irland, Norwegen, Großbritannien, Schweden) und seit kurzem auch in Südeuropa (Spanien, Italien, Griechenland, Portugal) eingerichtet wurde. Die Ärzte werden pro Behandlung bzw. nach der Anzahl der betreuten Patienten bezahlt. Zum anderen sind es die vorwiegend über Krankenversicherungen finanzierten Systeme, deren Ausgaben durch die Beitragszahlungen zur Sozialversicherung gedeckt werden. Dieses System finden wir in Deutschland, Österreich, in Belgien, den Niederlanden und in Frankreich. Die Ärzte werden nach ihren jeweiligen Leistungen bezahlt.

Unabhängig vom System sind die Kosten seit den siebziger Jahren auf breiter Front gestiegen. Zwischen 1972 und 1992 sind sie in England von 4,7 auf 7,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angewachsen; in Frankreich von 6,2 auf 9,4 Prozent im selben Zeitraum.

Die gegenwärtigen Reformen zielen darauf ab, die den beiden Modellen eigenen negativen Auswirkungen auszugleichen. Beim staatlichen Modell versucht man, mehr Wettbewerb und Effizienz in ein System einzuführen, dem es an Anreiz zur Kostensenkung mangelt, das aber eine allgemeine und gerechte Kostendeckung bietet. Das zweite Modell, das zwar die Privatinitiative fördert, dem es aber an Solidarität und Regulierung fehlt, soll dem Staat und den Bürgern mehr Kontrolle einräumen.

In Großbritannien wurden beispielsweise die Finanzhoheit und die Administration des Gesundheitssektors weitgehend von der nationalen auf die regionale Ebene verlagert. Die Reform stellt darüber hinaus einer einstweilen noch beschränkten Zahl von freiwilligen Ärzten für ein Jahr ein Pauschalbudget zur Finanzierung der medizinischen Versorgung ihrer Patienten zur Verfügung. Zur optimalen Nutzung dieses Budgets wählen diese praktischen Ärzte nach dem Wettbewerbsprinzip unter den Anbietern von medizinischen Dienstleistungen wie den Krankenhäusern und handeln mit diesen auch die Preise aus. Angestrebt wird ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis. In diesem Wettbewerbssystem entwickeln die medizinischen Einrichtungen mehr Flexibilität und Initiative. So werden gewissermaßen marktwirtschaftliche Strukturen in ein staatlich kontrolliertes System eingeführt.

In Frankreich ist die Einführung eines Katalogs vergleichbarer medizinischer Leistungen (RMO), durch den die Krankenkassen einen Kostenrahmen für ärztliche Verschreibungen und Untersuchungen in Spezialkliniken aufstellen, ein anschauliches Beispiel für die Regulierung und Kontrolle eines über Versicherungen finanzierten Gesundheitswesen. Es wäre jedoch verfrüht, heute schon Schlüsse über die langfristigen Erfolge dieser Reformen zu ziehen.

In den osteuropäischen Ländern verfügte der als nicht produktiv geltende Gesundheitssektor in den achtziger Jahren nur über geringe Mittel, die je nach Land zwischen 2,5 und 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachten. Aufgrund der schlechten Finanzlage wurden die Gesundheitsbudgets in den letzten Jahren nur wenig angehoben – manchmal sogar noch beschnitten. Das in diesen Ländern praktizierte Modell, das sich durch einen extremen Zentralismus und vollständige Kontrolle durch den Staat auszeichnete, der die gesamten Ausgaben finanzierte, garantierte eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung.

Teurer Systemimport, schädliche Verhältnisse

SEINE Mängel sind allgemein bekannt: ein Zuviel an überspezialisiertem Personal und minutiös hierarchisierten Strukturen, fehlende Motivation der Ärzte wegen des mangelnden Prestiges, eine veraltete technische Ausrüstung, ineffizientes Management der medizinischen Einrichtungen und, als Folge all dieser Schwächen, eine nur als mittelmäßig zu bezeichnende medizinische Versorgung. Das System besaß aber auch Stärken, indem es ein dichtes Netz medizinischer Versorgung bereitstellte, zu dem alle Bürger gleichermaßen Zugang hatten. Trotz ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Gesundheitswesen wurde es von der Bevölkerung regelmäßig in Anspruch genommen und geschätzt. Im Osten besaß die Gesundheitsvorsorge geradezu den Charakter eines verbrieften Rechts.

Unter dem Zwang, radikal mit der Vergangenheit brechen zu müssen, sehen sich diese Länder nun mit dramatischen ökonomischen Problemen konfrontiert und haben den Weg eines grundlegenden Wandels in Richtung Marktwirtschaft und Privatisierung beschritten. Beinahe überall herrscht das Bestreben vor, die Finanzierung des Gesundheitswesens durch Versicherungssysteme statt durch Steuern zu regeln.

Paradoxerweise sind es oft die liberalsten Modelle des Westens, die den im Übergang befindlichen Gesellschaften als Vorbild dienen, obwohl sie heute selbst in eine schwere Krise geraten sind und in den Ländern, in denen sie gelten, durchaus in Frage gestellt werden. Der anfängliche Optimismus und Enthusiasmus macht allmählich Zweifeln und Enttäuschungen Platz. Strukturreformen allein können das Problem mangelnder Finanzmittel nicht lösen, sie führen im Gegenteil eher zu seiner Dramatisierung und Verschärfung. Die bereits in der Vergangenheit weitverbreitete Praxis, Schmiergelder zu zahlen, erfreut sich in den gegenwärtigen Turbulenzen wieder wachsender Beliebtheit.

Und welchen Sinn hat die internationale Hilfe, wenn sie dazu beiträgt, die Privatisierung und die Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen in diesem Bereich mit der Folge zu forcieren, daß die Kosten steigen und immer weniger Menschen sich eine medizinische Versorgung leisten können? Die Verteuerung der Medikamente ist ein typisches Beispiel. Auf dem Markt werden ausländische Arzneimittel angeboten, die um ein Vielfaches teurer sind als Produkte derselben Qualität, die früher im eigenen Land hergestellt wurden. Das ist eine der Ursachen für den gegenwärtigen Mangel an Impfstoffen. Der Niedergang ihrer pharmazeutischen Industrie ist für die wirtschaftliche Entwicklung der osteuropäischen Länder sicher nicht von Vorteil.

Eine solche Politik läuft Gefahr, dem weiteren Verfall des ohnedies schon prekären Gesundheitsniveaus der Bevölkerung Vorschub zu leisten. Gegenwärtig liegt die Lebenserwartung in Osteuropa im Durchschnitt um sechs Jahre unter der westeuropäischen. Die Hauptsorge gilt hierbei dem Wiederaufleben von Epidemien, vor allem der Diphterie, den Mehrfachabtreibungen, die für die Gesundheit der Frauen eine ernste Gefahr darstellen, den Erkrankungen der Atemwege und des Verdauungstrakts, von denen eine große Zahl der Kinder betroffen sind, und schließlich den Herz- und Kreislauf- sowie den Krebserkrankungen, die besonders häufig bei Männern um die Fünfzig auftreten.

Diese Situation wird noch verschärft durch eine stark belastete Umwelt, aber auch durch weitverbreitete ungesunde Lebensgewohnheiten, wie sie die statistischen Zahlen über wachsenden Tabak- und Alkoholkonsum verraten. Nicht weniger besorgniserregend ist die steigende Zahl der Unfälle, Selbstmorde und Morde.

Im Osten wie im Westen scheinen die Reformer von der Hypothese auszugehen, daß einzig und allein ökonomische Maßnahmen einen Ausweg aus dieser Krise bieten können. Diese einseitige Sicht birgt zahlreiche Nachteile, ja sogar reale Gefahren für die Gesundheitsversorgung insbesondere der ärmsten Bevölkerungsschichten. Sie übersieht, daß sich in den letzten Jahren die Einstellungen und Einsichten im Bereich Gesundheit weiterentwickelt haben.

Zentral für die neue Denkweise ist die Überzeugung, daß die Verbesserung des Gesundheitswesens sich nicht auf den Bereich der medizinischen Behandlung beschränken darf. Wesentliche Verbesserungen können auch durch Einflußnahme auf Umwelt und Lebensgewohnheiten erzielt werden. Dabei sind Gesetz, Erziehung und Information sowie gut abgestimmte Vorsorgeprogramme und Gesundheitskampagnen gefragt. Der Erfolg solcher Programme hängt aber vom politischen Willen und vom Mut ab, an denen es bisher oft gemangelt hat.

Der beste Beweis dafür ist die Unentschlossenheit, die überall auf der Welt im Kampf gegen Alkohol und Tabak an den Tag gelegt wird. Oft genug wurden Informationskampagnen gestartet, ohne an Begleitmaßnahmen – vor allem gesetzliche Vorkehrungen – zu denken, die ihnen mehr Gewicht, Glaubwürdigkeit und damit größeren Erfolg bescheren würden.

Eine Politik, die entschieden auf die medizinische Vorbeugung und Aufklärung abzielte, würde sicherlich zu einer Verringerung der Ausgaben beitragen. Auch würde sie die im Gesundheitssektor Beschäftigten und die Bevölkerung für positive und weiterführende Ziele mobilisieren. Damit ließe sich verhindern, daß die Reformen als bloß restriktiv und repressiv wahrgenommen werden und auf Ablehnung stoßen. Die Menschen müssen selbst aktiv werden: Voraussetzung für den Erfolg der Reformen ist, daß die Betroffenen an den Programmen mitwirken und die Veränderungen mittragen.

Angesichts des steigenden Konsums von Drogen, Tabak und Alkohol, der mit der Einführung der Marktwirtschaft in Osteuropa einhergeht, sind Sorgen berechtigt. In diesen Ländern blüht die Werbung für Zigaretten und alkoholische Getränke, während sie im Westen allmählich zurückgedrängt wird.

Über diesem Plädoyer für die Verbesserung der Gesundheitsvorsorge darf man aber die Bedeutung der medizinischen Behandlung nicht außer acht lassen. Die Ärzte werden ständig dazu angehalten, Behandlungen und Verschreibungen einzuschränken. Sie auf diese Weise an der Eindämmung der Kosten zu beteiligen ist legitim, insbesondere wenn dadurch innovative wirtschaftliche Mechanismen entwickelt werden, die eine gleichmäßige Erfassung der Patienten und sorgfältige Behandlung garantieren. Aber auch hier fällt auf, daß die meisten Reformen sich auf den wirtschaftlichen Aspekt beschränken.

Um diesen engen Rahmen zu überwinden, muß man in zweifacher Weise agieren. Zum einen, indem man die Aufgaben und Tätigkeiten der praktischen Ärzte diversifiziert und ausdehnt, zum anderen durch die konsequente Einrichtung von Teamarbeit im Bereich der Krankenhausversorgung. Zu diesem Zweck wird man zweifellos manche Restriktionen aufheben müssen. Dies würde sich in mehrfacher Hinsicht positiv auf die gegenwärtige Krise auswirken, neben dem ökonomischen wäre auch mit einem qualitativen Nutzen für das Gesundheitswesen zu rechnen.

Gesundheit für alle

VOR allem die jüngeren Ärzte streben eine solche Entwicklung an. Mit ihnen gemeinsam muß ein geeigneter Rahmen festgesetzt und ihnen die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, ohne daß man dabei die Tragweite solcher Veränderungen unterschätzt. Die Rolle der Ärzte sollte nicht länger auf die Behandlung von Krankheiten beschränkt bleiben, sondern sich auch auf eine individuelle ebenso wie eine gesellschaftliche Gesundheitsförderung und -vorsorge ausdehnen. Diagnose und Therapie sollten engstens verbunden werden mit einer breiten Aufklärungsarbeit im Dienste des Gemeinwesens, bei dem die Industrie wie die Konsumenten gleichermaßen Ansprechpartner sind.

Für welches Vergütungssystem man sich auch entscheidet, die aktuellen Reformen müssen sich die neuen Erfahrungen zu eigen machen und den alten Panzer einer starren und häufig isoliert verfahrenden medizinischen Praxis sprengen. Dies wird ihnen neuen Elan verleihen und Verbündete vor allem unter den jüngeren, dynamischeren Kräften im Bereich der medizinischen Versorgung sichern.

Diese Ideen sind keineswegs völlig neu. Sie liegen sowohl der gemeinsamen Erklärung der WHO und der Unicef, der sogenannten Erklärung von Alma Ata (1978), zugrunde als auch der Politik einer „Gesundheit für alle“, wie sie seit 1984 vom europäischen Büro der WHO entwickelt wurde. Im Rahmen dieser politischen Kampagne wurden in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen erstellt, kooperationsstrukturen geschaffen und Strategien zur Förderung von öffentlichen Gesundheitsprogrammen ausgearbeitet.

Die in Angriff genommenen Reformen machen sich diese Erkenntnisse nicht in ausreichendem Maße zunutze und beschränken sich allzu oft auf ökonomische und finanzielle Ansätze zur Lösung der Krise. Die Folge könnte ein Scheitern nicht nur auf ökonomischer Ebene sein. In Kauf genommen würde vielmehr die Verschlechterung des Gesundheitsniveaus selbst, um das es bei den ärmsten Schichten der Bevölkerung und den wirtschaftlich schwachen europäischen Ländern ohnedies schon schlecht bestellt ist.

dt. Andrea Marenzeller

* Marc Danzon ist Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung und Vorsorge beim europäischen Büro der WHO in Kopenhagen; Priscille Poitrinal ist Assistenzärztin.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von M. Danzon und P. Poitrinal