12.04.1996

„Gadgets“: Italienische Beilagen

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„Gadgets“: Italienische Beilagen

Von

ALBERTO

FERRIGOLO *

ES ist schlimmer als der Schwarze Freitag, damals in der Wall Street! Die italienische Presse – Tageszeitungen, Wochenblätter und viele Zeitschriften – geht durch eine schwere Krise. Zum einen handelt es sich dabei um eine Wirtschaftskrise, bedingt durch die Verteuerung der Rohstoffe, vor allem des Papiers (plus 60 Prozent in einem Jahr), zum anderen aber auch um eine Absatzkrise: Der Verkauf ist unter das Niveau von 1988 gefallen, die Tageszeitungen erreichen mittlerweile nicht einmal mehr die Fünfmillionengrenze.

Viele geben dem Fernsehen die Schuld an diesem Rückgang, denn es macht der Presse durch die Schnelligkeit der Information und durch sein großes Publikum harte Konkurrenz. Wer hat heute, am Vorabend des dritten Jahrtausends, noch keinen Fernseher? Es ist das Fernsehen, das die Informationen am schnellsten bringt, fast in „Echtzeit“, die Presse hat immer einen Tag Verspätung. Zweifellos liegt hier einer der Gründe für die Verluste an Lesern.

Die Zeitungen kämpfen verzweifelt um ihr Überleben, aber sie benutzen dabei die Tricks des Gegners. Man imitiert das Fernsehen, man verkleidet sich als „Fernsehnachricht“: kurze Artikel, verworrene Informationen, alberne Geschichten, neues Layout und eine bunte Titelseite, um nur die gängigsten Methoden zu erwähnen. Aber vor allem greift man auf sogenannte Gadgets zurück, um den Verkauf anzukurbeln: Geschenke oder Produkte mit Preisvorteil sollen den Kauf einer Zeitung schmackhaft machen. Obwohl zahlreiche Blätter eingehen und viele Journalisten arbeitslos oder in Frührente sind, lassen sich die Verlagshäuser der großen Pressekonzerne (Rizzoli, Mondadori, De Benedetti-Caracciolo oder Monti) nicht davon abhalten, Milliarden Lire1 in diese Art der Werbung zu stecken.

Der letzte Schrei sind Filme auf Videokassetten: Einige Tageszeitungen, wie L'Unita, Corriere della sera und La Repubblica, aber auch Wochenblätter wie Panorama und L'Espresso machen ihren Lesern solche Angebote. Die Ausgabe ist dann etwa ein Drittel teurer als sonst. Es war L'Unita, die Zeitung der Demokratischen Linken (der ehemaligen kommunistischen Partei) die diesen Weg als erste einschlug: Bei einer durchschnittlichen Auflage von 80000 unter der Woche kam sie am Samstag – mit Kassette – auf mehr als 400000.

Kürzlich, am 8. März, dem internationalen Frauentag, bot Repubblica ein Video mit einem Gymnastikkurs mit Cindy Crawford. Eine todsichere Sache: Die Zeitung war sehr schnell ausverkauft, die Konkurrenz lag am Boden. Einen Tag lang. La Repubblica hatte sich beim Verkauf an die Spitze gesetzt, vor den Corriere, normalerweise die am meisten gelesene Tageszeitung. Das Ganze zielt natürlich darauf, die Gesamtauflage künstlich zu steigern, um sich ertragreichere Werbeverträge zu sichern.

1983 hatten die Tageszeitungen mit Bingo angefangen, einer Art Lotterie. Die Wochenblätter reagierten, indem sie Schlüsselanhänger, Spiele, Landkarten, Kalender und dergleichen verschenkten. Das alles steigerte sich dann rasch. Plötzlich gab es eine Vielzahl von Lotterien, Beilagen auf Hochglanzpapier, Musikkassetten, CDs, kleine Figuren von Fußballstars, zum Sammeln ... und schließlich die Videokassetten. Es war ein echter Krieg, fast wie der, den sich die türkischen Zeitungen liefern. Die Türkei gehört zu den Ländern, in denen sich Tageszeitungen am schlechtesten verkaufen – kaum drei Millionen Exemplare bei sechzig Millionen Einwohnern. Aber zur Zeit kaufen fast eine Million Türken jeden Tag eine Zeitung, nur um an ihr Los zu kommen: Kühlschränke, Videorecorder, Fernseher, Waschmaschinen und Computer sind zu gewinnen.

In Italien hat diese Wahnsinnsschlacht dazu geführt, daß der Pressemarkt aus den Fugen geraten ist. Den Schaden haben vor allem kleinere Tageszeitungen, lokale, regionale oder Genossenschaftsblätter, die nicht über die Mittel verfügen, beim „Krieg der Gadgets“ mitzumachen. Ganz anders dagegen der Rizzoli-Konzern, der unter anderem den Corriere della sera herausgibt: Die Zeitung hat normalerweise eine Auflage von 730000, mit Gadget erreicht sie über eine Million. Oder zum Beispiel Repubblica: Dort hat man gerade 15 Milliarden Lire in einen Atlas investiert und dazu noch 20 Milliarden für die begleitende Werbung ausgegeben! Angesichts dieser gewaltigen Summen scheinen die Resultate eher enttäuschend: Ohne die Gadgets sind die Verkaufszahlen der italienischen Tageszeitungen lächerlich gering.

Anfang September 1995 führte die katholische Tageszeitung Avvenire, das Organ der italienischen Bischofskonferenz, eine heftige Kampagne gegen solche Methoden. Im Zentrum der Argumentation stand das Niveau des Journalismus. „Die Jagd nach den Gadgets“, schrieb der Herausgeber von Avvenire, Dino Boffo, „hat dem Leser das Produkt Zeitung verleidet. Für uns, die wir vom Fach sind, ist klar: Was zählt, ist die Zeitung, das Gadget ist nur ein Anreiz. Aber empfindet das Publikum dies ebenso? Erwirbt, wer uns kauft, eigentlich die Zeitung und das Gadget dazu, oder aber das Gadget, und die Zeitung als Zugabe? Die Journalisten könnten sich fragen, was es für einen Sinn hat, sorgfältig und engagiert zu arbeiten, um die bestmögliche Zeitung herzustellen, wenn die Auflage nur wegen des Gadgets steigt? Wozu noch guter Journalismus, wozu soll man sich anstrengen? Und genauso läuft es dann auch.“

dt. Christophe Zerpka

1 Stand vom 29. März 1996: 1000 Lire = 0,94 DM.

* Journalist bei Il manifesto, Rom.

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von Alberto Ferrigolo