12.04.1996

Die französische Presse auf der Suche nach neuen Rezepten

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Die französische Presse auf der Suche nach neuen Rezepten

INFOMATIN ist abgestürzt, Libération verkauft, France-Soir liegt im Sterben. Trotz des Aufschwungs von Le Parisien und Le Monde bleibt die französische Presselandschaft im Vergleich zu anderen Ländern in einem beklagenswerten Zustand, auch wenn 1995 eine leichte Besserung zu verzeichnen war. Woran liegt es? Gewöhnlich werden ständig steigende Papierpreise, Lohnkosten, zurückgehende Einnahmen bei den Anzeigen sowie Vertriebsprobleme als Gründe angeführt. Aber die Zeitungen, in der Zwickmühle zwischen Radio und Fernsehen auf der einen und den Wochenmagazinen auf der anderen Seite, befinden sich auch in einer konzeptionellen Krise. Was für Zeitungen wollen die Leser? Diese Frage stellt sich überall in Europa, das zeigt auch das englische und das italienische Beispiel.

Von DANIEL JUNQUA *

Für die französische Tagespresse hat das Jahr 1996 schlecht angefangen. Am 8. Januar, kurz vor seinem zweiten Geburtstag, hat InfoMatin sein Erscheinen eingestellt. André Rousselet, ehemaliger Direktor von Canal Plus und Eigentümer der Pariser Taxigesellschaft G7, erklärt, warum er das Handtuch geworfen hat, nachdem er an die 150 Millionen Franc (etwa 50 Millionen Mark) investiert hatte: „Die finanziellen Belastungen“, so schreibt er, „bleiben auf lange Zeit sehr drückend, ohne daß man kurzfristig Resultate erkennen könnte, die auch nur einigermaßen ermutigend wären.“ Am 31. Januar stimmte die Belegschaft von Libération als bisheriger Mehrheitsaktionär einer Kapitalerhöhung des Blattes zu, wodurch die Zeitung mit einem Anteil von 66 Prozent unter die Kontrolle der Chargeurs-Gruppe von Jérôme Seydoux geriet. Serge July, der Direktor, sagt dazu: „Nachdem Libération mehrere Jahre lang Gewinne gemacht hatte, sind 1994 und 1995 Verluste entstanden: Sie belaufen sich auf mehr als 180 Millionen Franc. Damit Libération (...) weiterbestehen kann, muß sie über Eigenkapital verfügen und sich auf starke Aktionäre stützen. Danach haben wir gesucht.“

Vor einem halben Jahrhundert, im Aufschwung der Nachkriegszeit, gab es in Paris achtundzwanzig Zeitungen mit einer Auflage von fast sechs Millionen. Fünfzig Jahre später verkaufen die sieben politischen Tageszeitungen (Le Figaro, Le Monde, Libération, France-Soir, La Croix, L'Humanité, InfoMatin) gerade 1,3 Millionen Exemplare.1 Auf der langen Liste der eingegangenen Blätter stehen Combat, Le Matin und Le Quotidien de Paris2 als Vorläufer von InfoMatin. Am spektakulärsten war der Absturz von France-Soir, dessen goldene Jahre mit dem Namen Pierre Lazareff verbunden sind: 1964 hatte das Blatt eine Auflage von einer Million, seit 1994 erreicht es nicht einmal 200000.

Die gleich nach dem Krieg gegründeten Zeitungen hatten kein Eigenkapital, sie waren im wesentlichen aus politischen Motiven entstanden, vernachlässigten daher kommerzielle und unternehmerische Belange und waren zu „pariserisch“, um die von der Regionalpresse eroberte Leserschaft zurückgewinnen zu können. Gesellschaftliche Entwicklungen wurden kaum behandelt, der Sport vernachlässigt, der Wirtschaft nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet – und man unterschätzte das Ausmaß der Vereinnahmung durch das Fernsehen. Der auf bestimmte Themen spezialisierten Tagespresse (Les Echos, L'Equipe, La Tribune Desfossés) und den dynamischen Illustrierten hatte man wenig entgegenzusetzen.

Vor allem aber bekam die Presse die explosionsartige Ausbreitung der audiovisuellen Medien in aller Deutlichkeit zu spüren.3 Der Franzose verbringt durchschnittlich jeden Tag fünf Stunden vor dem Fernseher, zwei Stunden am Radio und ... eine halbe Stunde mit der Lektüre einer Tageszeitung! Die Zahl der über Antenne zu empfangenden Fernsehprogramme stieg von drei auf sieben, Kabel und Satellit verzehnfachten das Angebot. Neben den herkömmlichen Fernsehnachrichten kann man seinen Informationshunger – oft sogar kostenlos – bei CNN, Euronews oder LCI, bei France-Info oder BFM befriedigen ...

In Frankreich ist es seit der Gründung von Libération im Jahre 1973 keiner neuen Zeitung gelungen, sich dauerhaft zu etablieren. Im übrigen Europa entstanden Zeitungen wie El Pais und El Mundo in Spanien, La Repubblica in Italien oder The Independent in England. Bezeichnend ist, daß es sich bei dem Blatt mit der höchsten Auflage um eine Regionalzeitung handelt: Ouest-France mit 800000 Exemplaren, gefolgt vom Parisien, der in der Pariser Region auf Lokalnachrichten setzt. Weltweit steht Frankreich bei der Zeitungslektüre mit 156 Exemplaren auf 1000 Einwohner an dreiundzwanzigster Stelle4, weit hinter Japan (575), England (321) und Deutschland (317), während Norwegen mit 610 den Spitzenplatz hält.

Dazu kommt, daß sich keines der überregionalen Blätter finanzieller Gesundheit erfreut. Le Monde hat 1994 einen Verlust von 71 Millionen Franc verzeichnet. Und 1995 verlor L'Humanité 20 Millionen, 15 waren es bei La Croix. Das Finanzloch soll bei France-Soir 1994 an die 100 Millionen betragen haben, und wenn das Defizit im Jahr darauf auch vermindert werden konnte, bleibt es doch immer noch beträchtlich. Le Figaro hat keine Zahlen veröffentlicht, bleibt aber, obwohl er nach etlichen schwierigen Jahren 1995 wieder schwarze Zahlen schrieb, angeschlagen, weil er zur Hersant-Gruppe gehört, die stark verschuldet und vom Auseinanderbrechen bedroht ist.

„Ein Mangel an Zuverlässigkeit“

DIE Wirtschaftskrise der neunziger Jahre hat einen noch nie dagewesenen Rückgang der Anzeigen mit sich gebracht. Nach einem stetigen Wachstum vollzog sich auf diesem Markt ein brutaler Umschwung, vor allem bei den Kleinanzeigen. „Zwischen 1990 und 1993“, erläutert Gérard Morax, Chef der Anzeigenabteilung von Le Monde, „ist der Umsatz bei den Kleinanzeigen bei Le Monde auf ein Sechstel geschrumpft.“ 1995 blieben die Einkünfte aus dem Anzeigengeschäft unter dem Niveau von 1986. Das gleiche beim Figaro: Die Kleinanzeigen, die 70 Prozent der Werbeeinnahmen ausmachten, gingen um 80 Prozent zurück.

Jedem ist klar: Mit dem leicht verdienten Geld ist es vorbei. Bei stagnierendem Wachstum, steigender Arbeitslosigkeit und immer höheren Lohnnebenkosten sieht die wirtschaftliche Zukunft eher düster aus. „1996 wird ein sehr schwieriges Jahr werden“, mein Laurent Dubois, Direktor der Vereinigung der Pariser Presse. Selbst eine Belebung des Anzeigengeschäftes würde nicht allzuviel bewirken, zumal dieser Bereich reglementiert ist: Das Gesetz vom 10. Januar 1991, auch Evin-Gesetz genannt, wird zur Zeit von den betroffenen Verbänden heftig attackiert, denn es hat der Alkohol- und Tabakwerbung strenge Grenzen gesetzt.

Im Anzeigenbereich ist die Tagespresse zu allem Überfluß auch noch teurer als ihre Konkurrenten. „Bei gleicher Verbreitung ist der Preis einer Anzeigenseite in Schwarzweiß in einer französischen Tageszeitung zweieinhalb mal so hoch wie in einer entsprechenden englischen Zeitung“, bedauert Philippe Dève von Planète Presse, einer Beratergesellschaft, die auch Studien durchführt. Für Kleinanzeigen gilt das gleiche. „Sie sind zu teuer“, meint Richard Benatouil von der Gruppe BBC-Conseil, die sich auf die Vermittlung von leitenden Angestellten spezialisiert hat. „Es ist besonders bedauerlich, weil das eigentlich die demokratischste Methode darstellt, wenn man Arbeitskräfte sucht.“

Zu teuer. So denkt, wer annonciert, aber die Leser meinen das auch. Denn die Zeitungen haben die Einbrüche im Anzeigengeschäft durch die Erhöhung des Verkaufspreises ausgeglichen. Zwischen Mai 1990 und Juli 1992 wurde der Preis von Le Monde in drei Stufen von 4,50 auf 7 Franc heraufgesetzt, also eine Erhöhung von 56 Prozent. So stieg der Anteil des Verkaufspreises am Gesamterlös von 48 Prozent im Jahr 1989 auf fast 75 Prozent im Jahr 1995. Le Figaro und L'Humanité haben ebenfalls den Verkaufspreis auf 7 Franc angehoben und liegen damit viel höher als die Regionalblätter (durchschnittlich 4,40 Franc). Vor allem fällt der Unterschied zu ausländischen Zeitungen ins Auge, besonders bei US-amerikanischen – das Wall Street Journal kostet nur 75 Cents, also 3,75 Franc –, aber auch bei englischen, spanischen und italienischen Blättern.

Die Anhebung des Verkaufspreises ist natürlich kein Allheilmittel und stößt schnell an ihre Grenzen: Ein zu hoher Preis verschreckt die Leser. Um die Ertragsminderung auszugleichen, geht man also auch den Weg der Kostenreduzierung bei Herstellung und Vertrieb. In diesen beiden Bereichen müssen sich die Presseverlage mit zwei mächtigen Verhandlungspartnern auseinandersetzen, die seit einem halben Jahrhundert eine Monopolstellung innehaben: mit der in der CGT organisierten Gewerkschaft der Drucker und der Pressevertriebsgesellschaft Nouvelles Messageries de la presse parisienne (NMPP).

Das Monopol der CGT-Druckergewerkschaft in den Pariser Zeitungsdruckereien wurde 1945 durch eine gesetzliche Sonderverordnung anerkannt, wodurch soziale Errungenschaften (Arbeitszeit, Gehälter) durchgesetzt werden konnten, die in den Betriebskosten der Zeitungen einen gewichtigen Posten ausmachen.5 Durch die Modernisierung im Gefolge der Datenverarbeitung entstand jedoch eine neue Situation. Sozialpläne, die von der öffentlichen Hand massiv finanziert wurden, erlaubten eine Reduzierung der Belegschaften durch Vorruhestandsregelungen, ohne brutale Massenentlassungen.

„Ein Rotationsdrucker“, klagt ein Verleger, „verdient 17500 Franc [5000 Mark] brutto im Monat bei sechs Stunden Arbeit pro Tag und zwei Monaten bezahltem Urlaub.“ – „Die Lohnhöhe? Wir sind auf dem Niveau unserer deutschen Kollegen“, gibt Daniel Légerot, Sekretär der CGT- Druckergewerkschaft, zurück. „In den angelsächsischen Ländern sind die Auflagen bedeutend höher, was natürlich die Kosten senkt. Aber uns kann man nicht verantwortlich machen. Zwischen 1984 und 1996 ist die Zahl der Pariser Zeitungsdrucker von 5000 auf 2000 gesunken.“

Und Légerot nennt als Beispiel InfoMatin. „Man kann nicht behaupten, daß wir dort eine besondere Kostenbelastung erzeugt haben. Von den achtzig Leuten, die im pré-presse-Bereich6 arbeiten, sind nur acht von der Druckergewerkschaft. Die Zeitung war gut gemacht, der Preis war annehmbar. Die sind nicht eingegangen wegen der Kosten. Die sind eingegangen, weil der Vertrieb nichts taugte.“ Und zu teuer war. Zur großen Überraschung seiner Macher hätte InfoMatin auch auf dem flachen Land seine Leser gehabt. Aber wie erreicht man diese? Da das Blatt in Ivry auf den Pressen von Le Monde hergestellt wurde, hatte es Schwierigkeiten mit seinem besonderen „Berliner“ Format. Es hat nicht von dem kostbaren Gewinn an Zeit und Geld profitieren können, den das Übertragungssystem per Faksimile bietet, mit dessen Hilfe die anderen Pariser Blätter in Nancy, Lyon, Marseille, Toulouse und Nantes gedruckt werden können. Daher erwies sich der Vertrieb als Faß ohne Boden, und die Verkaufszahlen stiegen nur langsam, um dann gerade die auf 130000 Exemplare festgesetzte Rentabilitätsschwelle zu erreichen.

So gibt man oft der NMPP die Schuld, der vorgeworfen wird, für unzureichende Dienstleistungen zu viel zu kassieren. Obwohl man gewisse begründete Kritikpunkte nicht abstreitet, heben die Leiter dieser von Hachette verwalteten Genossenschaft die in den letzten Jahren erreichten Verbesserungen hervor. Frédéric Van Heems, verantwortlich für den Vertrieb der Tagespresse, meint: „Zwischen 1986 und 1993 haben wir modernisiert, was uns erlaubt hat, unseren Kostenanteil um zwei Punkte zu senken, so daß er bei 18 Prozent lag (wozu noch 18 Prozent für die Verteiler und 10 Prozent für die Verkaufsstellen kommen, also insgesamt 46 Prozent). Dann haben wir einen Vierjahresplan mit dem Ziel verabschiedet, weitere vier Prozentpunkte günstiger zu sein, die für unsere Kunden eine Einsparung von 750 Millionen Franc bringen. Am 1. Januar 1995 haben wir dieses Ziel mit einem Kostenanteil von 9 Prozent mehr als erreicht. Alles in allem liegen unsere Gesamtkosten nun bei 37 Prozent des Verkaufspreises. Das ist eindeutig weniger als in Deutschland und England.“ Die Belegschaft der NMPP ging von 5300 im Jahr 1985 auf 2000 Ende 1995 zurück.

Die Verleger erkennen solche Bemühungen an. Jean Miot, ehemals stellvertretender Direktor beim Figaro, heute Präsident von Agence France-Presse (AFP), zieht daraus amüsiert den Schluß: „Da konnte man viel Fett abschneiden! Und es ist immer noch welches dran!“ Andere kritisieren grundsätzlicher. „Das System ist schon im Ansatz faul“, erklärt ein Verkaufsdirektor. „Im Bichet-Gesetz7 ist festgelegt, daß die Genossenschaft auf Basis eines Prozentanteils am Verkaufspreis bezahlt wird. Normalerweise müßten wir je nach Gewicht, Entfernung und Anzahl der Exemplare bezahlen und nicht nach einer auf den Endpreis bezogenen Prozentzahl. Die Folge ist, daß auf ein und dieselbe Dienstleistung bei einem Preis von 3,70 Franc für Aujourd'hui ein bestimmter Betrag und bei 7 Franc für die Libération und Le Monde doppelt soviel berechnet wird. Wenn der Figaro seinen Verkaufspreis um einen Franc erhöht, werden jetzt einfach 37 Centimes abgezogen.“

Niemand lehnt jedoch das Genossenschaftsprinzip an sich ab, sagt man bei den Vertriebsorganisationen. Dieses Prinzip hat auch in der Druckergewerkschaft einen streitbaren Verteidiger: „Wir sind gegen den Versuch, das Ausgleichsprinzip in Frage zu stellen“, bestätigt Daniel Légerot. „Wir finden es normal, das die Großen für die Kleinen bezahlen. Das erlaubt es auch Neulingen, ihr Glück zu versuchen und im ganzen Land vertrieben zu werden. Eine Art demokratische Spielregel.“

Für Jérôme Seydoux, den Direktor von Chargeurs, liegt das eigentliche Problem der Tagespresse im Geldmangel. „Ohne Geld kann ein Unternehmen nicht modernisieren. Wenn man reich ist, kann man auch Fehlentscheidungen ausbügeln. Ist man dagegen arm, kann man nicht verhandeln: weder mit den Druckern noch mit der NMPP. Man arrangiert sich. Denn eine andere Lösung gibt es nicht.“ Warum investiert er also in das angeschlagene Unternehmen Libération? Seydoux verweist auf die konkreten Umstände und auf eine Familientradition: „Wir verschenken kein Geld. Die Belegschaft von Libération hat sich uns anzupassen, nicht umgekehrt. Die Redaktion muß in diesem ach so bösen kapitalistischen System funktionieren. Sie muß jetzt ihre Kulturrevolution durchziehen. Ansonsten genießt sie eine vollkommene redaktionelle Unabhängigkeit. Mein Engagement hat mit Politik nichts zu tun.“

Die Journalisten haben im übrigen in einem Statut festgelegte Garantien bekommen, die Serge July gerne als beispielhaft bezeichnet. Aber das Blatt hätte es nie nötig gehabt, seine Unabhängigkeit schriftlich festzulegen, wenn es nicht mit seinem ehrgeizigen redaktionellen Konzept „Libé III“ baden gegangen wäre. Auch wenn Jérôme Seydoux dies gnädigerweise nicht erwähnt, spielt er durchaus darauf an, wenn er anmerkt, daß in Frankreich „die großen Zeitungen zu elitär sind“ und daß es „nicht ehrenrührig ist, sich für seine Leser zu interessieren, damit man ihren Erwartungen entsprechen kann“.

Ach, der Leser. Alle entdecken ihn jetzt wieder. „Die Krise im Anzeigengeschäft hatte zumindest diese positive Konsequenz“, meint Jean Miot. Die überregionale Tagespresse hat in den letzten Jahren einen kreativen Aufschwung erlebt: Sie sieht netter aus, hat sich ein neues Layout verpaßt, mit neuen Rubriken versucht sie, dem Leser eine klarere, anziehendere, modernere und umfassendere Zeitung zu bieten. Wenn solche Neuerungen auch bei Le Quotidien de Paris, InfoMatin und Libération nichts gebracht haben, so haben redaktionelle Konzepte, die vorsichtiger eingeführt wurden, um den Leser nicht zu verwirren, zum Beispiel bei La Croix und L'Humanité durchaus ihre Früchte getragen. Le Monde ist seine Schönheitsoperation mit einer Steigerung der verkauften Auflage von 9 Prozent im Jahr 1995 besonders gut gelungen.

Das eigentliche Problem ist jedoch der Inhalt. „Ich kann mich nie darauf verlassen“, in den französischen Zeitungen die wesentlichen Nachrichten, die Basisinformation zu finden“, klagt Gabriel Invernizzi, Pariser Korrespondent der Wochenzeitung L'Espresso. „Es gibt da einen Mangel an Zuverlässigkeit.“ Die Presse nimmt ihre Kontrollfunktion nicht wahr. Es gebe, so unterstreicht er, eine Arroganz der Macht auf allen Ebenen und in allen Bereichen, und die Journalisten hätten es nie wirklich geschafft, diese anzugreifen. „Wer hier was zu sagen hat“, erklärt er, „empfängt die Journalisten, wenn er dazu Lust hat. Man gewährt ihnen damit eine Gunst. Die Journalisten fühlen sich verachtet. Wer kein Buch geschrieben hat, existiert nicht! Übrigens erfährt man oft mehr in den Büchern als in der Presse.“

Und wenn man diese „Komplizenschaft“ statt mit den Mächtigen mit den Lesern herstellen würde? Philippe Dève von Planète Presse sagt es ganz klar: „Es ist durchaus möglich, eine ehrliche, objektive, hochwertige Zeitung zu machen und dabei das Ohr am Leser zu haben.“ Als Beispiel nennt er Le Parisien.

Diese Zeitung, herausgegeben von der Amaury-Gruppe, zu der auch L'Equipe gehört, kann ihre Verbreitung seit zehn Jahren kontinuierlich steigern. Mit ihren elf Ausgaben hält sie daran fest, über das zu informieren, was nebenan passiert. Woche für Woche geht man auf die Reaktion der Leserschaft ein, die zum großen Teil aus Arbeitern, Angestellten, Handwerkern und Kleinunternehmern besteht. Daher rührt auch ihre besondere Stellung während der Dezemberstreiks 1995: Sie hat die kleinen Leute selbst zu Wort kommen lassen, nicht nur die Großen und Wichtigen. Gleichzeitig hat sich Le Parisien bemüht, seinem Publikum durch praktische Informationen zu helfen. Die Redaktion genießt vollkommene Freiheit. Man erinnert sich, daß sie nicht zögerte, aus Protest gegen eine Unterhaltungsshow auf dem Fernsehsender TF 1, „Osons“ (“Trauen wir uns“), die den Gipfel an Geschmacklosigkeit darstellte, anstelle des Programmhinweises eine weiße Fläche abzudrucken.

Dieses redaktionelle Konzept wird von einer langfristig angelegten Verkaufsstrategie begleitet. Le Parisien baut sein Zustellersystem aus: 80000 Haushalte werden so an das Blatt gebunden. Acht Jahre lang hat man den Preis von 4,50 Franc gehalten, um ihn erst zum 1. März 1995 um 20 Centimes zu erhöhen. „Dadurch haben wir 1995 einen Verlust von 5 Millionen Franc gemacht“, stellt Jacques Guiu, stellvertretender Generaldirektor der Editions Amaury, fest. „Aber es handelt sich hier um eine Investition. Hätten wir den Verkaufspreis noch um 10 Centimes erhöht, dann hätten wir schon einen Gewinn gemacht. Aber wir wollten zuerst Leser gewinnen.“ Geld dafür hat die Gruppe: Außer den Profiten, die L'Equipe zu verdanken sind, genießt man die Früchte einer umsichtigen Geschäftsführung. Nie wäre es in Frage gekommen, wie Le Figaro und Le Monde die Rotationspressen durch hochmoderne Maschinen zu erneuern.8

Bindungen zwischen Zeitung und Lesern

LE PARISIEN“, bemerkt Hubert Chicou, einer der Direktoren von La Croix, „hat den Vorstädten wieder ein positives Image gegeben. Er betrachtet das aktuelle Geschehen mit den Augen der Leser und gibt Menschen wieder ein Selbstwertgefühl, die sich ins Abseits gestellt sahen. Die Zeitung hilft ihnen auf.“ Wenn es um das Verhältnis zum Leser geht, ist Hubert Chicou nicht zu bremsen. Eine Zeitung, so sagt er, muß Träger einer Interessengemeinschaft sein. Aus dem Erfolg der Zeitungen, die sich wie L'Equipe, Les Echos oder La Tribune Desfossés thematisch spezialisiert haben, schließt er: „Immer wenn eine Zeitung sich um ihr spezifisches Anliegen, ihre Stärken kümmert und Banalitäten vermeidet, hat sie Erfolg. So haben wir es auch bei La Croix gemacht und damit 1995 zwei Prozent beim Verkauf gewonnen. Wir haben in unsere Berichterstattung aus Rom investiert und können nun international über den religiösen Bereich am besten informieren. Außerdem haben wir durch die neue Aufmachung der Zeitung unseren Lesern geholfen, ihr eigenes Image zu entstauben und ein neues Selbstwertgefühl zu finden. Der Leser sucht ja in seiner Zeitung keinen Spiegel: Er möchte, daß man ihn weiterbringt, und zwar auf der Basis dessen, was er in sich selbst trägt.“

Allerdings muß die Zeitung auch rechtzeitig da sein: „Überall da, wo die Zeitungen um sechs Uhr morgens ausgetragen werden“, bemerkt Chicou, „gewinnt die Presse an Boden. Da sind uns die angelsächsischen Länder um fünfzehn Jahre voraus. Die Regionalpresse hat das schon verstanden. Das ist die einzige Antwort auf die Konkurrenz von Radio und Fernsehen. Man muß morgens als erster dasein, um dem Leser ein Raster für den Blick auf das Zeitgeschehen zu anzubieten.“

Wunder wird es nicht geben. Die überregionale Tagespresse hat schon zu viele Chancen verpaßt, als daß sie ihren früher so bedeutenden Platz wieder einnehmen könnte. Es ist zweifellos zu spät, um von der spezialisierte Presse, den Illustrierten und den audiovisuellen Medien Terrain zurückzugewinnen. Aber was die Politik angeht, spielen die Tageszeitungen eine anerkannt wichtige Rolle. Wendet man sich in Zeiten schwerer Krisen nicht spontan an sie? Überall da, wo sie vor Ort präsent war, konnte Le Monde bei den großen sozialen Konflikten im Dezember 1995 einen kräftigen Zuwachs verzeichnen. Es zeigt sich, daß Verlegerpolitik und Verkaufsstrategie nicht voneinander zu trennen sind.

Für die Tageszeitungen schlägt also die Stunde der Herausforderung. Wer sich wie La Croix (Bayard), Le Parisien (Amaury), Les Echos (Pearson), La Tribune (LVMH) auf Finanzgruppen stützt, kann mit Gelassenheit in die Zukunft blicken. Dagegen könnte ein Auseinanderbrechen der Hersant-Gruppe auch für Le Figaro Konsequenzen haben und sogar France-Soir mit in die Pleite reißen.

Le Monde braucht eine Umstrukturieren zur Kostensenkung, nachdem man es bereits geschafft hat, dem Blatt eine neue Aufmachung zu geben und gleichzeitig das Kapital zu erhöhen, so daß – jedenfalls kurzfristig – die Unabhängigkeit nicht gefährdet ist. Das Unternehmen, das seine Betriebsbereiche demnächst in der rue Claude-Bernard zusammenlegt, hofft, bis 1997 ein ausgeglichenes Budget vorweisen zu können.

Libération, erstarkt durch den Einstieg von Chargeurs, muß ihr Trauma überwinden und, nach der Formel von Hubert Chicou, eine neue Lesergemeinde aufbauen. L'Humanité kann nur auf die Hilfe ihrer kommunistischen Sympathisanten hoffen sowie auf den Verein, der sich im Namen des Pluralismus zu ihren Gunsten einsetzt.9

Pluralismus: In einem System, dessen Politik und Medien von Vorstellungen beherrscht werden, die das Marktgesetz zum Dogma erheben, kann die Presse nur dann wieder ein neues Publikum finden, wenn sie Meinungsvielfalt, politische Auseinandersetzung und echte Unabhängigkeit pflegt und damit dem Leser, sprich dem Bürger, einen wirklichen Anreiz zum Kauf einer Zeitung gibt.

dt. Christophe Zerpka

1 Die Zahlen beziehen sich auf 1994. Dazu kommt noch Présent, die Tageszeitung der extremen Rechten, die nicht von Diffusion-Contrôle erfaßt wird und eine Auflage von circa 10000 hat.

2 Die Zeitung wurde von Nicolas Miguet übernommen und erscheint wieder seit dem 14. Februar 1995. Die Auflage wird nicht von Diffusion-Contrôle erfaßt und soll bei circa 10000 liegen.

3 Vgl. Elisabeth Kulakowska, „Une presse écrite de moins en moins diversifieé“, Le Monde diplomatique, September 1994.

4 Nach den Erhebungen der Fédération internationale des éditeurs de journeaux (FIEJ). Dazu muß man jedoch anmerken, daß es in Frankreich eine Boulevard- oder besser eine Gossenpresse nicht gibt, übrigens ebensowenig in Italien oder Spanien, während diese in England und in Deutschland weit verbreitet ist: Von Sun oder Bild werden an die vier Millionen täglich verkauft.

5 Dieses Statut entsprach den Bedürfnissen der Arbeitgeber, die auf diese Weise die Organisation der wechselnden Anforderungen überließ, die mit der Herstellung einer Zeitung verbunden sind.

6 Der Ausdruck „pré-presse“ steht für alle Produktionsphasen, die vor dem eigentlichen Druck liegen, auch für den redaktionellen Bereich.

7 Gesetz vom 2. April 1947 über den Pressevertrieb in Frankreich.

8 Le Figaro hat sich in Roissy eine Druckerei für eine Milliarde Franc hingestellt. Le Monde hat 1989 in Ivry für 450 Millionen Franc eine Rotationsdruckerei gebaut, die auch einen Teil des Parisien drucken sollte, der sich schließlich aus dem Projekt zurückgezogen hat. Da der warme Regen der Werbeanzeigen versiegt ist, sind die Maschinen nicht ausgelastet, und die Kosten steigen und steigen.

9 Gesellschaft der Freunde der Humanité, 32, rue Jean-Jaurès, 93528 Saint-Denis Cedex, Tel.

49-22-73-60.

Journalist, Verfasser von „La Presse écrite, Paris (CFPJ-Editions) 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.04.1996, von Daniel Junqua