10.05.1996

Rückkehr ohne Willkommensgruß Von unserem Sonderkorrespondenten MAURICE LEMOINE *

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Rückkehr ohne Willkommensgruß Von unserem Sonderkorrespondenten MAURICE LEMOINE *

Wird die Wahl des Christdemokraten Alvaro Arzú zum neuen Präsidenten von Guatemala im Januar dieses Jahres eine Beendigung des Bürgerkrieges ermöglichen, der dieses zentralamerikanische Land seit über vierzig Jahren erschüttert? Verschiedene Ereignisse der letzten Zeit geben Anlaß zu Hoffnung. Einerseits wurden Dutzende Offiziere kaltgestellt, die an der Repression gegen die indigene Bevölkerung beteiligt waren; andererseits führten die Verhandlungen mit der URNG, der bedeutendsten Guerillaorganisation, m 20. März zu einem Waffenstillstand. Schließlich hat die Regierung Vorschläge unterbreitet, um den in den achtziger Jahren durch die Armee von ihrem Land vertriebenen Bauern, den sogenannten „Binnenflüchtlingen“, zu ihrem Recht zuganisationen verkennen, daß es zahlreiche Kräfte gibt, die dem Friedensprozeß feindlich gegenüberstehen, in erster Linie die Landoligarchie, die an einer Fortdauer der chaotischen Zustände größtes Interesse hat.

UNBARMHERZIG brennt die Sonne vom Himmel, und auch der leichte Wind vom Pazifik bringt kaum Abkühlung. Schnurgerade zieht sich die von Schlaglöchern perforierte Straße durch die unendliche Weite des Reiches der Agrarexportindustrie. Zipacate, ein apathisches Dorf an der Südküste Guatemalas. Einige hundert Meter jenseits der undeutlich verlaufenden Ränder der Siedlung liegt in einem winzigen Feld ein elendes Lager von „Binnenflüchtlingen“. Palmen und vereinzelte Mangobäume spenden den rund hundert Männern und Frauen Schatten, die sich hier in ihre indianische Kleidung und in Schweigen gehüllt versammelt haben. Ein Anführer, wie die anderen indigener Herkunft, hält eine Ansprache: „Compañeros, wir sind die Überlebenden der achtziger Jahre. Viele unserer Freunde und Angehörigen haben wir verloren. Deshalb müssen wir alle, die wir hier versammelt sind, eng zusammenhalten. Denn ein vereintes Volk wird nie besiegt werden!“

Sie sind zur Zeit der Massenmorde aus der Hochebene geflüchtet und hinunter zu den Fincas gewandert, wo sie ihre Arbeitskraft unter sklavenähnlichen Bedingungen als Tagelöhner verkauften und dafür einen genauso mörderischen Lohn erhielten. Von Finca zu Finca ziehend, machten sie sich nach Beendigung der zafra1 an die Kaffee-Ernte, um danach erneut aufzubrechen und sich je nach Jahreszeit mal hier, mal dort niederzulassen. Untergebracht in galeras (Baracken), konnten sie sich mehr schlecht als recht ernähren. „Doch kaum beschwerten wir uns, wurden wir beschuldigt, Guerilleros zu sein, und liefen Gefahr, umgebracht zu werden.“

Eine Odyssee im eigenen Land

DER internationale Druck und die relative Demokratisierung des Landes eröffnen schrittweise politische Freiräume. „Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß wir nicht endlos im eigenen Land umherirren können.“ Ihr Bemühen, ein kleines Stück Land zu bekommen, blieben trotz wiederholter Versuche erfolglos. Am 9. Januar 1996, fünf Tage vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Alvaro Arzú, besetzen 330 Familien die Finca Montanesa und gründen dort die Gemeinde Maya-97 de Enero. „Wir hatten mit Unterstützung der Condeg2 Erkundigungen darüber eingezogen, ob diese Finca einen Besitzer hat. Denn wir respektieren das Privateigentum. Wenn es einen Eigentümer gibt, besetzen wir auch nicht.“ Die Erkundigungen ergaben, daß es sich offenbar um ein staatliches Grundstück handelte. „Wir hatten keine andere Wahl. Wir besetzten La Montanosa, um Druck auszuüben. Damit man sich um uns kümmert.“ Drei Wochen harrten sie aus. Eine alte Frau erzählt: „Nacht für Nacht standen die Männer ringsum Wache, um den Feind im Auge zu behalten (sie lacht in sich hinein). Ja, ja, es ist wirklich ein Feind ...“

Der „Feind“ erscheint am 7. Februar: zehn Lastwagen der Spezialpolizei für Aufstandsbekämpfung. Die Besetzer leisten keinen Widerstand. „Um nicht unsere Söhne, unsere Männer, unser Leben zu verlieren. Wir haben bereits Massaker miterlebt und wissen, was das Leben wert ist.“ Mit Unterstützung der Friedensmission der Vereinten Nationen für Guatemala, Minugua3, und der Hilfeleistung des Menschenrechtsbeauftragten verladen sie ihre armselige Habe und lassen sich zehn Kilometer weiter auf dem Grundstück nieder, das ihnen der Bürgermeister von Zipacate, ein Mitglied der CUC4, spontan zur Verfügung gestellt hat.

Nun heißt es abwarten – und unter den armseligen Plastikplanen überleben. Ein einziger Gedanke beseelt die Leute: durchhalten (denn schon sind aus Angst oder Entmutigung die ersten abgesprungen), um die neue Regierung zu Verhandlungen zu bewegen. „Als sie uns rauswarfen, hofften sie, daß jeder wieder auf die Finca zurückkehren würde, von der er gekommen ist“, sagt Sotero López, eines der Mitglieder des Organisationskomitees. „Doch da haben sie sich getäuscht, Compañeros, gemeinsam haben wir begonnen, und gemeinsam bringen wir es zu Ende.“ Mit Blick in die Zukunft fügt er hinzu: „Wir haben weder Geld noch genug zu essen, doch wir wissen uns zu helfen, wir verstehen zu arbeiten. Wir verlangen keine Geschenke! Die Regierung soll uns eine Chance geben. Sie soll uns den Zugang zu Krediten erleichtern, um eine Finca kaufen und Produktionspläne entwickeln zu können, damit wir das Geld in einem angemessenen Zeitraum zurückzahlen können ...“

Aufgrund der widersinnigen Landverteilung sah sich die vorige Regierung mit zahlreichen Finca- Besetzungen konfrontiert. Die immer extremeren Lebensbedingungen, Arbeitskonflikte in den landwirtschaftlichen Betrieben selbst, aber auch der Druck, der von den laufenden Verhandlungen zwischen Guerilla und Regierung über die Landfrage ausging, führten zu Hunderten von Landbesetzungen. Zuvor hatte im Februar 1995 die Nationale Indio- und Bauernkoordination (Conic, Coordinación Nacional Indigena Campesina) eine landesweite Kampagne lanciert, die von der Condeg und den „Flüchtlingen“ in etwas gemäßigterer Form ebenfalls aufgegriffen wurde.

An der Südküste, in Quiché, Alta Verapaz, Baja Verapaz und im Petén, wo 52 Familiengemeinschaften sogar Ländereien der Armee besetzt halten, haben die Bauern, die man durch jahrelange Repression glaubte kleingekriegt zu haben, ihre Angst überwunden. „Das ist nicht einfach“, betont Pedro Esquina, Generalsekretär der Conic. „Doch es geht nicht darum, einzelne Gemeinschaften zu organisieren. Diese könnten leicht wieder zerstört werden. Breitet sich die Bewegung dagegen aus, ist das schwerer. Wenn eine Gemeinschaft angegriffen wird, mobilisieren sich alle anderen. Den Leuten wurde bewußt, daß sie sich zusammenschließen müssen.“ Was um so nötiger ist, als diese Bauern, die „Binnenflüchtlinge“, nicht von der Unterstützung profitieren, die den aus Mexiko zurückkehrenden Flüchtlingen, den retornados, seitens der Regierung und vor allem seitens der internationalen Staatengemeinschaft zuteil wird – worüber sie sich bitter beklagen. In Zipacate haben die Frauen in der Nähe der einzigen Wasserstelle einen Waschplatz eingerichtet, vor dem sie endlos Schlange stehen. Ein schmutziges Rinnsal verunreinigt mittlerweile das Lager. Eine Indio-Frau träumt von einem „Stückchen Land“; mit leiser, sorgenvoller Stimme sagt sie: „Von was werden wir morgen leben, wenn uns niemand zu Hilfe kommt? Wir haben kein Geld mehr und auch keinen Mais. Wir haben gar nichts mehr.“

Die Zahl derjenigen, die Anfang der achtziger Jahre nach Mexiko geflüchtet sind, wird auf rund 45000 geschätzt. Seit 1992 sind etwa 20000 zurückgekehrt.5 Sie finden ein ausgeblutetes, zerstörtes Land mit aufgelösten Strukturen vor. Ein unbeschreibliches Chaos, das wissentlich herbeigeführt wurde. Nachdem sie weggegangen waren, haben andere ihr Land übernommen: skrupellose finqueros, oft aber auch Leute, die mitnichten zur Oligarchie gehören, sondern Bauern sind wie sie, die von der Armee hier angesiedelt worden sind. Das führt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen wie in Ixcán im Norden des Bezirks Quiché.

Die Schwierigkeiten der Repatriierung

IXCÁN ist ein isolierter Landstrich. Zehn Stunden benötigt man für die 160 Kilometer lange Strecke, die von Cobán aus zum Militärlager Playa Grande und weiter zu der von „Läusen, Prostituierten und Soldaten“ bewohnten Pionierstadt Cantabal führt. Im Umkreis liegen 148 Dörfer, von denen lediglich 35 mit Fahrzeugen erreichbar sind. Die Region ist in zwei Bereiche aufgeteilt: zum einen das Gebiet der ehemaligen Kooperative von Ixcán Grande6, die gerade wieder aufgebaut wird – wobei den ehemaligen Mitgliedern, die sich noch in Mexiko befinden, im Zuge eines Konflikts der 30. April als Stichtag für eine Rückkehr gesetzt wurde, andernfalls sie ihre ehemaligen Parzellen verlieren würden; zum anderen die Zona Reina, wo mit Ausnahme einiger weniger Familien niemand einen Platz gefunden hat, sich dort niederzulassen. Zum großen Ärger der retornados.

So hatten beispielsweise die ehemaligen Bewohner von Santa Maria Dolores bereits einen Teil ihres Bodens abbezahlt, der aber noch nicht vollständig in ihren Besitz übergegangen war. Nach ihrer Flucht machte die Regierung die Bestimmung über „verlassenes Land“ geltend, siedelte andere Bauern an und setzte die unseligen Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen (PAC, Patrullas de Autodefensa Civil) ein, die der Region ihre paramilitärische Ordnung aufzwangen. Und all die letzten Jahre haben die PAC auf die Rückkehrer, die „Subversiven“, gewartet – mit den Gewehren im Anschlag. Als sie dann tatsächlich aus dem Exil zurückkehrten, konnte – wie in vielen anderen Orten auch – nur um Haaresbreite eine blutige Tragödie vermieden werden. „Wochenlang mußten wir äußerst schwierige Verhandlungen führen“, beteuert Carlos Boggio, der für Guatemala zuständige Vertreter des UN-Flüchtlingshochkommissariats. „Schließlich willigten die Flüchtlinge ein, als Entschädigung anderswo gleichwertiges Land zu übernehmen, das im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts finanziert wurde.“ In den seltensten Fällen erhielten die Bauern ihr ursprüngliches Stück Land zurück. Eine Ausnahme bilden die retornados der Kooperative Ixcán Grande und die erste Flüchtlingsgruppe, die im Januar 1993 zurückgekehrt war und sich in La Victoria-17 de Enero nahe Cantabal auf öffentlichem Grund niedergelassen hat. Für alle anderen, die als Gemeinschaften zurückkehren, muß zuerst die Regierung Land ankaufen.7

Sie zahlt dafür die effektiven Marktpreise, die unaufhaltsam steigen. Die durchschnittlichen Kosten für eine Repatriiertenfamilie sind von 2000 auf 5000 Dollar gestiegen und erreichen Spitzenwerte von 21000 Dollar. Solche Beträge sind beängstigend. In drei Jahren hat der Staat 16 Millionen Dollar für die Rückkehr von 2300 Familien ausgegeben. „Die Rückkehrer werden diese Beträge niemals zurückzahlen können“, bemerkt dazu Carlos Boggio. „Auch nicht über Kredite mit zehn oder zwanzig Jahren Laufzeit. In dieser Situation wird niemand zahlen.“

Das entlockt einem gereizten europäischen Diplomaten die Bemerkung: „Es ist allerdings schon ein starkes Stück, wenn man der Oligarchie Guatemalas und den Leuten, die sich unter zweifelhaften Umständen verlassene Gebiete angeeignet haben, Geld für dieses Land bezahlen muß.“ Denn natürlich sind es die Großgrundbesitzer, die terratenientes, die vom wundersamen Geldsegen profitieren. Obgleich ein bestehendes Gesetz es dem Staat erlauben würde, das Problem wesentlich billiger zu lösen. Es sieht die Enteignung unproduktiver Ländereien (tierras ociosas) vor, die 70 Prozent des Besitzes der Großgrundbesitzer ausmachen. Doch auf die Idee, dieses Gesetz auch anzuwenden, ist noch niemand gekommen ...

Die Rückkehrer werden in die unmöglichsten Gegenden geschickt. Im Norden von Barillos (Huehuetenango) müssen 1800 Menschen neun bis zehn Kilometer weit durch knietiefen Schlamm marschieren, um in den Urwald zu gelangen, der ihnen zugesprochen wurde. Im Petén trifft im April 1995 eine andere Gemeinschaft auf La Quetzal ein, einer wirtschaftlich vielversprechenden Finca. Ein Jahr später ist noch nicht einmal der erste von achtzehn Kilometern Straße gebaut, die nötig wäre, um die Finca zu erreichen. Dabei verlangt die Regierung von den Flüchtlingsgruppen, die Land erhalten wollen, daß sie einen detaillierten Plan darüber vorlegen, wie sie das Land zu nutzen gedenken. Erst nach der Bewilligung dieses Projekts bekommen sie Land zugesprochen. Danach geschieht nichts mehr, um ihnen den Anbau irgendwie zu erleichtern. Die Regierungsinstitutionen begnügen sich mit dem Hinweis, die Bauern sollten doch „bei den NGOs anfragen“. Die Folge ist, daß „auf Fincas, die zwei Millionen Dollar wert sind, Mais und Bohnen angebaut werden“, wie ein Beobachter bekümmert anmerkt.

1995 wurde das Jahr, in dem die meisten Flüchtlinge zurückkehrten. Für die Regierung sind die retornados nämlich ein Indiz für die Wiederherstellung des Friedens. Die Flüchtlinge selbst wollen die Präsenz der Zivilgesellschaft in den ehemals von Militär besetzten Gebieten gewährleisten. Als jedoch am 5. Oktober eine Militärpatrouille in die Rückkehrergemeinde Xamán (Alta Verapaz), eindrang, elf Zivilisten tötete und weitere dreißig verletzte, war die gesamte Bevölkerung traumatisiert. Santa Maria Tzeja ist ein über Hügel und Täler verstreut liegendes Dorf mit Hütten aus Brettern und Lehm. Die „unrechtmäßigen“ Besetzer wurden von der Regierung entschädigt und sind fortgezogen. Nur einige wenige sind geblieben und akzeptieren das Zusammenleben mit den ehemaligen Flüchtlingen, die in den Ort zurückgekehrt sind. „Verschiedentlich wurden Gerüchte über angebliche Diebstähle und Vergewaltigungen ausgestreut, um eine Rückkehr der kürzlich entwaffneten Zivilpatrouillen zu erreichen. Doch das waren Lügen, und der Plan ist gescheitert.“ Unabhängig davon wird es noch einige Zeit brauchen, bis die Angst überwunden ist. Die Frauen leiden noch nach vierzehn Jahren körperlich unter der entsetzlichen Gewalt: Viele haben Kopfschmerzen, Magenkrämpfe oder Schlafstörungen.

Militärs unter dem wachsamen Auge der UNO

IM Dezember 1995 taucht in dieser Gemeinde ein Armeekommando auf und setzt sich gewaltsam dort fest. Roberto Mignone, der lokale Verantwortliche der UNHCR (des UN-Flüchtlingshochkommissariats), der damals alarmiert wurde, erzählt, wie die Sache ausging: „Wir fuhren mit der Minugua in den Ort und stellten fest, daß sich die Militärs eingerichtet hatten, um dort die Nacht zu verbringen. Wir beschlossen, im Ort zu bleiben, und schliefen im Auto, um die Bevölkerung zu beruhigen. Am nächsten Tag suchten wir den Kommandanten der Basis von Playa Grande auf. Dieser beteuerte, er habe seinen Leuten den Befehl gegeben, als Zeichen des guten Willens die Gemeinden der retornados zu meiden. Er notierte sich das Verhalten seines Offiziers und sagte, er werde streng vorgehen. Das ist ein positiver Präzedenzfall.“

„Die internationale Präsenz ist sehr wichtig“, bestätigt Gáspar Quino, ein Menschenrechtsaktivist in Santa Maria Tzeja. „Früher waren wir eingesperrt wie in einem Gefängnis. Da konnte passieren, was wollte.“ Die Militärs dagegen, die über die Minugua von der UNO überwacht werden, sehen darin eine Form von Einmischung, die sie als Angriff auf die nationale Souveränität empfinden – und als eine Unterstützung der Guerilla.

„In Mexiko wurden die Flüchtlinge von Kadern der Guerilla begleitet und indoktriniert“, erklärt der befehlshabende Oberst der Basis Playa Grande. „Nach ihrer Rückkehr besteht diese Verbindung ungebrochen fort. Aus diesem Grund vermeiden wir es, durch die Gemeinden der Rückkehrer zu ziehen, solange die Friedensverhandlungen andauern, um Zwischenfällen aus dem Weg zu gehen.“ Mit einem rätselhaften Lächeln fügt er hinzu: „Viele militärisch gewonnene Kriege wurden auf politischer Ebene verloren.“ Womit er zu verstehen gibt, die bewaffnete Opposition benütze die retornados, wie sie früher die Widerstandsdörfer (CPR)8 benützt habe, um „befreite Territorien“ zu schaffen. Das Argument, die organisierte Zivilgesellschaft sei mit Umsturz gleichzusetzen, ist nicht neu und diente in den achtziger Jahren als Rechtfertigung für alle Massaker.

Es bestehen allerdings tatsächlich Verbindungen und ein stillschweigendes Einverständnis zwischen Teilen der Volksbewegungen und der Guerilla. Davon zeugt ein wachsender Konflikt, der, zusätzlich zu all den übrigen Spannungen, die Rückkehrergemeinden spaltet. Darin stehen auf der einen Seite die Bewohner der Zone von Ixcán Grande und Teile der in Mexiko ausgebildeten Basisorganisationen, die im Erziehungs- und Gesundheitswesen tätig sind; sie vertreten eine radikale Haltung, die sich an eine Richtung innerhalb der Guerillaarmee der Armen (EGP)9 anlehnt. Auf der anderen Seite stehen Zona Reina, Cantabal und die permanenten Kommissionen, die während des Exils und in den Verhandlungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie vertreten die Haltung der Stiftung Rigoberta Menchú10 sowie der Gruppierungen, die eine neutrale Haltung gegenüber dem neuen Präsidenten Alvaro Arzú favorisieren oder sogar eine Zusammenarbeit mit ihm befürworten. Die Spaltung verläuft manchmal quer durch die Gemeinden selbst, wie in La Victoria-17 de Enero, wo im Februar 1996 die Übergabe einer Schule durch das Flüchtlingshochkommissariat zu einem schweren Zwischenfall führte. Jede der beiden Fraktionen wollte die Schlüssel erhalten oder andernfalls die Schule in zwei Einheiten aufteilen. Angesichts der ausweglosen Situation wurden die Schlüssel dem Erziehungsministerium übergeben. „Wir hoffen, daß es nicht nötig sein wird, die Minugua einzuschalten“, meint ganz im Ernst ein internationaler Beamter in Anspielung auf diese neue Polarisierung ...

Am 14. Januar 1996 hält Präsident Alvaro Arzú im Hauptsalon des Miguel-Ángel-Asturias-Kulturzentrums (benannt nach dem guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger – Vater eines der bedeutendsten Guerillaführer), seine Antrittsrede. Die Wahlen sind soeben ohne größeren Zwischenfall über die Bühne gegangen. Der Christdemokrat Arzú, ein konservativer Geschäftsmann, ehemaliger Bürgermeister von Guatemala-Stadt und Vorsitzender der Nationalen Fortschrittspartei PAN (Plan por el Adelantamiento Nacional), der offen von der katholischen Kirche unterstützt wird, gewinnt die zweite Runde der Wahlen mit 51,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. Alfonso Portillo, ein Strohmann des Vorsitzenden der Guatemaltekischen Republikanischen Front FRG (Frente Republicano Guatemalteco) und ehemaligen Diktators General Efrain Rios Montt, der von den evangelistischen Pastoren unterstützt wird, kommt auf 48,8 Prozent. Der Abstand zwischen den beiden entspricht einer geringfügigen Differenz von 30000 Stimmen.

Den Ausschlag für einen Sieg der PAN gaben in dem zunächst unentschieden verlaufenen Wahlkampf die Städte, wobei die endgültige Entscheidung in der Hauptstadt fiel. Die FRG gewann auf dem Land und in 19 Departamenten. Ein Gewerkschafter schätzt das Abschneiden der FRG so ein: „Nach dem, was wir erfahren haben, wird das Land von einer Verbrechenswelle erschüttert. Die Leute glauben, ein entschlossener Mann wie Rios Montt könnte die Kriminalität bekämpfen.“ Daneben spielen in den ländlichen Gebieten mehrere Faktoren eine Rolle: ein Wahlsystem, das breite Bevölkerungskreise von der Stimmabgabe ausschließt; die Machtstellung des gesamten paramilitärischen Apparates (der selbst maßgeblich in die Verbrechen verwickelt ist); der Einfluß der lokalen Kaziken; und die höchste je bei Präsidentenwahlen verzeichnete Stimmenthaltung (63 Prozent), die das relative Gewicht der FRG erhöht. Für viele bedeutete die Wahl zwischen dem Neofaschisten (Rios Montt) und dem Neoliberalen (Alvaro Arzú) eine Entscheidung „zwischen demjenigen, der einen mittels einer Kugel tötet, und demjenigen, der einen verhungern lassen wird“.

Neu an diesen Wahlen war, daß die Guerillavereinigung URNG die Bevölkerung zur Wahl aufgefordert hatte. Und vor allem, daß sich erstmals seit über vierzig Jahren eine linke Gruppierung zur Wahl stellte. Auf Initiative von etwa zwanzig Volksorganisationen und Teilen des Mittelstandes wurde sechzig Tage vor dem Urnengang eine neue Partei, die Demokratische Front für ein neues Guatemala (Frente democrático para la nueva Guatemala, FDNG) gegründet. Ein mutiger Wahlkampf, überschattet von mehreren Morden, erlaubte der FDNG trotz Mangel an Erfahrung, Mitteln und Medienpräsenz, mit 7,7 Prozent der abgegebenen Stimmen zur dritten politischen Kraft des Landes zu werden. Die FDNG eroberte 19 Bürgermeistersitze, darunter in den drei großen Städten Quezaltenango (der zweitgrößten Stadt des Landes), Santa Cruz del Quiché und Sololá. Sie erhielt acht Abgeordnetensitze, sechs davon im Kongreß und zwei im Zentralamerikanischen Parlament. Es kommt in diesem machistischen Land einem wahren Erdbeben gleich, daß in Zukunft auch drei Frauen im Kongreß der Republik sitzen werden: Nineth Montenegro, eine Verteidigerin der Persönlichkeitsrechte und Gründerin einer Gruppe zur gegenseitige Hilfe (GAM, Grupo de Apoyo Mutuo) für die Familien der „Verschwundenen“, sowie die beiden Indio-Frauen Manuela Alvarado und Rosalina Tuyuc, eine Führerin der Nationalen Witwenorganisation Guatemalas (Conavigua, Coordinadora Nacional de Viudas de Guatemala).

Dem Chef der Parlamentariergruppe der FDNG, Antonio Mobil, ist dieser Erfolg dennoch nicht zu Kopf gestiegen. Er ist sich der Schwierigkeiten wohl bewußt, die seine Partei erwarten: „Der grundlegende Erfolg besteht darin, daß wir im Kongreß vertreten sind und dadurch Zugang zu den Medien haben, was uns eine Verbreitung unserer Botschaft im ganzen Land erlaubt.“

Die Absicht von Präsident Arzú, die Friedensverhandlungen zu einem Ende zu führen11, erfüllt viele mit Hoffnung. Ebenso die Tatsache, daß sich in der Regierungsmannschaft neben eingefleischten Konservativen und technokratischen Ministern auch Persönlichkeiten finden, die sich in der Vergangenheit im Bereich der Linken engagiert haben. Unter ihnen sind Außenminister Eduardo Stein, ein ehemaliger Jesuit und Fachmann für Fragen sozialer Kommunikation, sowie Gustavo Porras, der in den sechziger und siebziger Jahren unter den Auspizien der Befreiungstheologie ausgebildet wurde und vom Exil aus Mitte der achtziger Jahre eine Konzeption für den politischen Kampf der Linken verbreitete, die derjenigen „modernistischer“ Unternehmer nahekommt.

Innerhalb weniger Wochen hat sich das Bild gewandelt. Generäle, die als „verfassungstreu“ gelten, üben die wichtigsten Funktionen im Militär aus – einer Institution, in der sich die Auseinandersetzung mit den Falken weiter zu verhärten scheint. 53 Offiziere wurden aus dem aktiven Dienst entlassen, und der Vizepräsident der Republik bestätigt, daß „die jüngsten Veränderungen in der Armee einer Säuberung und direkten Kampfansage an die Straflosigkeit gleichkommen.“12

Die Oligarchie zahlt keine Steuern

WEITERHIN muß jedoch mit der rückschrittlichen Oligarchie des Landes gerechnet werden. Im Oktober 1995 beschloß sie, den Vorsitzenden der Regierungskommission für Frieden, Héctor Rosada, dem sie Verhandlungen mit der „illegalen terroristischen Vereinigung“ URNG vorwirft, gerichtlich zu verfolgen. Wie kann die extreme Armut bekämpft werden, ohne dabei die wirtschaftlichen Strukturen anzugreifen – und das, wo im Regierungskabinett alles in allem doch die Unternehmerschicht dominiert? Außenminister Stein hat bereits erklärt, die Regierung stehe nicht zu dem Vorschlag, den ihre Vorgängerin der URNG in sozioökonomischen und agrarpolitischen Fragen unterbreitet hat. Und er fügte präzisierend hinzu: „Wir wollen nichts versprechen, was wir nicht halten können.“ Ein Stolperstein, der die Verhandlungen leicht zum Scheitern bringen könnte.

Der Mindestlohn beträgt 40 Quetzales13 täglich. 80 Prozent der Familien beziehen ein Einkommen, das nicht zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse reicht. Die Mittelklasse und die einfache Bevölkerung tragen 80 Prozent der Steuerlast, während die Oligarchie davon ausgenommen ist. Wie auf dem Land finden auch in den Städten zahllose wilde Besiedlungen statt; Elendsviertel sprießen wie Pilze aus dem Boden – manche davon erhalten treffende Namen, wie jenes häßliche Stadtgeschwür, das ... Ramiro de León Carpio heißt.14

Korruption und Unerfahrenheit haben ein solches Ausmaß angenommen, daß die Weltbank – die es leid geworden ist, der Regierung beträchtliche Summen zu überweisen, die dann zweckentfremdet werden – zuletzt direkt mit der Bevölkerung von Mezquital, einem 20000 Einwohner zählenden Elendsviertel von Guatemala-Stadt, einen Kredit aushandelte.

Um den Preis unzähliger tagtäglicher Entbehrungen zahlen nun diese einfachen Menschen in pünktlichen Monatsraten die Gelder zurück, mit denen ihnen endlich der Anschluß an Kanalisation sowie Wasser- und Stromversorgung ermöglicht worden ist. In dieser Situation fällt es sogar noch einem Diplomaten schwer, seine Ungeduld zu verbergen: „Sie verfügen über eine funktionierende Makroökonomie und haben das große Glück, daß sich die internationale Gemeinschaft um ihre Armen kümmert! Man muß mehr Druck machen. So kann es nicht ewig weitergehen.“

dt. Birgit Althaler

1 Zuckerrohrernte.

2 Consejo Nacional de Desplazados Guatemaltecos (Nationalrat der Vertriebenen Guatemalas).

3 Die Minugua hat den Auftrag, die Umsetzung des „Globalabkommens über Menschenrechte“ zu kontrollieren, das die guatemaltekische Regierung und die Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas, URNG, am 29. März 1994 in Mexiko-Stadt unterzeichnet haben.

4 Comité de Unidad Campesina, Komitee für die Einheit der Bauern.

5 32000 Flüchtlinge befinden sich noch in Mexiko, wobei sich die höhere Gesamtzahl aus den vielen Geburten erklärt.

6 Vgl. Maurice Lemoine, „Irréductibles Indiens du Guatemala“, Le Monde diplomatique, Februar 1993.

7 Aufgrund des Abkommens vom 8. Oktober 1992 ist die Regierung verpflichtet, die Flüchtlinge wiederanzusiedeln.

8 Die Widerstandsdörfer (Comunidades de Poblaciones en Resistencia, CPR) sind Gemeinden von „Binnenflüchtlingen“, die in die Berge von Ixcán und Sierra geflüchtet sind und dort während zwölf Jahren autark lebten. Vgl. „Irréductibles Indiens du Guatemala“, a.a.O.

9 Das Ejército Guerillero de los Pobres (EGP) ist eine der in der URNG zusammengeschlossenen Guerillagruppen.

10 Rigoberta Menchú ist eine guatemaltekische Indigena, die 1992 den Friedensnobelpreis erhielt und angeblich eine Kandidatur bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 anstrebt, was die versöhnliche Haltung erklären würde.

11 Während der zwei Monate vor den Wahlen fanden fünf direkte Zusammenkünfte von Präsidentschaftskandidat Arzú und seinem Team mit dem Oberkommando der URNG statt. An den Treffen beteiligten sich auch der gegenwärtige Innenminister Rodolfo Mendoza und der Sekretär von Präsident Arzú, Gustavo Porras, der kürzlich zum Koordinator für die Friedenskommission ernannt wurde.

12 Siglo Veintiuno, 14. Februar 1996.

13 100 Quezales entsprechen ca. 24 DM.

14 Der vorherige Präsident Guatemalas.

Gemeinsam mit Christophe Kuhn Autor von „Amers Indiens en Amérique latine“, Paris (Syros) 1993.

Le Monde diplomatique vom 10.05.1996, von Maurice Lemoine